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Multisystemische Therapie (MST): Therapie erster Wahl bei Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens

<p class="article-intro">Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens (SSV) bringen unsere klassischen Versorgungssysteme an ihre Grenzen. Gerade diese anspruchsvollen Patienten und deren Familien können mit den üblichen Behandlungsangeboten in der ambulanten, teilstationären oder stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie nur ungenügend erreicht werden. Es braucht für diese anspruchsvollen Fälle zwingend ein hoch dosiertes und spezialisiertes Therapieangebot. Das intensive aufsuchende Therapieangebot der MST schliesst hier wirksam eine Versorgungslücke im System.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>St&ouml;rungen des Sozialverhaltens bei Jugendlichen sind h&auml;ufig.</li> <li>Unbehandelt hat das Krankheitsbild eine schlechte Prognose.</li> <li>Mit den &uuml;blichen Behandlungsangeboten werden die Patienten nur ungen&uuml;gend erreicht.</li> <li>MST integriert systemisch-familientherapeutische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Grundprinzipien in einem stark strukturierten, aufsuchenden und zeitlich begrenzten Therapieverfahren.</li> <li>Hauptwirkfaktoren sind ein gemeinsam verantwortliches Team mit hoher Behandlungsintensit&auml;t, einem 24-Stunden-Bereitschaftsdienst und der aufsuchenden Arbeit in den Systemen direkt vor Ort.</li> <li>MST wird in den Leitlinien als eine der wirkungsvollsten Interventionsformen empfohlen.</li> </ul> </div> <h2>Hintergrund</h2> <p>MST wurde von Scott Henggeler vor drei Jahrzehnten mit prim&auml;rem Fokus auf St&ouml;rungen des Sozialverhaltens entwickelt.<sup>1, 2</sup> MST integriert systemisch-familientherapeutische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Grundprinzipien in einem stark strukturierten, aufsuchenden und zeitlich begrenzten Therapieverfahren. Eine zentrale Grundannahme der MST ist, dass das Problemverhalten der Jugendlichen aus einer systemischen Sicht als multi-determiniert betrachtet wird. Um eine anhaltende Verhaltens&auml;nderung in diesen Familien zu erreichen, m&uuml;ssen demnach therapeutisch alle Faktoren aus den Systemen Familie, Schule, Peers und Umgebung miteinbezogen werden. Typische Einflussfaktoren, aufgegliedert in die verschiedenen Systeme f&uuml;r die St&ouml;rung des Sozialverhaltens<sup>3</sup>, sind in Abbildung 1 dargestellt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1804_Weblinks_lo_neuro_1804_s46_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="2009" /></p> <h2>Krankheitsbild</h2> <p>SSV z&auml;hlen gemeinsam mit anderen externalisierenden Verhaltensst&ouml;rungen zu den h&auml;ufigsten Erkrankungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Pr&auml;valenzzahlen f&uuml;r Jungen sind 2- bis 4-mal so hoch wie f&uuml;r M&auml;dchen (6&ndash;16 % f&uuml;r Jungen und 2&ndash;9 % f&uuml;r M&auml;dchen). Jugendliche mit einer SSV leiden oft zus&auml;tzlich unter komorbiden Problemen und Risikofaktoren. Besonders h&auml;ufig ist die Komorbidit&auml;t mit Aufmerksamkeitsdefizitst&ouml;rungen, Substanzabh&auml;ngigkeiten, Angstst&ouml;rungen, Depressionen sowie Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rungen. Eine zentrale Problematik am Krankheitsbild ist, dass die vulnerablen Heranwachsenden durch ihr r&uuml;cksichtsloses Interaktionsverhalten