Lässt sich die Cannabisprohibition medizinisch rechtfertigen?

<p class="article-intro">In der Schweiz stellen Besitz von und Handel mit Cannabis strafbare Handlungen dar. Bei einer Umfrage zur Aufhebung des Cannabisverbots in der Schweiz im Jahr 2017 gaben rund 57 Prozent der Befragten an, dass sie eine Aufhebung des Cannabisverbots befürworten würden, wenn Cannabis ähnlich wie Alkohol und Zigaretten besteuert würde. Die möglichen Grundlagen des Cannabisverbots werden in folgendem Essay erörtert.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>Wodurch lassen sich gesetzlich festgelegte freiheitseinschr&auml;nkende Massnahmen rechtfertigen?</h2> <p>Gem&auml;ss dem amerikanischen Philosophen Joel Feinberg lassen sich freiheitseinschr&auml;nkende Massnahmen grunds&auml;tzlich dadurch begr&uuml;nden, dass entweder Schaden (Schadensprinzipien) oder moralisch angreifendes Handeln (moralistische Prinzipien) abgewendet werden. Dies kann zum Schutze anderer oder zum Schutze des vermeintlichen &laquo;T&auml;ters&raquo; selbst erfolgen (man spricht in diesen F&auml;llen von paternalistischen Prinzipien) oder gar zum Schutze eines nicht spezifisch personenbezogenen Allgemeinwohls (Prinzip des gesetzlichen Moralismus). Das Verbot einer Handlung (z.B. Cannabisrauchen, Kopftuchtragen, Gottesl&auml;sterung) kann demzufolge theoretisch auch dann begr&uuml;ndet sein, wenn niemand im engeren Sinne zu Schaden kommen kann.*<br /><br /> Es soll hier nachfolgend nicht n&auml;her auf diese moralistischen Prinzipien eingegangen werden, da diese keiner Evidenz im wissenschaftlichen Sinne bed&uuml;rfen. So kann z.B. das Verbot eines bestimmten Kleidungsst&uuml;ckes gem&auml;ss moralistischen Prinzipien auch aus identit&auml;tsstiftenden Gr&uuml;nden erfolgen (&laquo;Das geh&ouml;rt nicht in unsere Kultur&raquo;), ohne dass hierf&uuml;r Evidenzen einer irgendwie sch&auml;dlichen Wirkung belegt werden m&uuml;ssten. Es handelt sich hierbei also um ein sogenanntes Verbrechen ohne Opfer,<sup>1</sup> also ein Verbrechen ohne Corpus delicti,<sup>&dagger;</sup> eine Handlung, die sich durch den freiwilligen Austausch von G&uuml;tern und Diensten unter urteilsf&auml;higen Erwachsenen auszeichnet.<br /> Wie liesse sich also die Prohibition des Cannabiskonsums aus gesundheitlichen Gr&uuml;nden rechtfertigen? Entweder (1) durch den Schaden, welchen er anderen zuf&uuml;gt, oder (2) durch den Schaden, den er dem Konsumierenden selber zuf&uuml;gt. Im ersten Fall kommt das sogenannte Schadensprinzip zum Tragen.</p> <h2>Das Schadensprinzip</h2> <p>Dieses Prinzip lautet gem&auml;ss Stuart Mill:<sup>2</sup> &laquo;Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtm&auml;ssig aus&uuml;ben darf, der ist: die Sch&auml;digung anderer zu verh&uuml;ten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine gen&uuml;gende Rechtfertigung. Man kann einen Menschen nicht rechtm&auml;ssig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser f&uuml;r ihn w&auml;re, weil es ihn gl&uuml;cklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln w&uuml;rde. Dies sind wohl gute Gr&uuml;nde, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu rechten, ihn zu &uuml;berreden oder mit ihm zu unterhandeln, aber keinesfalls um ihn zu zwingen [...] wenn er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, m&uuml;sste das Verhalten, wovon man ihn abbringen will, darauf berechnet sein, anderen Schaden zu bringen.