© Gajus - stock.adobe.com

Die subjektive Seite der Schizophrenie

„Veränderungen brauchen Mut auf beiden Seiten“

Die Tagung „Die subjektive Seite der Schizophrenie“ (SuSe) wurde vor 25 Jahren konzipiert und wandert seither zwischen den Austragungsorten Hamburg, Berlin, Leipzig und Wien. Sie hat den Anspruch, den Herausforderungen, die in einem professionellen Gesundheitssystem entstehen, Raum zu geben, die Bedürfnisse der Betroffenen ins Zentrum zu rücken und Platz für Diskurs und Ermutigung zu schaffen.

Um das subjektive Erleben von Menschen mit Schizophrenie und ihrer Behandelnden ins Zentrum zu rücken, werden auf der Tagung „Die subjektive Seite der Schizophrenie“ (SuSe) jedes Jahr Themen aufgegriffen, die für die verschiedenen involvierten Personengruppen relevant und aktuell sind. Es werden Probleme und Fragestellungen identifiziert, die nach Lösungen verlangen, und Entwicklungen der Zukunft aufgezeigt.

Dabei steht die Mehrperspektivität klar im Vordergrund: Nicht nur die Gesundheitsprofis kommen zu Wort, sondern auch andere Disziplinen, Selbsthilfeorganisationen, Betroffene und Angehörige. Dr. Laura Fragner und Dr. Matthäus Fellinger waren mit Prof. Michaela Amering das Leitungsteam der SuSe 2023, bei der auch kreativen Formaten Raum gegeben wurde. Mit JATROS haben sie über die Tagung gesprochen.

Die SuSe gibt es seit 25 Jahren – das ist eine lange Zeit. Was macht sie so erfolgreich?

M. Fellinger: Die Tagung ist eine aufrichtige Anstrengung, die besten Wege zu finden, mit der Erkrankung „Schizophrenie“ und der Herausforderung dieser Erkrankung umzugehen. Diese Aufrichtigkeit spricht die Leute an. Wir versuchen, uns selbst und die Systeme, in denen wir arbeiten, zu hinterfragen. Ich habe die SuSe immer als Schmelztiegel von Ideen, Diskursen und Ermutigungen erlebt. Ich glaube, das gibt der Tagung Stabilität und Kontinuität.

L. Fragner: Herzstück der Tagung sind natürlich auch jene, die sie initiiert haben und sie seit Jahrzehnten mit sehr viel Einsatz und Herzblut mitorganisieren. Persönlichkeiten wie Prof. Dr. Michael Krausz und Prof. Dr. Michaela Amering stehen hinter der SuSe und tragen sie auf ihren Schultern. Ohne sie gäbe es diese Veranstaltung wahrscheinlich nicht – oder nicht mehr.

© Denise Denkmayr
Welches Publikum zieht die SuSe an?

M. Fellinger: Das ist sehr unterschiedlich. Von den Berufsgruppen her ist das Publikum üblicherweise breit gefächert: Mediziner:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Genesungsbegleiter:innen, Erfahrungsexpert:innen und Angehörige. Die Organisationsteams setzen jedes Jahr andere Schwerpunkte und sprechen dadurch unterschiedliche Zielgruppen an. So hat jede SuSe ihr eigenes Publikum. Zur letzten Tagung in Wien sind sehr viele junge Teilnehmende und Betroffene gekommen. Es war ein frischer Wind spürbar – das hat uns gefreut.

Frischen Wind gab es auch bei der Programmgestaltung. Sie haben dieses Jahr stark auf kreative Elemente gesetzt?

L. Fragner: Stimmt, es gab zum Beispiel den „Psychiatry Slam“ und die „Open Call Speed Talks“.

Der „Psychiatry Slam“ hat das dritte Jahr in Folge stattgefunden. Er ist ursprünglich bei einer Online-SuSe während eines Covid-19-Lockdowns vom Team in Leipzig entwickelt worden. Wir haben das Format übernommen, weil es eine großartige Gelegenheit ist, noch mehr Perspektiven einzubringen und das starre Konstrukt aus Vortrag und Fragesession aufzubrechen.

