
Lässt sich die Cannabisprohibition medizinisch rechtfertigen?
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Gabriel Thorens
Service d’addictologie,<br> Hôpitaux Universitaires de Genève<br>< Prof. Dr. phil. Sandro Cattacin<br> Département de Sociologie,<br> Université de Genève
Autor:
Prof. Dr. med. Daniele Zullino
Service d’addictologie,<br> Hôpitaux Universitaires de Genève<br> Prof. Dr. med. Gerhard Wiesbeck<br> Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen,<br> Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel<br> E-Mail: daniele.zullino@hcuge.ch
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24.05.2018
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<p class="article-intro">In der Schweiz stellen Besitz von und Handel mit Cannabis strafbare Handlungen dar. Bei einer Umfrage zur Aufhebung des Cannabisverbots in der Schweiz im Jahr 2017 gaben rund 57 Prozent der Befragten an, dass sie eine Aufhebung des Cannabisverbots befürworten würden, wenn Cannabis ähnlich wie Alkohol und Zigaretten besteuert würde. Die möglichen Grundlagen des Cannabisverbots werden in folgendem Essay erörtert.</p>
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<p class="article-content"><h2>Wodurch lassen sich gesetzlich festgelegte freiheitseinschränkende Massnahmen rechtfertigen?</h2> <p>Gemäss dem amerikanischen Philosophen Joel Feinberg lassen sich freiheitseinschränkende Massnahmen grundsätzlich dadurch begründen, dass entweder Schaden (Schadensprinzipien) oder moralisch angreifendes Handeln (moralistische Prinzipien) abgewendet werden. Dies kann zum Schutze anderer oder zum Schutze des vermeintlichen «Täters» selbst erfolgen (man spricht in diesen Fällen von paternalistischen Prinzipien) oder gar zum Schutze eines nicht spezifisch personenbezogenen Allgemeinwohls (Prinzip des gesetzlichen Moralismus). Das Verbot einer Handlung (z.B. Cannabisrauchen, Kopftuchtragen, Gotteslästerung) kann demzufolge theoretisch auch dann begründet sein, wenn niemand im engeren Sinne zu Schaden kommen kann.*<br /><br /> Es soll hier nachfolgend nicht näher auf diese moralistischen Prinzipien eingegangen werden, da diese keiner Evidenz im wissenschaftlichen Sinne bedürfen. So kann z.B. das Verbot eines bestimmten Kleidungsstückes gemäss moralistischen Prinzipien auch aus identitätsstiftenden Gründen erfolgen («Das gehört nicht in unsere Kultur»), ohne dass hierfür Evidenzen einer irgendwie schädlichen Wirkung belegt werden müssten. Es handelt sich hierbei also um ein sogenanntes Verbrechen ohne Opfer,<sup>1</sup> also ein Verbrechen ohne Corpus delicti,<sup>†</sup> eine Handlung, die sich durch den freiwilligen Austausch von Gütern und Diensten unter urteilsfähigen Erwachsenen auszeichnet.<br /> Wie liesse sich also die Prohibition des Cannabiskonsums aus gesundheitlichen Gründen rechtfertigen? Entweder (1) durch den Schaden, welchen er anderen zufügt, oder (2) durch den Schaden, den er dem Konsumierenden selber zufügt. Im ersten Fall kommt das sogenannte Schadensprinzip zum Tragen.</p> <h2>Das Schadensprinzip</h2> <p>Dieses Prinzip lautet gemäss Stuart Mill:<sup>2</sup> «Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmässig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung. Man kann einen Menschen nicht rechtmässig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. Dies sind wohl gute Gründe, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu rechten, ihn zu überreden oder mit ihm zu unterhandeln, aber keinesfalls um ihn zu zwingen [...] wenn er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, müsste das Verhalten, wovon man ihn abbringen will, darauf berechnet sein, anderen Schaden zu bringen.»