&raquo;<br /><br /> Gem&auml;ss diesem Prinzip w&auml;re die Einschr&auml;nkung der Freiheit durch Verbot und Bestrafung demnach nur gerechtfertigt, wenn dadurch das Risiko der Sch&auml;digung f&uuml;r andere gemindert oder aufgehoben w&uuml;rde. Dies erfordert aber nicht a priori den Erlass eines Gesetzes, geschweige denn den eines Strafrechtsgesetzes. Ein Gesetz w&auml;re nur statthaft, falls sich das Risiko einer Sch&auml;digung f&uuml;r andere anders nicht mindern liesse.</p> <h2>L&auml;sst sich die Cannabisprohibition durch das Schadensprinzip begr&uuml;nden?</h2> <p>Um folglich den Anbau, das Inverkehrbringen und den Konsum von Cannabis aufgrund des Schadensprinzips gesetzlich zu verbieten, m&uuml;sste (1) hiermit Schaden von Dritten abgewendet werden k&ouml;nnen und (2) kein anderes Mittel hierf&uuml;r zur Verf&uuml;gung stehen. Da die Beweislast sowohl f&uuml;r Punkt 1 als auch f&uuml;r Punkt 2 bei den Bef&uuml;rwortern eines solchen Gesetzes liegt (ansonsten k&auml;me das Vorsorgeprinzip zum Zuge, siehe unten), stellt sich die Frage nach Evidenzen. Ein direkter Schaden f&uuml;r Dritte w&auml;ren z.B. Erkrankungen durch Passivrauchen. Es liegen allerdings bis heute keine schl&uuml;ssigen Daten &uuml;ber m&ouml;gliche Risiken durch Cannabis-Passivrauchen vor, womit sich die Cannabisprohibition derzeit nicht &uuml;ber das Schadensprinzip begr&uuml;nden l&auml;sst. Hingegen k&ouml;nnten ein eventuelles Unfallrisiko, welches Dritte miteinbezieht (z.B. Fahrzeugunf&auml;lle), oder gar Risiken f&uuml;r die Allgemeinheit (z.B. durch reduzierte Arbeitsf&auml;higkeit) als Argument gelten.<br /><br /> Auch bei Vorliegen eines solchen Risikos bedarf es gem&auml;ss dem Schadensprinzip allerdings des Vorliegens der Bedingungen 1 und 2, um eine Prohibition zu begr&uuml;nden. Hierzu m&uuml;ssten der Konsum und/oder dessen negative Auswirkungen durch das Gesetz verhindert werden k&ouml;nnen (Bedingung 1). Das nat&uuml;rliche Experiment der derzeitigen Prohibition belegt allerdings die Unwirksamkeit bez&uuml;glich des Konsums. Dieser ist im Verlaufe der letzten Jahrzehnte durch die Prohibition keineswegs einged&auml;mmt worden (cf. http:// www.suchtschweiz.ch/infos-und-fakten/ cannabis/konsum/). Andere Mittel der Konsumregulierung (Bedingung 2) sind ausserdem bereits f&uuml;r die Regulierung anderer Suchtmittel (Alkohol, Tabak) bestens erprobt. Es l&auml;sst sich also die Prohibition medizinisch durch das Schadensprinzip nicht begr&uuml;nden.</p> <h2>L&auml;sst sich die Cannabisprohibition durch das Prinzip des gesetzlichen Paternalismus begr&uuml;nden?</h2> <p>Gesetzlicher Paternalismus bedeutet, dass der Staat durch gesetzliche Massnahmen versucht, seine B&uuml;rger davon abzuhalten, sich selbst zu schaden. Die Frage nach der Legitimit&auml;t paternalistischer Handlungen ist h&auml;ufig eine Frage danach, wie weit die Sorge des Staates um das Wohl seiner a priori m&uuml;ndigen B&uuml;rger gehen darf. Diese Frage soll hier nicht weiter diskutiert werden, vielmehr soll erneut die Frage nach der M&ouml;glichkeit einer medizinischen Begr&uuml;ndung gestellt werden.<br /><br /> Damit also dieses Prinzip zur Anwendung kommen k&ouml;nnte, m&uuml;ssen zumindest die drei folgenden Bedingungen erf&uuml;llt sein: (1) Cannabis-Konsum sch&auml;digt die Konsumierenden in einer f&uuml;r den Staat inakzeptablen Weise, (2) durch die Prohibition l&auml;sst sich der Schaden abwenden, und (3) es steht hierf&uuml;r kein anderes Mittel zur Verf&uuml;gung.