zunehmend aus allen gesellschaftlichen Bez&uuml;gen fallen und die Systeme sprengen. Diese Exklusion f&uuml;hrt nicht selten dazu, dass sich verschiedene Ausgestossene als Subgruppe neu finden und gegenseitig verst&auml;rken. Damit sind zentrale Entwicklungsaufgaben auch im Hinblick auf bessere normorientierte Verhaltensweisen in einem Teufelskreis zunehmend verunm&ouml;glicht und blockiert. In den sie umgebenden Systemen Familie, Schule und Gesellschaft provozieren die r&uuml;cksichtslosen Verhaltensweisen den Ruf nach strengen Massnahmen. Eine SSV im Jugendalter ist nicht nur ein grosser Risikofaktor f&uuml;r eine kriminelle Entwicklung, sondern auch f&uuml;r andere psychische St&ouml;rungen, generell haben Jugendliche mit SSV ohne Behandlung eine schlechte Prognose.</p> <h2>Grundlagen</h2> <p>Ein MST-Team besteht aus vier Therapeuten und einem Teamleiter, der selbst keine F&auml;lle &uuml;bernimmt. Jeder Therapeut behandelt 4&ndash;6 Familien parallel. Die geringe Falllast pro Therapeut erm&ouml;glicht eine hochfrequente Behandlung der einzelnen Familien, die allerdings zeitlich begrenzt ist auf 5 Monate. Die Indikation f&uuml;r MST sind Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren mit einer schweren St&ouml;rung des Sozialverhaltens, evtl. kombiniert mit Substanzmissbrauch. Den Schweregrad ermessen wir unter anderem daran, dass der Verbleib des Jugendlichen in der Familie oder in Schule und Ausbildung stark gef&auml;hrdet ist.</p> <h2>Therapie</h2> <p>Zusammen mit den Eltern, dem Jugendlichen und allf&auml;lligen Zuweisern wird zu Beginn der Behandlung eine ausf&uuml;hrliche Anamnese der St&auml;rken und Schw&auml;chen in allen relevanten Systemen (Individuum, Familie, Schule/Arbeit, Peers, Umfeld) gemacht und gemeinsam &uuml;bergeordnete Behandlungsziele definiert. Danach erstellt der Therapeut gemeinsam mit der Familie und dem Jugendlichen f&uuml;r alle &uuml;bergeordneten Behandlungsziele sogenannte Fit- Analysen. Dabei werden f&uuml;r jedes Problemverhalten die Einflussfaktoren aus allen Systemen gesucht, &uuml;berpr&uuml;ft und daraus entsprechende Interventionen abgeleitet. Auf dieser Grundlage k&ouml;nnen in der Folge die Einflussfaktoren und Interventionen priorisiert werden. Die therapeutische Herausforderung besteht darin, die kr&auml;ftigsten Einflussfaktoren zu erkennen und daraus wirksame Interventionen abzuleiten. Bevorzugt werden Wirkfaktoren mit einem m&ouml;glichst grossen Einfluss, wenn m&ouml;glich auf mehrere Problemverhalten. Die entwickelten Interventionen sollten sich auch einfach und zeitnah realisieren lassen. Die w&ouml;chentlichen Interventionen zielen darauf ab, m&ouml;glichst viele der Einflussfaktoren, die zum problematischen Verhalten f&uuml;hren, zu neutralisieren. Der Effekt der w&ouml;chentlich neu evaluierten Interventionen auf das Problemverhalten wird nicht nur mit der Familie, sondern regelm&auml;ssig auch im Team gemeinsam reflektiert. Dieses Vorgehen, die Fit-Analysen und das Ableiten von Interventionen mit st&auml;ndiger Evaluation bleibt wegweisend &uuml;ber den gesamten Therapieverlauf und nennt sich MST analytischer Prozess (Abb. 2). F&auml;lle k&ouml;nnen dann abgeschlossen werden, wenn die vereinbarten Behandlungsziele &uuml;ber vier Wochen hinweg stabil erreicht wurden. In der Abschlussphase der Therapie werden mit allen Familien sogenannte positive Fits erstellt, die aufzeigen, welche Faktoren haupts&auml;chlich zur Entwicklung beigetragen haben, und diese werden dann in einer Art Rezept f&uuml;r den nachhaltigen Erfolg f&uuml;r die Familien zusammengefasst.