Die „Open Call Speed Talks“ waren zum ersten Mal im Programm. Zum Thema „Human, bedürfnisorientiert, emanzipiert – was braucht es für das nächste Vierteljahrhundert?“ konnten freie fünfminütige Beitrage aus dem Auditorium angemeldet und als Impulse zur Diskussion gestellt werden. Ich hoffe, dass sich dieses Format halten kann. Die SuSe braucht nach wie vor noch mehr Diskussionszeit und Raum, um verschiedenste Themen, die im Laufe der Tagung aufkommen, zu sammeln und zusammenzufassen. Abgesehen davon braucht es natürlich auch viel Mut, um vor einem großen Publikum das Podium zu betreten und persönliche Erfahrungen einzubringen. Umso dankbarer waren wir für all diejenigen, die sich getraut haben.

Für alle, die es nicht kennen: Wie muss man sich einen „Psychiatry Slam“ vorstellen?

L. Fragner: Der „Psychiatry Slam“ ist als eine Veranstaltung gedacht, bei der alle, die Lust dazu haben – auch Menschen, die nicht an der Tagung teilgenommen haben –, ein Video von maximal fünf Minuten Länge einschicken konnten. In kurzen Lesungen, Vorträgen, Liedern oder in Bildern wurden so auf sehr unterschiedliche Weise diverse Sichtweisen auf das Tagungsthema aufgezeigt. Die Filme wurden von einer trialogischen Jury gesichtet, gereiht, geschnitten und in einem öffentlichen Kino vorgeführt.

© Denise Denkmayr
Warum gerade in einem Kino?

L. Fragner: Eine Vorführung im Kino hebt die Filme nochmal auf eine andere Ebene. Die Aufregung war fast wie bei einer Filmpremiere. Den „Psychiatry Slam“ durch die Austragung in einem öffentlichen Kino gleichzeitig auch im öffentlichen Raum zu positionieren, macht in Hinblick auf das Konzept der Tagung absolut Sinn. Noch besser wäre es, wenn man die Vorführung für die Allgemeinheit öffnen könnte. Ich hoffe, wir können diesen Aspekt beim nächsten Mal umsetzen.

Aber zumindest im Nachgang werden die Filme öffentlich zugänglich sein?

L. Fragner: Genau. Fast alle Filme werden auf unserem YouTube-Kanal zu sehen sein. Die Vorjahresbeiträge können jetzt schon abgerufen werden unter: www.youtube.com/@diesubjektiveseitederschiz9156

Beim Vortrag des Aktivisten Alexander McLean waren sehr viel Empathie und Enthusiasmus zu spüren. Wie kann man das in den Klinikalltag übersetzen?

M. Fellinger: Ich habe das Privileg, Alexander sehr gut zu kennen. Sein Vortrag hat mir auf der diesjährigen SuSe auch wieder zu einer Erkenntnis verholfen: Trotz komplexer Sachverhalte geht es bei der Übersetzung von Empathie und Enthusiasmus in den Klinikalltag am Ende meist um scheinbar banale Dinge.Oft sind die wichtigsten Begegnungen die schlichten, bei denen sich Menschen Zeit nehmen und zuhören. Es darf nicht nur die Medikation im Zentrum stehen. Es braucht den Mut, sich in eine Situation hineinzubegeben, sich berühren zu lassen und gemeinsam zu ringen. Das kann auch Kraft geben, weil man in solchen Momenten Verbundenheit erlebt.

Alexanders Vortrag hat aufgezeigt, dass es eine fachlich korrekte Vorgehensweise gibt, aber auch eine andere Ebene, ohne die alles Medizinische einfach nicht so viel bringt.

Was macht die SuSe für Sie so besonders?

L. Fragner: Die SuSe ist eine Fachtagung, die sich in Organisation und Struktur von anderen Fachtagungen unterscheidet. Sie legt wert auf Diskurs und auf den Blick über den Tellerrand. Das hat mich von Anfang an begeistert.

Von Erfahrungsexpert:innen, die selbst psychische Krisen durchlebt haben, bis hin zu Angehörigen von Betroffenen sind alle mit dabei. Dieser Aspekt sollte auch noch mehr gefördert werden: dass Betroffene aktiv mitgestalten und ihre Sichtweise auf ein Podium bringen können.

M. Fellinger: Persönlich berührt hat mich die Bedeutung des Zusammenbringens der unterschiedlichen Gruppen. Die Veranstaltung hat gezeigt: Es braucht diesen Diskurs, den neuen Input von vielen Seiten, die kritische Selbstreflexion, die subsequente Veränderung und vor allem die vielen positiven Beispiele dazu, was Einzelpersonen oder Gruppen gelungen ist. Ich möchte auch die hervorragende Zusammenarbeit mit dem Team hervorheben, das primär ehrenamtlich für die SuSe tätig ist.

