
Long COVID: klinische Manifestation, neurobiologische Grundlagen und aktuelle Therapieansätze
Autor:innen:
Dr. Dominik Ivkic1,2, Dr. Ina Bozic1,2, Dr. Lutz Reinfried1,2, Dr. Anna-Christina Moser3, Prim. Prof. Priv.-Doz. DDr. Gernot Fugger3, Dr. Birgit Ludwig, BSc BA2,4, Prim. a.D. Dr. Florian Buchmayer5, Priv.-Doz. Dr. Dr. Lucie Bartova1,2, DDr. Ana Weidenauer1,2
1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Allgemeine Psychiatrie, Medizinische Universität Wien
2 Comprehensive Center for Clinical Neurosciences and Mental Health, Medizinische Universität Wien
3 Abteilung für Psychiatrie, Universitätsklinikum St. Pölten
4 Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien
5 Leben Psyche Zentrum, Wien
Korrespondierende Autorin:
DDr. Ana Weidenauer
E-Mail: ana.weidenauer@meduniwien.ac.at
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Auch fünf Jahre nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie sind zahlreiche Menschen von Long COVID betroffen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über das heterogene Krankheitsbild und den gegenwärtigen Wissensstand zur Pathogenese. Außerdem werden erfolgreiche Behandlungsansätze und die multidisziplinäre Spezialambulanz an der Medizinischen Universität Wien vorgestellt.
Keypoints
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Long COVID (LC) ist ein heterogenes und vielschichtiges Krankheitssyndrom, das vielfältige Symptome wie Fatigue, Schlafstörungen, Ängste und depressive Symptome sowie vegetative und weitere psychosomatische Beschwerden wie z.B. Schmerzen oder Missempfindungen umfasst.
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Derzeit vorherrschende Hypothesen zur Pathogenese nennen eine chronische Inflammation durch reaktivierte Viren, vaskuläre Schäden im ZNS, Störung der Neurotransmittersysteme sowie Neuroplastizität. Zahlreiche inflammatorische Marker sind daher bei LC erhöht.
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Als Behandlungsstrategie wurde bisher auf bekannte therapeutische Algorithmen, die bei Depressionen, Angststörungen und ME/CFS angewendet werden, zurückgegriffen. Das umfasst Modifikation des Lebensstils ebenso wie medikamentöse Therapien.
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An der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, konnte darüber hinaus der Einsatz von nasal verabreichtem Esketamin im Sinne der Leitlinie für behandlungsresistente Depression Patientinnen zur Remission verhelfen.
Am 26. Februar 2020 gab es den ersten bestätigten Fall von COVID-19 in Österreich. Es folgten zahlreiche Maßnahmen, um die Verbreitung des Virus und die damit verbundenen Folgen für die Bevölkerung einzudämmen. Trotz Lockdowns und eines neu entwickelten Impfstoffs wurden rasant steigende Infektionszahlen verzeichnet, die zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führten und viele Fragen aufwarfen.1
Obwohl die COVID-19-Pandemie vor nahezu zwei Jahren als beendet erklärt wurde, gibt es weiterhin – nicht zuletzt auch aufgrund von Neuinfektionen – Menschen, die unter den Folgen von Long COVID (LC)leiden. LC, das in komplexen Fällen mehrere Jahre anhalten kann, betrifft eine Vielzahl von Organsystemen und wird deshalb als Multisystemerkrankung betrachtet. Als solches erfordert sie ein multidisziplinäres Behandlungskonzept. LC stellt eine enorme Belastung für die Betroffenen und deren Umfeld dar sowie eine erhebliche Herausforderung für das Gesundheitssystem. Die heterogenen, mittlerweile sehr gut charakterisierten klinischen Merkmale und deren zugrunde liegende neurobiologische Veränderungen ermöglichen gezielte therapeutische Strategien, die in der klinischen Routine zunehmend erfolgreich eingesetzt werden können.
