Neuropsychologische Behandlung im Alter und bei Menschen mit Demenz
Autor:
Univ.-Doz. Dr. Gerald Gatterer
Leiter des Instituts für Altersforschung
Sigmund Freud Privatuniversität Wien
Psychologische/ Psychotherapeutische Praxis
Wiener Neudorf
E-Mail: gerald@gatterer.at
Die Therapie von Demenzerkrankungen stellt eine große Herausforderung dar. Neue medikamentöse Therapieoptionen sind in greifbarer Nähe, nach wie vor stützt sich die Behandlung von Demenzerkrankungen aber vor allem auf präventive Maßnahmen und symptomatische Therapien als Mittel der Wahl. Der Einsatz und der Stellenwert neuropsychologischer Therapien werden hier dargestellt.
Keypoints
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Neuropsychologische Therapiemaßnahmen erstrecken sich bei Menschen mit neurokognitiven Störungen sowohl auf deren Prävention als auch auf die Behandlung.
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Sie sollten beziehungs- und theoriengeleitet durchgeführt werden und sich am objektiven Bedarf (Defiziten), aber auch den Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientieren.
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Grundlage sind eine ausführliche Anamnese und neuropsychologische Diagnostik.
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Die Auswahl der eingesetzten Methoden umfasst ein breites Spektrum, welches sowohl biologische, psychologische, soziale als auch kontextuelle Faktoren berücksichtigt.
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Die Beziehungsgestaltung stellt eine wesentliche Grundvoraussetzung dar.
Neuropsychologische und klinisch-psychologische Interventionen werden bei kognitiven Störungen im Alter oft noch immer hinter medikamentösen Maßnahmen angesiedelt, was die Effizienz betrifft. Die folgende Arbeit versucht, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen nichtmedikamentöser Behandlungsprogramme, die auf einem geriatrischen Assessment mit neuropsychologischer Diagnostik und einer stadiengerechten Auswahl der entsprechenden Übungen aufbauen, sowohl bei der Prävention als auch bei der Behandlung von Menschen mit neurokognitiven Störungen aufzuzeigen.1
Risikofaktoren für das Auftreten einer Demenzerkrankung
Demenzerkrankungen haben verschiedene Ursachen und insofern müssen auch Präventions- und Behandlungskonzepte differenziert eingesetzt werden. Als Risikofaktoren für neurokognitive Störungen entsprechend der Alzheimerdemenz werden das Alter per se, eine geringe Schulbildung, geringe geistige und körperliche Aktivitäten im Verlauf des Lebens, aber speziell im mittleren und höheren Lebensalter, frühere Schädel-Hirn-Traumata und Depressionen diskutiert bzw. haben sie sich als solche herausgestellt. Zusätzliche Risikofaktoren (z.B. für eine vaskuläre Demenz) sind ein chronisch erhöhter Bluthochdruck, Diabetes, koronare Herzerkrankungen, Rauchen und Übergewicht sowie erhöhte Blutfette und damit in Zusammenhang stehende Risikofaktoren, die mit dem Lebensstil verbunden sind. Dies gilt auch für Demenzen im Rahmen von Suchterkrankungen bzw. durch Infektionen. Psychosoziale Faktoren wie vermehrte soziale Kontakte, soziale Integration, die Lebenssituation, Stress, aber auch die Strukturen und baulichen Gegebenheiten der stationären Betreuung werden als positive Einflussfaktoren für den Verlauf angeführt.2,3 Hier gibt es aber oft nur geringe Zusammenhänge, wie etwa eine Metaanalyse über den Nutzen von körperlicher Bewegung auf die kognitive Leistungsfähigkeit zeigt.4 Die diesbezüglichen öffentlichen Empfehlungen im Zusammenhang damit, dass körperliche Aktivität einen positiven Einfluss auf die Kognition hat, konnten nicht durch harte wissenschaftliche Fakten belegt werden. Trotzdem haben die Forscher aber keine Zweifel am Nutzen körperlicher Betätigung, denn deren Vorteile für die physische Gesundheit seien an sich schon ausreichend, um eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik zu rechtfertigen, die regelmäßige körperliche Übungen unterstützt.