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1804_Weblinks_lo_neuro_1804_s47_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="1207" /></p> <h2>Forschung</h2> <p>Aktuell gibt es zur MST &uuml;ber 130 in Peer-Review-Verfahren begutachtete Artikel und 25 RCT-Studien zur Wirksamkeit. Die Anzahl der Publikationen steigt weiterhin stetig an. MST wurde auch in mehreren Metaanalysen<sup>4, 5</sup> und in zahlreichen Leitlinien, zum Beispiel in den S3 Leitlinien der deutschsprachigen AWMF, als eine der wirkungsvollsten Interventionsformen bei delinquenten Jugendlichen empfohlen. Wenn man die Ergebnisse aller Outcomeund L&auml;ngsschnittstudien zusammenfasst, zeigen sich folgende Effekte der MST<sup>6</sup>:</p> <p><strong>Langfristige Wirkungen</strong></p> <ul> <li>75 % weniger Wiederverurteilungen aufgrund von Gewaltdelikten</li> <li>54 % weniger Fremdplatzierungen</li> <li>deutliche Kosteneinsparungen f&uuml;r die Allgemeinheit</li> </ul> <p><strong>Unmittelbare Wirkungen</strong></p> <ul> <li>Funktionsniveau der Familie verbesserte sich</li> <li>Substanzkonsum der Jugendlichen reduzierte sich</li> <li>Psychische Belastung der Jugendlichen verringerte sich</li> <li>hohe Zufriedenheit der Familien und der Zuweiser mit dem MST-Programm</li> <li>gesteigerte schulische und berufliche Leistungsf&auml;higkeit/Integration</li> <li>weniger Suizidversuche</li> </ul> <p>Die Wirksamkeit von MST konnte auch in langfristigen Katamnesen nachgewiesen werden. Selbst nach 21,9 Jahren blieb die Verhaftungsrate der MST-Gruppe aufgrund von schweren Straftaten um 36 % und die Verhaftungsrate aufgrund von Gewaltdelikten sogar um 75 % tiefer als die der Kontrollgruppe.<sup>7</sup> Obwohl die Therapieabbruchraten bei Jugendlichen mit St&ouml;rungen des Sozialverhaltens normalerweise hoch sind, erreicht MST, dass 98 % der Jugendlichen die Therapie regul&auml;r beenden.<sup>8</sup></p> <p>Die langj&auml;hrige Forschung zur MST und die standardisierte Qualit&auml;tskontrolle garantieren, dass die erwarteten klinischen Ergebnisse und finanziellen Einsparungen sich auch tats&auml;chlich realisieren lassen. Von MST-Services wird daher im therapeutischen Alltag in einem sehr arbeitsaufwendigen System &uuml;berpr&uuml;ft, wie gut sich die Therapeuten und Supervisoren an das Manual halten. Je besser sich der Therapeut an das Manual h&auml;lt, umso h&ouml;her die erzielte Effektst&auml;rke.<sup>9, 10</sup> Alle Therapieteams weltweit stehen in einem st&auml;ndigen Benchmark bez&uuml;glich der Therapiergebnisse und der Qualit&auml;tskontrollwerte.</p> <h2>Erfahrungen</h2> <p>Die klaren Behandlungskonzepte, das Arbeiten im Team, die engmaschige Supervision und die st&auml;ndige Prozesskontrolle sch&uuml;tzen die Therapeuten davor, in komplexen F&auml;llen die &Uuml;bersicht zu verlieren, und geben den R&uuml;ckhalt und die &Uuml;berzeugung, in hochkomplexen und belastenden F&auml;llen die therapeutische Wirksamkeit nicht zu verlieren.