Definition und Manifestation
LC ist eine anhaltende Erkrankung, die im Anschluss (entsprechend WHO-Definition 3 Monate nach Erstinfektion) an eine akute Infektion mit dem Coronavirus auftritt, zumindest 2 Monate anhält und mehrere Organsysteme betrifft.2 Eine konservative Schätzung geht von einer Inzidenz von etwa 10% der infizierten Personen aus.3 Aufgrund der hohen Zahl nicht dokumentierter COVID-19-Infektionen und der Tatsache, dass es keine klaren Long-COVID-Diagnosekriterien gibt, ist die tatsächliche Anzahl von LC-Fällen vermutlich deutlich höher.4
Am häufigsten betroffen ist das kardiorespiratorische Organsystem, gefolgt vom Nervensystem. Insgesamt wurde von über 200 Symptomen berichtet.2,5 Zu den häufigsten neuropsychiatrischen Symptomen gehören Fatigue, Schlafstörungen, kognitive Einschränkungen, Depressionen und Ängste (Tab. 1). Ein weiteres häufiges beschriebenes Symptom ist eine Störung des autonomen Nervensystems, wie es beim Posturalen Tachykardie-Syndrom (POTS) der Fall ist. Hierbei handelt es sich um eine Problematik des Körpers, den Blutdruck und die Herzfrequenz bei einem Lagewechsel anzupassen. Zudem zeigen sich Parallelen zwischen LC und der myalgischen Enzephalomyelitis bzw. dem chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Etwa die Hälfte der LC-Fälle erfüllt die diagnostischen Kriterien für ME/CFS.6–8
Tab. 1: Diagnostische Marker/Symptome bei PAIS/Long COVID (nach Choutka J et al. 20229, Rabady S et al. 202310)
ME/CFS ist eine komplexe und stark belastende Erkrankung. Sie ist durch eine anhaltende, unerklärliche Erschöpfung gekennzeichnet, mit einer Exazerbation der Fatigue, also einer Verschlimmerung, durch körperliche oder geistige Aktivität. Die Erkrankung wurde bereits mit verschiedenen anderen Erregern in Verbindung gebracht, darunter dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und dem West-Nil-Virus,9 was auf die Möglichkeit einer breiteren Anwendbarkeit der Forschungsergebnisse zu LC hinweisen könnte.
In der herkömmlichen Routinediagnostik universitärer Spitäler lassen sich keine Ursachen für die Beschwerden der Patient:innen feststellen.11 Umso entscheidender ist es, in der Forschung disziplinäre Grenzen zu überschreiten und interdisziplinäre, kollaborative Ansätze zu fördern.
Wie entsteht Long COVID?
Zur Entstehung von LC gibt es derzeit verschiedene neurobiologische Hypothesen. Einerseits könnten persistierende Virusbestandteile eine anhaltende Immunantwort hervorrufen, die zu erhöhter inflammatorischer Aktivität in verschiedenen Organsystemen und insbesondere im zentralen Nervensystem (ZNS) führt. Darüber hinaus wird von mikroangiopathischen Schäden im ZNS und einer Beeinträchtigung der Neuroplastizität ausgegangen. Insbesondere die Beeinträchtigungen in frontalen und temporalen Gehirnregionen könnten die unspezifischen Begleitsymptome wie Erschöpfbarkeit, Angst, Depression, Schlafstörungen und psychosomatische Beschwerden wie chronische Schmerzen erklären.2,12,13 Veränderungen in verschiedenen Neurotransmittersystemen reflektieren neurobiologisch das klinische Krankheitsbild, insbesondere im Zusammenhang mit Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Glutamat und γ-Aminobuttersäure (GABA).14 Das Zusammenspiel zwischen der individuellen genetischen Vulnerabilität und der Wirkung verschiedener Umweltfaktoren trägt wesentlich zur Entstehung und zum Verlauf der durch LC entstandenen oder aggravierten Symptome bei.2