Dies gilt auch für psychosoziale und psychotherapeutische Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen und sozialen Lebenswelt von Menschen mit Demenz, wie sie etwa in der S3-Leitlinie der DGGPP ( https://dggpp.de/leitlinien/s3-leitlinie-demenz-kf.pdf ) angegeben werden. Insofern ist das Zusammenspiel von biologischen, psychologischen, sozialen Faktoren und von Umweltfaktoren bei der Entwicklung und dem Fortschreiten eines kognitiven Abbauprozesses von wesentlicher Bedeutung.
Als weitere wichtige Faktoren für eine adäquate neuropsychologische Behandlung im Alter müssen die Veränderungen der kognitiven Leistungen im Alter sowie (neuro-)psychologische Theorien zum Alterungsprozess berücksichtigt werden.
Beim normalen Alterungsprozess entstehen primär Veränderungen in den kortikalen und präfrontalen Bereichen sowie im Hippocampus. Es kommt zu einer Abnahme der Netzwerkdichte, da die Anzahl der synaptischen Verbindungen abnimmt und weniger Verbindungen eine langsamere Verarbeitung von Informationen bewirken können. Ebenso hat das Gehirn eine geringere Plastizität und eine geringere Aktivität der Amygdala. Weiters ist auch die Neurotransmitteraktivität vermindert.5
Abb. 1: Zusammenspiel biologischer, psychologischer, sozialer und kontextueller Umgebungsfaktoren bei der Therapie neurokognitiver Störungen im Alter (Prävention – grün, leichte bis mittlere Störungen – blau, schwere Demenz – rosa)
Dadurch ergeben sich Einbußen bei den exekutiven Funktionen, beispielsweise der Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit zu steuern, sowie in all jenen kognitiven Bereichen, die unter dem Begriff „flüssige Leistungen/Speed-Funktionen“ zusammengefasst werden können. Damit verbunden sind auch Probleme für das Neu-Speichern und -Verarbeiten von Informationen. Weitgehend unbeeinträchtigt sind jedoch alle „automatisierten“ kognitiven Prozesse und Verhaltensweisen, die unter dem Begriff „kristalline Leistungen/Power-Funktionen“ zusammengefasst werden können.2
Im Verlauf eines pathologischen kognitiven Alterungsprozesses (neurokognitive Störungen/Demenzen) treten auch Veränderungen in diesen automatisierten kognitiven Prozessen und emotional gespeicherten Verhaltensweisen auf (diese halten am längsten an).
Konsequenzen für die Durchführung neuropsychologischer Behandlungen
Bei der Durchführung neuropsychologischer Behandlungen bei älteren Menschen müssen deshalb folgende Faktoren berücksichtigt werden, die auf einem dialogischen Prozess zwischen den betroffenen Personen und den Therapeut:innen beruhen und auf kognitiven Modellen aufbauen:6
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Kenntnisse der Biografie der betroffenen Person durch Anamnese und Außenanamnese
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Zu behandelnde Problembereiche und Störungen (biologisch, kognitiv, emotional, sozial, Verhalten)
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Entwicklung und Relevanz dieser Problembereiche (Genese und Verhaltensanalyse)
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Zeitpunkt der Therapie (Prävention/leichte neurokognitive Störungen/Menschen mit Demenz im leichten, mittleren oder schweren Stadium)
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Eingesetzte Methoden (verbal, nonverbal, kreativ, emotional, übend, Nützen von Automatismen, Beratung der Angehörigen bzw. der Betreuer:innen, Umweltgestaltung)
Im Verlauf einer Demenzerkrankung ist dabei ein Wechsel von primär kognitiv übenden Maßnahmen (Speed-Funktionen) über Automatismen (Power-Funktionen) zu emotionalen und milieutherapeutischen sowie technologischen Maßnahmen notwendig.
