
Opioidüberdosiskrise: Bei uns doch nicht! Oder?
<p class="article-intro">In Europa ist in vielen Ländern die Zahl der Drogentoten seit 2000 deutlich gesunken. Deshalb scheint die Opioidkrise, wie sie derzeit in den USA und Kanada stattfindet, weit weg. Experten diskutierten anlässlich des 19. Interdisziplinären Kongresses für Suchtmedizin in München, was diese Entwicklung für Schmerztherapie und Substitutionstherapie in Europa bedeutet.</p>
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<p class="article-content"><p>Der Pro-Kopf-Konsum von Opioiden ist in den USA und Kanada seit dem Jahr 2000 kontinuierlich immer weiter angestiegen und liegt aktuell bei mehr als dem Dreifachen von dem in Deutschland, berichtete Prof. Dr. Michael Krausz, Department für Psychiatrie an der Universität von British Columbia, Vancouver. Parallel dazu nahm die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Opioiden in Nordamerika ebenfalls deutlich zu. In British Columbia, dem kanadischen Bundesstaat, in dem auch Krausz tätig ist, stieg die Zahl der Todesfälle durch eine Überdosis illegaler Drogen von 2010 bis 2016 von 4,7 auf 19,3/100 000. In den USA starben 2015 etwa 64 000 Menschen an einer Überdosis – mehr als bei Autounfällen oder durch Schusswaffen. Die Zahl ist so hoch, dass sie bereits die mittlere Lebenserwartung in den USA verringert hat.</p> <h2>Ursache: häufige Verordnung</h2> <p>In den USA ist die Schmerztherapie mit Opioiden verbreitet und eine Erhaltungstherapie wird häufig als sicher beworben, berichtete Dr. Marc Vogel, Universitäre Psychiatrische Dienste Basel. Opioide sind relativ einfach verfügbar und werden beispielsweise nach Operationen als Bedarfsmedikation gleich für mehrere Wochen verordnet. Diese Form der Verordnung ist assoziiert mit einem anhaltenden Opioidkonsum nach einem Jahr. Zudem kann die Bedarfsmedikation, die nicht benötigt wird, rasch den Weg in die illegalen Märkte und zum Missbrauch finden. Patienten, die in eine Opioidabhängigkeit geraten sind, müssen für die weitere Versorgung oft auf den illegalen Markt ausweichen – und stoßen dort auf Opioide mit gefährlichen Beimischungen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1804_Weblinks_s34_1.jpg" alt="" width="1482" height="2185" /></p> <h2>Fentanyl-Problem</h2> <p>Fentanyl in Opioiden ist zu einem großen Teil an den Opioidtodesfällen in den USA beteiligt. Das synthetische Opioid lindert Schmerzen etwa 50-mal so gut wie Morphin. Schon eine salzkorngroße Menge im Heroin kann allerdings eine schwere Intoxikation hervorrufen, betonte Krausz. Und diese Form der Verunreinigung hat stark zugenommen: 2017 ließ sich bereits in 60,1 % der untersuchten Heroinstichproben in Kanada Fentanyl feststellen, 2012 gab es das praktisch noch gar nicht.<br />Die Produktion von synthetischem Fentanyl erfolgt aus chemischen Vorstufen, die relativ billig sind. Deshalb ist die Beimengung für Drogenkartelle ökonomisch interessant. Bekannt sind die Produktion der Vorstufen in China und die gezielte Beimengung zu Opiaten durch mexikanische Kartelle. Dass die Drogenmärkte in Europa derzeit noch nicht von dieser Strategie durchdrungen sind, muss nicht so bleiben. Beispiel ist Estland, wo 2011 123 Fentanyl-assoziierte Todesfälle registriert wurden – überwiegend in der russischen Minderheit, die über eine bestimmte Quelle Zugang zu Drogen in Russland hatte.<br />In Deutschland werden etwa 7 % aller Drogentoten auf einen Fentanylmissbrauch zurückgeführt. Bei einer Häufung von Todesfällen in München steckte allerdings das gezielte Suchen von Fentanyl durch die Opiatabhängigen dahinter, die Fentanylpflaster ausgekocht hatten, nicht die systematische Beimengung durch Drogenkartelle.</p> <h2>Fokus auf Fentanyl zu einfach</h2> <p>In Nordamerika ist jetzt die Sicht auf die Opioidkrise sehr auf die zu einfache Verfügbarkeit und den Missbrauch von Fentanyl reduziert. Dabei zeigt diese Situation eher die Lücken der Versorgung und das Versagen des Systems, findet Krausz (Tab. 1). „Prohibition 2.0“ sei daher keine Lösung, betonte er mit Blick auf die Diskussion um eine Todesstrafe für Dealer oder die Einschränkung der Fentanylbehandlung in der Schmerztherapie in den USA. Es bedürfe auch in Nordamerika einer stärkeren „Harm reduction“-Strategie gerade für diejenigen Personen mit hohem Risiko für Überkonsum. Dazu gehören beispielsweise mehr sichere Injektionsorte nah an den Drogennutzern und der Aufbau und die Restrukturierung des Behandlungssystems mit hoher Retention in der Substitution. Doch Politik und Gesundheitsbehörden weigern sich, das einzusehen. Stattdessen sieht sich Krausz weiterhin der polemischen Meinung ausgesetzt, dass die Strategien der Schadensbegrenzung verantwortlich seien für Risikokonsum.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1804_Weblinks_s34_2.jpg" alt="" width="1419" height="861" /></p> <h2>Erreichtes nicht verlieren!</h2> <p>Für Europa wurde in vielen Ländern ein gutes Niveau der Schadensbegrenzung und Substitutionsbehandlung aufgebaut. Aber Krausz betonte, es sei nicht sicher, dass nicht auch auf den hiesigen Drogenmärkten mehr Fentanylbeimengungen auftauchen: „Der Drogenmarkt ist international und gewinnorientiert und der Handel mit den Vorläufersubstanzen synthetischer Opioide existiert überall.“ Zudem beklagte er die Marginalisierung der Suchtmedizin und Ausgrenzung der substituierenden Ärzte. In Deutschland beispielsweise könnte zukünftig dadurch schlicht der Nachwuchs für die Suchtbehandlung fehlen. Es ist also durchaus eine Herausforderung, Erreichtes in der Schadensbegrenzung und Substitution zu erhalten.<br />Politik und Medizin sind außerdem gefordert, die Qualität der Schmerzbehandlung nicht einzuschränken, sondern weiter zu verbessern – inklusive eines rationalen Einsatzes von Opiaten. Das verhindere letztlich auch Drogentote, ist Krausz überzeugt.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 19. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin, 5.–7. Juli, München
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