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Weder zu nah noch zu fern
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09.03.2017
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<p class="article-intro">Wie nahe darf man einem Patienten kommen? Muss man immer distanziert bleiben? Wie man den schmalen Grat zwischen Nähe und Abstand zum Patienten findet und wie sich das auf den therapeutischen Prozess auswirkt, diskutierten Therapeuten, Gesundheitsfachpersonen und psychiatrieerfahrene Menschen auf der ersten Fachtagung «Distanzlos distanziert» kürzlich in Bern.</p>
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<p class="article-content"><p>Ziemlich distanziert – das kam einem als Erstes in den Sinn, als man durch die Kälte von der Bushaltestelle zum Wirtschaftsgebäude der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) in Bern stapfte. Wie sich zu viel Distanz oder umgekehrt zu viel Nähe auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken und wie man die schwierige Balance zwischen professioneller Distanz und einfühlsamer Nähe bei psychiatrischen Patienten hält, war Thema der ersten interdisziplinären Tagung «Distanzlos distanziert». «Wir sind eine Distanzgesellschaft geworden», sagte Prof. Gregor Hasler, einer der beiden Organisatoren und Chefarzt bei den UPD. «In unserer Welt mit immer mehr geografischer Mobilität, immer raffinierteren Kommunikationstechnologien und dem unstillbaren Verlangen nach Transparenz scheint es zunehmend schwieriger, persönliche und kulturelle Distanz richtig einzuschätzen.» Die professionelle Reflexion der zwischenmenschlichen Distanz in der Interaktion sowie der damit verbundenen Affekte komme im Alltag leider häufig zu kurz, sagte Prof. Sabine Hahn, Koorganisatorin und Leiterin der Disziplin Pflege an der Berner Fachhochschule. «Körperliche und psychische Nähe, wie man Grenzen setzt und was für Gefühle Grenzüberschreitungen auslösen, ist ein enorm wichtiges Thema nicht nur in der Psychiatrie, sondern in allen Fachgebieten. Sie können einen wesentlichen Einfluss auf die Genesung und das Wohlergehen aller an der Interaktion beteiligten Personen haben.» In einer Zeit, in der Gesprächsfetzen, Emotionen, aber auch private Informationen jederzeit in die Welt hinausgetwittert werden, könne es zudem sehr schwierig sein, sich abzugrenzen.<br /> Die Zukunft in der Psychiatrie sei eine integrierte Versorgung, sagte Hahn, und es werde darum gehen, wie man besser und effizienter zusammenarbeiten könne. «Wir müssen die Betroffenen am Therapieprozess mehr beteiligen. Und dazu müssen wir wissen, wie wir die Balance zwischen Nähe und Distanz finden.»</p> <h2>Die Fachleute müssen die Grenzen einhalten</h2> <p>Dr. med. Werner Tschan, Psychiater in Basel, weiss, was schiefgehen kann, wenn man die Distanz als Therapeut nicht wahrt. Tschan ist Psychotraumatologe und hat schon Hunderte von Fällen betreut, bei denen die Betroffenen in die Verstrickungen von Missbrauch und Distanzlosigkeit hineingekommen waren. «Wir als Fachleute sind für die Einhaltung der Grenzen verantwortlich, nicht der Patient», sagte er. «Selbst wenn der Patient eine sexuelle Handlung wünscht.» Man sei immer in dem Dilemma: Was ist zu wenig, was ist zu viel? Dürfen wir einem Patienten die Hand halten, wenn er weint? Dürfen wir dem Patienten ein Geschenk machen, etwas Nettes sagen? «Ja, das dürfen wir, aber es hängt immer vom Kontext ab», so Tschan. In der Psychotherapie gehört es nicht zum Standard, die Hand eines Patienten zu halten. «Hat jemand einen Angehörigen verloren oder eine schlimme Diagnose erfahren, kann das aber okay sein», erklärte Tschan. «Wichtig ist, dass man sauber dokumentiert, dass es sich um professionelle Nähe handelte.» Eine klare Grenzüberschreitung sind jedoch alle Handlungen, die ins Sexuelle gehen: also eine Patientin zum Beispiel eindeutig anschauen, ihr mit verbalen Äusserungen näherkommen oder sie an den Brüsten streicheln. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) hat 2009 ein Positionspapier zu dem Thema herausgegeben<sup>1</sup>, und auch der Weltärztebund und andere Organisationen haben sich dazu geäussert. «Es gibt aber kein Merkblatt, das uns eindeutig sagt, was noch okay ist», sagte Tschan. «Im Zweifel klärt man das am besten in der Supervision.» Nicht erlaubt ist, eine Behandlung abzubrechen, um danach mit dem Patienten eine sexuelle Beziehung aufzunehmen, selbst wenn der Patient das möchte. «Das bedeutet rechtlich eine Ausnutzung des Abhängigkeitsverhältnisses», so Tschan. «Die Abhängigkeit dauert weit über das Behandlungsende hinaus.»