Zudem ist erwähnenswert, dass die verschiedenen Coronavirusvarianten mit unterschiedlichen Risiken einhergehen, LC zu entwickeln. Nach den anfänglichen Deltavarianten, die häufigere und schwerere Formen von LC ausgelöst haben, geht die seit 2022 vorherrschende Variante Omikron mit einem geringeren Risiko für die Entwicklung von LC einher. Weitere nennenswerte Einflussfaktoren für die Entwicklung von LC sind der Verlauf der Infektion sowie der Impfstatus.15 Außerdem ist bekannt, dass jüngeres Alter, weibliches Geschlecht, unzureichende Schonung in den ersten zwei Wochen der Infektion, schlechterer gesundheitlicher Zustand vor der Erkrankung sowie niedrigeres Einkommen Risikofaktoren für die Entwicklung von LC darstellen.16
Neurobiologische Grundlagen
Mit LC als Gegenstand intensiver Forschung gibt es gegenwärtig vielfache Hypothesen, um die Entstehung neuropsychiatrischer Symptome zu erklären. So scheint eine persistierende systemische Entzündung eine zentrale Rolle bei LC zu spielen. Sie ist gekennzeichnet durch erhöhte Werte von C-reaktivem Protein (CRP), einem erhöhten Neutrophilen-Lymphozyten-Verhältnis sowie Zytokine wie Interleukin-6 (IL-6).17
Ein zugrunde liegender Mechanismus könnte eine prolongierte Immunreaktion infolge der initialen SARS-CoV-2-Infektion darstellen, die zu einer Entzündung der Blutgefäße und in der Folge zu einer gestörten Blut-Hirn-Schranke führen könnte. Diese Störung könnte das Eindringen von Immunzellen in das ZNS ermöglichen und somit zur Schädigung von Nervenzellen beitragen.2,13,18,19
Ein weiterer potenzieller Mechanismus ist der Eintritt des Virus über den Rezeptor für das Angiotensin konvertierende Enzym 2 (ACE2-Rezeptor), der in den unteren Atemwegen und in mehreren Hirnarealen verstärkt exprimiert ist. Dieses Eintreten könnte dort neurodegenerative Prozesse auslösen.20,21 Auch könnten Ischämien durch geschädigte Blutgefäße oder Mikrothromben zu neuronalen Schäden führen.22 Schließlich könnten die enormen Belastungen der COVID-19-Pandemie und ein damit einhergehender Anstieg von chronischem psychosozialem Stress eine Verschärfung neuropsychiatrischer Symptome – insbesondere in vulnerablen Bevölkerungsgruppen – bewirkt haben.23
Eine aktuelle Studie bringt die oben beschriebenen Mechanismen – virale Persistenz, chronische Inflammation, Hyperkoagulabilität und autonome Dysfunktion als Stressantwort – mit einem Serotoninmangel im Plasma in Verbindung und zeigt damit einen möglichen neurobiologischen Erklärungsansatz für die neuropsychiatrischen Symptome bei LC auf.14
Rezentere Studien postulieren eine Verstärkung von Entzündungsvorgängen durch virusaktivierte Mikrogliazellen und eine potenzielle positive Auswirkung von Flavonoiden auf die genannten Prozesse.24,25 Hervorzuheben ist, dass zahlreiche Parallelen zwischen den neurobiologischen Veränderungen bei LC und den bereits gut erforschten pathophysiologischen Mechanismen bei depressiven Erkrankungen, Angsterkrankungen und weiteren psychosomatischen Erkrankungen bestehen.26 Ein Beispiel dafür ist die dysregulierte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse (HHNA), die zu erhöhten Glukokortikoidspiegeln im Serum führt. Das geht wiederum häufig mit atrophischen Veränderungen in den Subregionen des Hippocampus und mit depressiven Symptomen einher.2,27,28 Bildgebende Studien bei Patient:innen mit depressiven Störungen zeigten eine Volumensreduktion der grauen Substanz in Regionen wie dem Hippocampus und dem präfrontalen Kortex,29,30 vergleichbar mit den Folgen von Ischämie und neurodegenerativen Veränderungen bei LC-Patient:innen.29 Diese Erkenntnisse unterstreichen die Relevanz psychiatrischer und neurowissenschaftlicher Forschung für die Diagnostik und Therapie von Patient:innen mit LC.