<sup>3</sup> Um ein MSTBehandlungsteam zu verwirklichen, ist multisystemisches Denken und Handeln auch auf &uuml;bergeordneter politischer Ebene n&ouml;tig. Die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln der Systeme Gesundheit, Sozialwesen, Erziehung und Justiz zeigt sich unter anderem in einer gemeinsamen Finanzierungsgrundlage, schafft aber im Gegenzug auch eine gemeinsame Haltung in den oberen Hierarchiestufen dieser Systeme, die erfolgreiches Arbeiten an der MST-Basis erst erm&ouml;glicht. MST als Spezialform der aufsuchenden Arbeit ist in den kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsstrukturen in den Schweizer Kantonen Thurgau, Aargau und Basel zu einem unverzichtbaren Behandlungsangebot geworden. Die Finanzierung wird hier je zu 50 % durch die medizinischen Kostentr&auml;ger (Krankenkassen) und die &ouml;ffentliche Hand (Kantone) getragen. Aktuell entstehen erste MST-Teams auch in Deutschland (Mainz, Heilbronn und Hamburg). Es ist erstaunlich, dass sich dieses hochwirksame und kosteneinsparende Behandlungsmodell im deutschsprachigen Europa bis anhin nicht weiter hat durchsetzen k&ouml;nnen. M&ouml;glicherweise haben die f&ouml;deralen Strukturen und die komplexen Finanzierungsmodalit&auml;ten einen bremsenden Effekt.</p> <p>Die Einbettung von MST in das medizinische System der Jugendpsychiatrie erh&ouml;ht die Wirksamkeit. Speziell wegen der h&auml;ufigen Komorbidit&auml;ten von SSV mit anderen Krankheitsbildern ist eine integrierte Behandlung wichtig.</p> <p>Die &uuml;berzeugende Wirkung erzielt MST &uuml;ber ein gemeinsam verantwortliches Team mit hoher Behandlungsintensit&auml;t, einem 24-Stunden-Bereitschaftsdienst und der aufsuchenden Arbeit in den Systemen direkt vor Ort. MST ist damit sozusagen eine jugendpsychiatrische Intensivstation zu Hause bei den Familien und kann die Probleme dort behandeln, wo sie entstehen, in der Familie, in der Gleichaltrigen- Gruppe, in der Schule und am Arbeitsplatz.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Henggeler SW et al.: Multisystemic treatment of juvenile offenders: Effects on adolescent behavior and family interaction. Developmental Psychology 1986; 22(1): 132-41 <strong>2</strong> Henggeler SW et al.: Multisystemische Therapie bei dissozialem Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutsche Bearbeitung durch Bachmann, C. Springer Verlag, 2012 <strong>3</strong> Eigenheer R et al.: St&ouml;rung des Sozialverhaltens bei Jugendlichen. Die Multisystemische Therapie in der Praxis. G&ouml;ttingen: Hogrefe, 2016 <strong>4</strong> Fonagy P et al.: What works for whom? New York: Guilford 2002 <strong>5</strong> Bachmann CJ et al.: Evidenzbasierte psychotherapeutische Interventionen f&uuml;r Kinder und Jugendliche mit aggressivem Verhalten. Kindheit und Entwicklung 2010; 19(4): 245-54 <strong>6</strong> MST Services 2018; Online-Zugriff: http://mstservices.com/ <strong>7</strong> Sawyer AM, Borduin CM: Effects of multisystemic therapy through midlife: A 21.9-year follow-up to a randomized clinical trial with serious and violent juvenile offenders. J Consult Clin Psychol 2011; 79(5): 643-52 <strong>8</strong> Henggeler SW et al.: Eliminating (almost) treatment dropout of substance abusing or dependent delinquents through home-based multisystemic therapy. Am J Psychiatry 1996; 153(3): 427-8 <strong>9</strong> Schoenwald SK et al.: Client-level predictors of adherence to MST in community service settings. Family Process 2003; 42(3): 345-59 <strong>10</strong> Schoenwald SK et al.: Therapist adherence and organizational effects on change in youth behavior problems one year after multisystemic therapy. Adm Policy Ment Health 2008; 35(5): 379-94</p> </div> </p>
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