Neuropsychologische Maßnahmen
Der Ablauf der neuropsychologischen Maßnahmen kann nach Gatterer (mod. 2020) in 5 Schritten dargestellt werden:
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Klare Erfassung der objektiven Situation durch eine ausführliche Anamnese und neuropsychologische Testung
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Klärung der individuellen Problemsituation und der damit verbundenen Konsequenzen
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Damit Klärung des Bedarfs (Defizite) für Maßnahmen und der Bedürfnisse (subjektive individuelle Ziele) der betroffenen Menschen
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Darauf aufbauend Auswahl der individuellen Behandlungsmöglichkeiten und Definition der realistischen Ziele:
Die Prävention kann durch spezifische kognitive Trainingsprogramme, Computerspiele, Aktivitäten und soziale Kontakte erfolgen, durch welche die Bereiche Flexibilität, Geschwindigkeit, Neugedächtnis, Lernen, logisches Denken, Plastizität und Neuanpassung trainiert werden. Eine Ergänzung durch einen positiven, gesundheits-, aktivitäts- und sozial orientierten Lebensstil mit vielen Kontakten und neuen Herausforderungen ist sinnvoll.
Bei Menschen mit beginnender Demenz steht ebenso das Training der betroffenen Bereiche im Vordergrund, um diese Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten, jedoch ist übermäßiger Stress zu vermeiden. Insofern sollten bei diesen Trainings nicht primär die Leistung und Verbesserung der Funktionen im Vordergrund stehen, sondern das Wohlbefinden und das subjektive Erfolgserlebnis. Eine Ausnahme stellen sehr leistungsorientierte Menschen dar. In diesem Stadium werden auch vermehrt das Altgedächtnis und die damit verbundenen Ressourcen genützt, da diese länger erhalten bleiben. Entspannungstechniken und Bewegung haben auch hier einen positiven Einfluss. Gerade in diesem Stadium sind aber psychosoziale Interventionen von wesentlicher Bedeutung, da sich oft Rollen in den sozialen Beziehungen verändern. Insofern ist der Erhalt der Rollen mit den damit verbundenen Aktivitäten ein wesentlicher Faktor der neuropsychologischen Behandlung. Dadurch sind oft paartherapeutische Gespräche und Unterstützung bei der Kommunikation nötig, um Konflikte zu vermindern. Vor allem in letzter Zeit werden auch vermehrt technische Hilfsmittel (z.B. Brille als Orientierungshilfe) eingesetzt, um Defizite auszugleichen. Diese sollten aber nur in Zusammenhang mit zusätzlichen Trainings verwendet werden, da sonst ein Abbau durch fehlende kognitive Aktivität begünstigt wird.7,8 Erste positive Ergebnisse werden auch von Neurofeedback bei Menschen mit Demenz berichtet.9,10 Hier zeigen sich bei EEG-NFB positive Auswirkungen auf einige kognitive Domänen.
Bei Menschen mit weiter fortgeschrittener Demenz müssen vermehrt die noch vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten aus allen Lebensbereichen genützt werden. Diese sind oft emotional gespeichert, sodass solche emotionalen Automatismen sehr lange zur Aktivierung und Motivation eingesetzt werden können. Hier sind die Interaktion und Kommunikation mit den betroffenen Menschen sowie deren Angehörigen und Betreuer:innen wichtig. Dabei sollten die Zusammenhänge zwischen emotionalen Prozessen und Automatismen genau erklärt werden, sodass ein Verständnis für oft nicht nachvollziehbare Handlungen erreicht wird. Darauf können gezielte (verhaltenstherapeutische) Veränderungen aufbauen.11 So gibt es etwa gute Ergebnisse für die Evidenz von Tanzen und Musik, aber auch Klettern mit Demenz ( http://bewegtheit.at/uploads/Volkshilfeintern.pdf ). Ein Verbleib in der bekannten Umgebung ist aufgrund der nur mehr gering vorhandenen Anpassungsfähigkeit an neue Umgebungen zu befürworten. Sind Umzüge wegen fehlender Strukturen notwendig, sollte die neue Umgebung entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Menschen strukturiert sein und es sollten z.B. bekannte Gegenstände von zu Hause mitgenommen werden. Rundwege mit motivationalen Aspekten, z.B. Früchte zum Ernten, Gartentherapie und andere positive emotionale Aspekte, erleichtern die Integration und die Aktivität in der neuen Umgebung. Ebenso sind eine gezielte neuropsychologische Unterstützung bei der Eingewöhnung durch Orientierungshilfen, emotionale Marker und eine positive Beziehungsgestaltung notwendig. Auch virtuelle Realitäten kommen vermehrt zum Einsatz und es zeigen sich bei einigen Personen positive Effekte sowohl auf kognitive als auch emotionale Bereiche.12 Aber auch hier sind noch weitere Forschung und eine Verbesserung der Technologien notwendig.