Gibt es schon ein Fazit zur Suse 2023, erste wichtige Erkenntnisse?

M. Fellinger: Es gab schon ein Debriefing. Eine Erkenntnis war, wie bedeutsam die Subjektivität und die individuellen Geschichten waren. Viele Beiträge waren humorvoll, persönlich, pointiert und kreativ. Sie haben bewegt und berührt. Das ist dieses Jahr wieder gut gelungen.

Ein weiteres großes Fazit war der Erfolg der Beiträge von außerhalb des deutschsprachigen Raumes, beispielsweise von den „Students With Psychosis“ aus den USA oder von Alexander McLean aus Großbritannien.

© Denise Denkmayr
Und was haben Sie für sich persönlich aus der Tagung mitgenommen?

M. Fellinger: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich sehr stark in die Arbeiten im Hintergrund eingebunden war. Ich glaube, was ich am meisten mitnehme, ist, dass der Mut sich auszahlt, sich zu exponieren, Risiken einzugehen und das Projekt SuSe selbst in die Hand zu nehmen. Wenn man die Tagung erlebt, weiß man, wofür man all die intensive Arbeit, die vielen Nacht- und Freizeitstunden investiert hat.

Wenn es ein Ziel und eine Perspektive gibt, ist gemeinsam sehr viel möglich. Das hat mich sehr gefreut und für die Zukunft ermutigt.

L. Fragner: Ich wurde neuerlich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir Psychiater:innen den offenen trialogischen Austausch mit Menschen, die selbst eine Krise durchlebt haben, und natürlich auch mit deren Angehörigen suchen müssen. Angehörige fühlen sich oft vernachlässigt und – so ist zumindest mein persönlicher Eindruck – werden zum Teil im Klinikalltag auch tatsächlich vernachlässigt. Da ist ein Austausch eine extreme Bereicherung und prägt das eigene klinische Handeln.

Menschen, die psychische Erkrankungen erlebt haben und durch unser psychiatrisches System gegangen sind, dabei womöglich traumatische Erfahrungen gemacht haben, haben diesem System gegenüber teilweise Vorbehalte. Um das irgendwie aufzubrechen, einen Austausch und daraus folgend Veränderungen zu ermöglichen, braucht es eine gewisse Offenheit, Kritikfähigkeit und die Bereitschaft, auf Augenhöhe zu diskutieren. Es braucht Mut auf beiden Seiten, auch von uns Psychiater:innen, uns zu hinterfragen, uns hinterfragen zu lassen und neue Wege zu gehen!

Was geben Sie dem Organisationsteam der nächsten SuSe mit?

M. Fellinger: Wir haben zum ersten Mal Social-Media-Kanäle zur Bewerbung der SuSe genutzt und eine Website erstellt, die auch weitergeführt werden soll. Wenn man auf diese Weise nach außen geht, erreicht man auch die jüngere Generation.

Wir haben außerdem gelernt, dass es klappt, die Tagungsorganisation mit einem ehrenamtlichen Team umzusetzen, und wie bereichernd und spannend es sein kann, das Organisationsteam trialogisch zu führen.

Als inhaltlichen Punkt würde ich hervorheben: Die SuSe ist eine deutschsprachige Tagung. Und trotzdem hat es sich bezahlt gemacht, außerhalb des eigenen Zirkels zu suchen und englischsprachige Referent:innen einzuladen.

L. Fragner: Das Organisationsteam der nächsten Tagung ist ein sehr erfahrenes, da ist es schwierig, Tipps zu geben. Was ich mir aber für die nächste Tagung wünschen würde, ist, dass wieder Möglichkeiten geschaffen werden, um viele verschiedene Menschen zu sehen und zu hören – und das nicht nur im individuellen Gespräch, sondern auch auf dem Podium. Auch der Austausch bei einem Rahmenprogramm außerhalb der Tagung ist sehr wichtig. Ich finde es schön, wenn zusätzlich Gespräche in einem lockereren Rahmen stattfinden, wie zum Beispiel im Kino oder beim Heurigen, und sich nicht nur auf die Vortragspausen beschränken.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Back to top