Bisherige Behandlungsstrategien
Bisher wurden für die Behandlung von LC verschiedene Strategien angewandt (Tab. 2). Aufgrund des Fehlens von etablierten und validierten Therapiekonzepten wurde zumeist auf bekannte therapeutische Algorithmen zurückgegriffen, die in der Behandlung von Depressionen und ME/CFS verwendet werden. Darunter sind kognitive Verhaltenstherapie, Lebensstilmodifikation, leichte Kraft- und Ausdauerübungen, Pacing und Biofeedback zum Management von Fatigue. Diese Maßnahmen führen in der Regel zu einem besseren Umgang mit der Symptomatik und können die subjektive Belastung für Patient:innen bessern, stellen jedoch keine Möglichkeit zur anhaltenden Symptomreduktion und Ursachenbekämpfung dar.31
Tab. 2: Stufenschema zur Behandlung von neuropsychiatrischen Symptomen bei Long COVID, basierend auf Vorarbeiten und Erkenntnissen unserer Forschungsgruppe33, 34, 36, 41-44
Weiterführende medikamentöse Therapieansätze beinhalten die Anwendung von Phytotherapeutika wie Silexan und Ginkgo-Extrakt, die mit ihrem zusätzlichen Effekt auf die Neuroplastizität positive Ergebnisse erzielen konnten.32–36 Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), wie Sertralin, Citalopram, Paroxetin und Fluvoxamin, sind mit ihrer antidepressiven/antiinflammatorischen Wirkung eine gute therapeutische Basis zur Behandlung der neuropsychiatrischen Symptome bei LC.37,38 Aripiprazol, ein partieller Dopamin-D2-Rezeptor-Agonist, hat in der Behandlung von ME/CFS und LC einen gewissen Stellenwert erlangt. Eine Behandlung mit geringen Dosen von etwa 0,5–2mg täglich konnte Symptome wie Fatigue, Brainfog, nicht erholsamen Schlaf und das Auftreten sowie die Intensität von postexertioneller Malaise (PEM) verringern. Es wird vermutet, dass Aripiprazol über den D2-Rezeptor ebenso einen immunmodulierenden Effekt durch Reduktion der Mikrogliaaktivierung entfaltet.39 Positive Ergebnisse konnten in der Behandlung von LC und ME/CFS auch für niedrig dosiertes Naltrexon (LDN) beobachtet werden. Naltrexon, bekannt als Opioidrezeptor-Antagonist, beeinflusst in einer Dosis von 0,5–4,5mg die Signaltransduktion bei Inflammation über den Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4).40 In Anlehnung an die etablierten Leitlinien für behandlungsresistente Depression (TRD) wurden LC-Patient:innen mit erheblichen körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in Wien im Rahmen eines neu konzipierten Behandlungsschemas (siehe Tab. 2) mit Esketamin behandelt.41 Das S-Enantiomer von Ketamin, Esketamin, hat sich als wirksames antidepressives und antisuizidales Mittel erwiesen und ist bereits seit einiger Zeit für die Behandlung von behandlungsresistenter Depression (TRD) sowie für psychiatrische Notfälle wie akute Suizidalität zugelassen.42
In einem konkreten Fallbeispiel präsentierte sich eine 34-jährige Frau mit zunehmendem chronischem Erschöpfungssyndrom („chronic fatigue“) mit orthostatischer Hypotonie und Sinustachykardie seit einer milden COVID-19-Infektion mit vorwiegend respiratorischen Symptomen, die mittlerweile vollständig remittiert waren. Die Patientin berichtete jedoch von persistierenden kognitiven Einschränkungen im Sinne von Brainfog, einer depressiven Verstimmung, Angstzuständen, Schlafstörungen und Schwindel. Nach einer nicht suffizient erfolgreichen ambulanten Behandlung, u.a. mit Psychotherapie, Silexan und Bupropion erfolgte eine stationäre Aufnahme. Dabei wurde ihre Psychopharmakotherapie optimiert. Nach einer Etablierung von Duloxetin 90mg täglich, welches mit Aripiprazol 2,5mg täglich augmentiert wurde, erfolgte bei weiterhin ausbleibendem Erfolg eine Add-on-Therapie mit intranasalem Esketamin nach dem für die TRD zugelassenen Schema.32,42,43 Unter der letzten Therapieoptimierung, die wöchentliche und anschließend zweiwöchentliche Gaben von Esketamin 84mg umfasste, kam es zur vollständigen Remission der oben genannten LC-Symptomatik.41