<br /><br /> Gemäss diesem Prinzip wäre die Einschränkung der Freiheit durch Verbot und Bestrafung demnach nur gerechtfertigt, wenn dadurch das Risiko der Schädigung für andere gemindert oder aufgehoben würde. Dies erfordert aber nicht a priori den Erlass eines Gesetzes, geschweige denn den eines Strafrechtsgesetzes. Ein Gesetz wäre nur statthaft, falls sich das Risiko einer Schädigung für andere anders nicht mindern liesse.</p> <h2>Lässt sich die Cannabisprohibition durch das Schadensprinzip begründen?</h2> <p>Um folglich den Anbau, das Inverkehrbringen und den Konsum von Cannabis aufgrund des Schadensprinzips gesetzlich zu verbieten, müsste (1) hiermit Schaden von Dritten abgewendet werden können und (2) kein anderes Mittel hierfür zur Verfügung stehen. Da die Beweislast sowohl für Punkt 1 als auch für Punkt 2 bei den Befürwortern eines solchen Gesetzes liegt (ansonsten käme das Vorsorgeprinzip zum Zuge, siehe unten), stellt sich die Frage nach Evidenzen. Ein direkter Schaden für Dritte wären z.B. Erkrankungen durch Passivrauchen. Es liegen allerdings bis heute keine schlüssigen Daten über mögliche Risiken durch Cannabis-Passivrauchen vor, womit sich die Cannabisprohibition derzeit nicht über das Schadensprinzip begründen lässt. Hingegen könnten ein eventuelles Unfallrisiko, welches Dritte miteinbezieht (z.B. Fahrzeugunfälle), oder gar Risiken für die Allgemeinheit (z.B. durch reduzierte Arbeitsfähigkeit) als Argument gelten.<br /><br /> Auch bei Vorliegen eines solchen Risikos bedarf es gemäss dem Schadensprinzip allerdings des Vorliegens der Bedingungen 1 und 2, um eine Prohibition zu begründen. Hierzu müssten der Konsum und/oder dessen negative Auswirkungen durch das Gesetz verhindert werden können (Bedingung 1). Das natürliche Experiment der derzeitigen Prohibition belegt allerdings die Unwirksamkeit bezüglich des Konsums. Dieser ist im Verlaufe der letzten Jahrzehnte durch die Prohibition keineswegs eingedämmt worden (cf. http:// www.suchtschweiz.ch/infos-und-fakten/ cannabis/konsum/). Andere Mittel der Konsumregulierung (Bedingung 2) sind ausserdem bereits für die Regulierung anderer Suchtmittel (Alkohol, Tabak) bestens erprobt. Es lässt sich also die Prohibition medizinisch durch das Schadensprinzip nicht begründen.</p> <h2>Lässt sich die Cannabisprohibition durch das Prinzip des gesetzlichen Paternalismus begründen?</h2> <p>Gesetzlicher Paternalismus bedeutet, dass der Staat durch gesetzliche Massnahmen versucht, seine Bürger davon abzuhalten, sich selbst zu schaden. Die Frage nach der Legitimität paternalistischer Handlungen ist häufig eine Frage danach, wie weit die Sorge des Staates um das Wohl seiner a priori mündigen Bürger gehen darf. Diese Frage soll hier nicht weiter diskutiert werden, vielmehr soll erneut die Frage nach der Möglichkeit einer medizinischen Begründung gestellt werden.<br /><br /> Damit also dieses Prinzip zur Anwendung kommen könnte, müssen zumindest die drei folgenden Bedingungen erfüllt sein: (1) Cannabis-Konsum schädigt die Konsumierenden in einer für den Staat inakzeptablen Weise, (2) durch die Prohibition lässt sich der Schaden abwenden, und (3) es steht hierfür kein anderes Mittel zur Verfügung.<br /> Selbstverständlich bedarf vor allem Bedingung 1 medizinischer Evidenzen. Wir wollen im Rahmen dieser Diskussion davon ausgehen, dass Bedingung 1 durch medizinische Evidenz belegt ist, dass also der Staat ein Interesse daran hat, sich aufgrund der von der ärztlichen Forschung produzierten Datenlage paternalistisch um seine Bürger zu kümmern. Um dies mittels Prohibition zu tun, müssten allerdings auch die Bedingungen 2 und 3 erfüllt sein. Wie für das Schadensprinzip bereits beschrieben, sind diese Bedingungen nicht erfüllt. Somit erübrigt sich eine Diskussion über die Bedingung 1. Die Resultate ärztlicher Forschung bezüglich eventueller Schäden durch Cannabis vermögen ein weiteres Mal nicht die Prohibition zu begründen. Wäre übrigens eine Prohibition mit dem Selbstschädigungsrisiko effektiv begründet, müssten wohl andere psychoaktive Stoffe wie Tabak und Alkohol, die gefährlicher sind, ebenfalls verboten werden.