<br /><br /> Die Fachdisziplinen hätten das Problem lange verschwiegen, erzählte Tschan. Die Übergriffe wurden heruntergespielt und als Einzelfälle bezeichnet, den Opfern wurde nicht geglaubt oder ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten den Therapeuten verführt. «Das Schweigen hat vor allem den Tätern geholfen.» Wie häufig sexuelle Übergriffe durch Fachleute sind, ist nicht bekannt. Eine kanadische Umfrage ergab 1998, dass 1 % der Befragten in den letzten fünf Jahren sexuelle Übergriffe durch Fachleute im Gesundheitswesen erlebt hat. Überträgt man die Zahlen auf die Schweiz, wären das mehr als 15 000 Betroffene. «Meist ist es ganz einfach: Gelegenheit macht Diebe. Man ist psychisch und körperlich so nah am Patienten, dass der Schritt zur sexuellen Handlung leicht ist.» Bekomme man mit, dass eine Kollegin oder ein Kollege sich sexuell einem Patienten nähere, sei man in einem Dilemma. «Wir dürfen das wegen unserer ärztlichen Schweigepflicht nicht melden.» Das Beste in so einem Fall sei, mit seinem Supervisor zu reden, ebenso, wenn man selbst sich von seinem Patienten angezogen fühle und ihm näherkommen möchte.<br /><br /> Unterstützung bei der schwierigen Balance zwischen Nähe und Distanz können Peer-Mitarbeiter leisten: Menschen, die selbst eine psychische Diagnose und eine Therapie durchgemacht haben, werden durch eine 18-monatige Fortbildung zum Experten aus Erfahrung. Sie wissen, wie man sich als Patient fühlt, wenn einem jemand zu nahe kommt, aber auch, wenn man sich mehr Nähe wünscht. «Man bleibt immer noch Ärztin oder Pflegerin, das heisst, die formale Ebene bleibt, aber man nähert sich dem Patienten auf andere Weise, etwa indem man seine Sprache spricht», sagte Stephanie Ventling, die als Recovery-Expertin aus Erfahrung in der Psychiatrischen Privatklinik Sanatorium Kilchberg arbeitet. Die Recovery-Bewegung kommt aus den USA und setzt sich jetzt auch hierzulande durch. «Die eigene Erfahrung mit Krisen und psychischen Erschütterungen schafft sofort eine Verständnisebene zwischen Peers und Betroffenen », sagte Ventling.<br /><br /> Jeder Mensch habe ein Grundbedürfnis von Nähe: körperliche und emotionale, mentale, philosophische, spirituelle Nähe und Nähe durch gemeinsames Handeln. «Bis auf körperliche Nähe im sexuellen Kontext sind alle diese Arten von Nähe auch mit Patienten möglich», erklärte Ventling. Also beispielsweise zusammen kochen, ein Puzzle legen oder Tischfussball. «Das macht etwas mit den Betroffenen und hilft beim therapeutischen Prozess. » Auf der anderen Seite hat jeder Mensch das Grundbedürfnis von Distanz: Man braucht die Distanz, um den eigenen Körper, die eigenen Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, sich eine eigene Meinung zu bilden und eigenständig zu handeln. Jeder Säugling benötigt das auf sein Wesen abgestimmte Mass an Nähe und Distanz, erklärte Ventling. «Erfährt jemand als Baby zu wenig Nähe, kann er sich später emotional verlassen fühlen und versucht später im Leben, sich die fehlenden Emotionen auf andere Weise zu holen. » Abhängigkeiten jeglicher Art können so entstehen, etwa Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Esssucht, Spielsucht oder Kaufsucht. Kümmern sich die Eltern aber aus ihrem eigenen Bedürfnis heraus überfürsorglich um das Kind, kommt es zu einer «emotionalen Überflutung», was sich später als ständige Unruhe oder Gereiztheit äussern kann, denn das Kind hatte keine Chance, Eigenraum zu entwickeln.<br /><br /> Erlebt ein Patient in der Klinik eine Panikattacke, könne es Sinn haben, sich zu fragen, was vorgefallen sei. «Völlig falsch ist in dieser Situation, dem Patienten zu sagen, er solle in seinem Zimmer Atemübungen machen oder ein Medikament aus der Reserve nehmen», sagte Ventling. Viel besser sei, den Patienten zu fragen, was vor einer halben Stunde passiert sei und ob er darüber reden wolle. «Oft ist es dann so, dass jemand dem Betroffenen zu nahe gekommen ist.» Das kann auch in einem Gespräch bei Klinikeintritt passieren, etwa wenn einem Patienten zu seiner Befindlichkeit sehr persönliche Fragen gestellt werden.<br /><br /> «Wir müssen uns emotional auf den Patienten einschwingen. Und hier können wir Peers eine gute Brücke zwischen Patient und Therapeut sein.» Sie hören aktiv zu, stellen interessierte, aber keine drängenden Fragen und erzählen dem Patienten von ihrer Erfahrung und Genesungsgeschichte. «Als Patient denkt man immer, man ist der Einzige, der so etwas erlebt hat. Hört man aber, dass es auch anderen so geht, fühlt man sich nicht mehr so allein.»<br /><br /> Der therapeutische Prozess brauche Nähe und sorgfältig dosierte Distanzlosigkeit, so das Fazit von Psychiater Hasler, zum Beispiel in Form von authentischen Deutungen, damit er überhaupt in Gang komme. Anders herum sei gut dosierte Abstinenz notwendig. «Damit wir nicht einfach Bedürfnisse befriedigen, sondern einen therapeutischen Prozess in Gang bringen.» In zwei Jahren soll die nächste Fachtagung dieser Art stattfinden.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 1. Interdisziplinäre Fachtagung für psychiatrische, psychotherapeutische
und psychosomatische Therapie und
Pflege, 26. Januar 2017, Universitäre Psychiatrische
Dienste Bern
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Missbrauch in psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen. Positionspapier der SGPP. Download unter http://www.psychiatrie.ch/sgpp/ueber-uns/stellungnahmenund- positionspapiere/therapie-und-diagnostik/</p>
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