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Beziehungsgestaltung: Nur wenn es gelingt, eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, wird die Konfrontation mit Leistungsgrenzen zu einem positiven Selbsterkenntnisprozess und zur Motivation für therapeutische Maßnahmen führen und nicht zu Selbstschutz im Sinne von Abwehr und Leugnen.6 Hierzu gehören stadienspezifische Informationen zur Krankheit, zu den therapeutischen Maßnahmen, der Prognose, den möglichen Zielen, aber auch der Umgang mit unrealistischen Zielen. Der Prozess sollte durch das Aufgreifen und Nützen von Möglichkeiten und Ressourcen gekennzeichnet sein. Die Beziehungsgestaltung sollte reflektiert werden und sich an den therapeutischen Prozess anpassen.13 So ist am Anfang zum Beziehungsaufbau eine bindungsorientierte und emotional positive Beziehungsgestaltung wichtig, ebenso die Klärung der Rollen (rollenspezifische Beziehung) und die Form der Beziehungsgestaltung (Austauschbeziehung). In weiterer Folge stehen die funktionalen (therapeutischen) Elemente der Beziehung im Vordergrund, ohne jedoch die anderen zu vernachlässigen. Ziel ist, dass der betroffene Mensch seine Probleme erkennt und selbst daran arbeiten möchte. Neuropsycholog:innen sind Begleiter:innen in diesem Prozess sowohl für die Betroffenen als auch deren Angehörige und Betreuer:innen.
Literatur:
1 Gatterer G: Effizienz spezifischer neuropsychologischer und klinisch-psychologischer Interventionen im Alter. ZGG 2007; 40(2): 88-95 2 Gatterer G, Croy A: Leben mit Demenz. 2. Auflage. Berlin: Springer, 2020 3 Dick S et al.: Demenzielle Erkrankungen im Alter. Berlin, Boston: De Gruyter, 2017. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1515/9783110434811 4 Ciria LF et al.: An umbrella review of randomized control trials on the effects of physical exercise on cognition. Nat Hum Behav 2023; 7: 928-41. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1038/s41562-023-01554-4 5 Fjell AM, Walhovd KB: Structural brain changes in aging: courses, causes and cognitive consequences. Rev Neurosci 2010; 21(3): 187-221 6 Hildebrandt H: Zehn Argumente für dialogische Interaktion und kognitive Modelle als Grundlage neuropsychologischer Rehabilitation. Zeitschrift für Neuropsychol 2021; 32 (4): 229-42 7 Rivera JB et al.: Demenz und Digitalisierung. Neuroreha 2021; 13(2): 87-94 8 Radzey B, Fischer U: Technik. Hoffnungsträger für Menschen mit Demenz. Pflegez 2020; 73: 28-31. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s41906-020-0772-1 9 Luijmes RE et al.: The effectiveness of neurofeedback on cognitive functioning in patients with Alzheimer’s disease: preliminary results. Neurophysiologie Clinique/Clinical Neurophysiology 2016; 46(3): 179-87. Verfügbar unter: https://doi.org/1 0.1016/j.neucli.2016.05.069 10 Vilou I et al.: EEG-Neurofeedback as a potential therapeutic approach for cognitive deficits in patients with dementia, multiple sclerosis, stroke and traumatic brain injury. Life (Basel) 2023; 13(2): 365 11 Gatterer G (Hrsg): Praxis Verhaltenstherapie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2023 12 Jost J: Auswirkung von virtueller Realität auf Personen mit Demenz: Ein Literaturreview. Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Nursing Science (BScN). Medizinische Universität Graz, Institut für Pflegewissenschaft, 2019 13 Gatterer G: Erstellung eines Fragebogens zur Erfassung von Beziehungsstilen/-typen. AVM-publications, 2021. Verfügbar unter: https://institut-avm.at/wp-content/uploads/2022/04/gatterer-fragebogen-zur-erfassung-von-beziehungsstilen-avm-publications-2021-04-10.pdf
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