<br /> Selbstverst&auml;ndlich bedarf vor allem Bedingung 1 medizinischer Evidenzen. Wir wollen im Rahmen dieser Diskussion davon ausgehen, dass Bedingung 1 durch medizinische Evidenz belegt ist, dass also der Staat ein Interesse daran hat, sich aufgrund der von der &auml;rztlichen Forschung produzierten Datenlage paternalistisch um seine B&uuml;rger zu k&uuml;mmern. Um dies mittels Prohibition zu tun, m&uuml;ssten allerdings auch die Bedingungen 2 und 3 erf&uuml;llt sein. Wie f&uuml;r das Schadensprinzip bereits beschrieben, sind diese Bedingungen nicht erf&uuml;llt. Somit er&uuml;brigt sich eine Diskussion &uuml;ber die Bedingung 1. Die Resultate &auml;rztlicher Forschung bez&uuml;glich eventueller Sch&auml;den durch Cannabis verm&ouml;gen ein weiteres Mal nicht die Prohibition zu begr&uuml;nden. W&auml;re &uuml;brigens eine Prohibition mit dem Selbstsch&auml;digungsrisiko effektiv begr&uuml;ndet, m&uuml;ssten wohl andere psychoaktive Stoffe wie Tabak und Alkohol, die gef&auml;hrlicher sind, ebenfalls verboten werden.<sup>3</sup></p> <h2>L&auml;sst sich die Cannabisprohibition durch das Vorsorgeprinzip begr&uuml;nden?</h2> <p>Gem&auml;ss dem sogenannten Vorsorgeprinzip (&laquo;precautionary principle&raquo;), einem Prinzip der Umwelt- und Gesundheitspolitik, sollen denkbare (aber nicht unbedingt wissenschaftlich belegte) katastrophale Sch&auml;den im Voraus vermieden oder weitestgehend verringert werden. Das Vorsorgeprinzip zielt folglich darauf ab, trotz fehlender Gewissheit bez&uuml;glich Art, Ausmass oder Eintrittswahrscheinlichkeit der Sch&auml;den vorbeugend zu handeln.<br /> Das Prinzip wird gelegentlich in der Diskussion &uuml;ber kausale Zusammenh&auml;nge zwischen Cannabis und Schizophrenie bem&uuml;ht. So wird argumentiert, dass bei ernsten oder irreversiblen Bedrohungen f&uuml;r die menschliche Gesundheit wissenschaftliche Ungewissheiten nicht als Grund f&uuml;r den Aufschub von Pr&auml;ventionsmassnahmen herangezogen werden sollten. Bis vollst&auml;ndigere und schl&uuml;ssigere Daten verf&uuml;gbar sind, k&ouml;nnte es wesentlich sein, Entscheidungen auf der Grundlage der besten vorhandenen Beweise zu treffen. Einer der zentralen Bestandteile des Vorsorgeprinzips, auf die Cannabis- Prohibition angewandt, besteht dann darin, die Beweislast auf die m&ouml;glichen Gegner der Prohibition zu verlagern. Die Gegner der Prohibition m&uuml;ssten beweisen, dass kein Schaden zu erwarten ist.<br /><br /> Es stellt sich nun die Frage, ob medizinisch wissenschaftliche Evidenzen, seien sie vorl&auml;ufig oder allgemein anerkannt, die Cannabisprohibition &uuml;ber das Vorsorgeprinzip rechtfertigen k&ouml;nnen. Hierzu sollte kurz der Begriff der Datenunsicherheit analysiert werden. Es sind mindestens zwei Kategorien von Unsicherheit in der Cannabisprohibitionsdebatte zu unterscheiden: (a) Unsicherheit &uuml;ber die kausale Beziehung zwischen Cannabiskonsum und eventuellen Sch&auml;den und (b) Unsicherheit &uuml;ber das Risiko f&uuml;r das Auftreten solcher Sch&auml;den. Das Vorsorgeprinzip betrifft eigentlich haupts&auml;chlich die zweite Kategorie. In der Diskussion &uuml;ber m&ouml;gliche Cannabis-bezogene gesundheitliche Sch&auml;den betrifft die Unsicherheit jedoch fast ausschliesslich die erste Kategorie. So wurde etwa wiederholt berechnet, wie viele F&auml;lle psychotischer St&ouml;rung verhindert werden k&ouml;nnten, wenn der Cannabiskonsum bei gef&auml;hrdeten Jugendlichen verhindert w&uuml;rde. Zum Beispiel haben Arseneault et al. berechnet, dass die Eliminierung des Cannabiskonsums die Inzidenz von Schizophrenie um etwa 8 % reduzieren w&uuml;rde &ndash; unter Annahme einer kausalen Beziehung.