Der zweite beschriebene Fall betrifft eine 33-jährige Frau mit LC-assoziierter chronischer Fatigue, Konzentrationsstörungen, posturalem orthostatischem Tachykardiesyndrom (POTS) und Muskelatrophie mit chronischen Schmerzen. Die Patientin benutzte aufgrund der erheblichen körperlichen Beeinträchtigung einen Rollstuhl und Sauerstoff. Auch diese Patientin wurde unter anderem mit Phytotherapie und konventioneller Psychopharmatherapie inklusive zuletzt 120mg Duloxetin und 2,5mg Aripiprazol täglich behandelt. Nach unzureichendem Ansprechen wurde eine Add-on-Therapie mit intravenösem Esketamin eingeleitet. Nach zehn intravenösen Behandlungen mit bis zu 50mg pro Anwendung (0,86mg/kg/60min) kam es zu einem deutlichen Ansprechen mit signifikanter Verbesserung der Müdigkeit und Myalgie. Unter Fortführung dieses Therapieregimes inklusive einer Erhaltungstherapie mit Esketamin konnte eine weitere, lang anhaltende klinische Besserung erreicht werden. Die Patientin erlangte letztendlich ihre volle Mobilität zurück und konnte wieder in ihren Beruf als Juristin einsteigen.41
Vermuteter Wirkmechanismus von Esketamin
Neben der gut etablierten Modulation der glutamatergen N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptoren wurde ein heterogener Wirkmechanismus von Ketamin mit immunregulatorischen und neuromodulatorischen Funktionen festgestellt.44 Ketamin wirkt immunmodulatorisch durch die Hemmung von „nuclear factor kappa-light-chain enhancer of activated B cells“ (NF-κB) und TLR4, durch die Blockade des NLRP3-Inflammasoms und die Reduktion von IL-1β.45 Es kommt zur Förderung antiinflammatorischer Zytokine (IL-10, TGF-β) und zur Reduktion der Mikrogliaaktivierung.46,47 Diese theoretischen Grundlagen und klinischen Erkenntnisse zeigen, dass Esketamin eine vielversprechende Behandlungsoption für Patient:innen mit behandlungsresistenten neuropsychiatrischen Manifestationen im Zusammenhang mit LC sein könnte.48 Hinzuzufügen ist, dass beide oben beschriebenen Fälle die diagnostischen Kriterien für ME/CFS erfüllt haben, was die Überschneidung der klinischen Merkmalsausprägung unterstreicht.49
Multidisziplinäre Spezialambulanz für Long COVID
An der Klinischen Abteilung für Allgemeine Psychiatrie der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im AKH Wien ist demnächst die Eröffnung einer spezialisierten Ambulanz geplant, die sich der Erforschung und dem Management von LC widmen soll. Dies wird in enger Kooperation mit den Universitätskliniken für Neurologie, Immunologie, Innere Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neuroradiologie, Nuklearmedizin, Labormedizin sowie Psychoanalyse und Psychotherapie erfolgen. Um die Versorgungsmöglichkeiten zu erweitern, wird gleichzeitig an der psychiatrischen Abteilung des Universitätsklinikums St. Pölten ebenso eine solche Spezialambulanz eröffnet. Außerdem entstehen Kooperationen mit dem niedergelassenen Bereich. Es wird sich dabei um die ersten psychiatrisch geführten LC-Ambulanzen Österreichs handeln. Das Projekt ist Teil einer fachbereichsübergreifenden Kooperation unter dem Dach des Comprehensive Center für klinische Neurowissenschaften und mentale Gesundheit (C3NMH) der Medizinischen Universität Wien. In diesem Rahmen sollen neben einer evidenzbasierten Therapie ein LC-Register erstellt sowie gezielte Studien zur Analyse der klinischen Manifestationen und der zugrunde liegenden Mechanismen durchgeführt werden, mit dem Ziel der Entwicklung eines standardisierten Therapiealgorithmus. Dies beinhaltet eine differenzialdiagnostische Abklärung mit Erhebung und Klassifizierung der häufig heterogenen Symptome, psychopharmakologische Therapien, psychosoziale Unterstützungen und individuelles Langzeitmanagement. Eine Voranmeldung für die Spezialambulanzen ist telefonisch bereits möglich.
Literatur:
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