<sup>4</sup> Somit ist die zweite Unsicherheitskategorie, die das Ausmass unerw&uuml;nschter Konsequenzen betrifft, in diesem Fall nicht mehr relevant. Es w&auml;ren 8 % , wenn die Prohibition wirksam w&auml;re.<br /><br /> Vorsorgemassnahmen zielen letztlich darauf ab, die Exposition gegen&uuml;ber dem potenziellen Risiko kontinuierlich zu reduzieren und wenn m&ouml;glich zu beseitigen. Ein weiterer Grund, weshalb das Vorsorgeprinzip im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen kann, ist der Umstand, dass die m&ouml;gliche Risikobelastung bereits hoch ist. Trotz Prohibition haben in der Schweiz fast 50 % der 20- bis 40-j&auml;hrigen M&auml;nner 2012 schon mindestens einmal konsumiert (cf. http://www. suchtschweiz.ch/infos-und-fakten/cannabis/ konsum/).<br /> Selbst wenn man die Hypothese Cannabis- induzierter volksgesundheitlich relevanter Sch&auml;den akzeptiert, l&auml;sst sich durch Prohibition dieses Risiko nicht verhindern. Es k&ouml;nnte nun argumentiert werden, dass ein Verbot die weitere Verbreitung des Cannabiskonsums verhindert. J&uuml;ngste epidemiologische Daten zur Cannabiskonsum-Pr&auml;valenz nach Cannabislegalisierungen in gewissen Staaten der USA st&uuml;tzen diese Hypothese jedoch eindeutig nicht.<sup>5</sup><br /><br /> Schliesslich kommen auch beim Vorsorgeprinzip die zwei bereits oben beschriebenen Bedingungen zur Anwendung: (1) Durch die Prohibition l&auml;sst sich der Schaden abwenden, und (2) es steht hierf&uuml;r kein anderes Mittel zur Verf&uuml;gung.</p> <h2>Schlussfolgerungen</h2> <p>Aus oben Gesagtem folgt, dass sich die Cannabisprohibition durch medizinische Evidenzen &uuml;ber Cannabis-bezogene Sch&auml;den nicht st&uuml;tzen l&auml;sst. Ein Verbot aus moralistischen Gr&uuml;nden bedarf hingegen keiner medizinischen Evidenz &ndash; allerdings einer Begr&uuml;ndung, wieso ausgerechnet der Konsum von Cannabis unmoralisch sein soll. * Feinberg selber lehnte Beleidigungsprinzipien als Strafrechtsgrundlage im &Uuml;brigen nachdr&uuml;cklich ab.<br /><br /> <sup>&dagger;</sup>Andere solche &laquo;Verbrechen ohne Opfer&raquo; k&ouml;nnten z.B. Homosexualit&auml;t, Pazifismus, Prostitution, Sterbehilfe oder Pornografie sein. Man k&ouml;nnte hier von einer Kriminalisierung der Lebensstile sprechen, die durch den Nationalsozialismus tragische Ber&uuml;hmtheit erlangt hat.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Hall GE: Crimes without victims. Deviant behavior and public policy: Abortion, homosexuality, drug addiction. JAMA 1965; 192: 1016 <strong>2</strong> Mill JS: &Uuml;ber die Freiheit. Ditzingen: Reclam, 1974 <strong>3</strong> Domenig D, Cattacin S: Sind Drogen gef&auml;hrlich? Gef&auml;hrlichkeitsabsch&auml;tzungen psychoaktiver Substanzen. I.A. der Eidgen&ouml;ssischen Kommission f&uuml;r Drogenfragen (EKDF). Gen&egrave;ve: Universit&eacute; de Gen&egrave;ve (Sociograph - Sociological Research Studies, 22a); 2015 <strong>4</strong> Arseneault L et al.: Causal association between cannabis and psychosis: examination of the evidence. Br J Psychiatry 2004; 184: 110-7 <strong>5</strong> Dills A et al.: Dose of reality: the effect of state marijuana legalizations. Cato Institute Policy Analysis Series No 799; September 16, 2016</p> </div> </p>
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