<sup>3</sup></p> <h2>Lässt sich die Cannabisprohibition durch das Vorsorgeprinzip begründen?</h2> <p>Gemäss dem sogenannten Vorsorgeprinzip («precautionary principle»), einem Prinzip der Umwelt- und Gesundheitspolitik, sollen denkbare (aber nicht unbedingt wissenschaftlich belegte) katastrophale Schäden im Voraus vermieden oder weitestgehend verringert werden. Das Vorsorgeprinzip zielt folglich darauf ab, trotz fehlender Gewissheit bezüglich Art, Ausmass oder Eintrittswahrscheinlichkeit der Schäden vorbeugend zu handeln.<br /> Das Prinzip wird gelegentlich in der Diskussion über kausale Zusammenhänge zwischen Cannabis und Schizophrenie bemüht. So wird argumentiert, dass bei ernsten oder irreversiblen Bedrohungen für die menschliche Gesundheit wissenschaftliche Ungewissheiten nicht als Grund für den Aufschub von Präventionsmassnahmen herangezogen werden sollten. Bis vollständigere und schlüssigere Daten verfügbar sind, könnte es wesentlich sein, Entscheidungen auf der Grundlage der besten vorhandenen Beweise zu treffen. Einer der zentralen Bestandteile des Vorsorgeprinzips, auf die Cannabis- Prohibition angewandt, besteht dann darin, die Beweislast auf die möglichen Gegner der Prohibition zu verlagern. Die Gegner der Prohibition müssten beweisen, dass kein Schaden zu erwarten ist.<br /><br /> Es stellt sich nun die Frage, ob medizinisch wissenschaftliche Evidenzen, seien sie vorläufig oder allgemein anerkannt, die Cannabisprohibition über das Vorsorgeprinzip rechtfertigen können. Hierzu sollte kurz der Begriff der Datenunsicherheit analysiert werden. Es sind mindestens zwei Kategorien von Unsicherheit in der Cannabisprohibitionsdebatte zu unterscheiden: (a) Unsicherheit über die kausale Beziehung zwischen Cannabiskonsum und eventuellen Schäden und (b) Unsicherheit über das Risiko für das Auftreten solcher Schäden. Das Vorsorgeprinzip betrifft eigentlich hauptsächlich die zweite Kategorie. In der Diskussion über mögliche Cannabis-bezogene gesundheitliche Schäden betrifft die Unsicherheit jedoch fast ausschliesslich die erste Kategorie. So wurde etwa wiederholt berechnet, wie viele Fälle psychotischer Störung verhindert werden könnten, wenn der Cannabiskonsum bei gefährdeten Jugendlichen verhindert würde. Zum Beispiel haben Arseneault et al. berechnet, dass die Eliminierung des Cannabiskonsums die Inzidenz von Schizophrenie um etwa 8 % reduzieren würde – unter Annahme einer kausalen Beziehung.<sup>4</sup> Somit ist die zweite Unsicherheitskategorie, die das Ausmass unerwünschter Konsequenzen betrifft, in diesem Fall nicht mehr relevant. Es wären 8 % , wenn die Prohibition wirksam wäre.<br /><br /> Vorsorgemassnahmen zielen letztlich darauf ab, die Exposition gegenüber dem potenziellen Risiko kontinuierlich zu reduzieren und wenn möglich zu beseitigen. Ein weiterer Grund, weshalb das Vorsorgeprinzip im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen kann, ist der Umstand, dass die mögliche Risikobelastung bereits hoch ist. Trotz Prohibition haben in der Schweiz fast 50 % der 20- bis 40-jährigen Männer 2012 schon mindestens einmal konsumiert (cf. http://www. suchtschweiz.ch/infos-und-fakten/cannabis/ konsum/).<br /> Selbst wenn man die Hypothese Cannabis- induzierter volksgesundheitlich relevanter Schäden akzeptiert, lässt sich durch Prohibition dieses Risiko nicht verhindern. Es könnte nun argumentiert werden, dass ein Verbot die weitere Verbreitung des Cannabiskonsums verhindert. Jüngste epidemiologische Daten zur Cannabiskonsum-Prävalenz nach Cannabislegalisierungen in gewissen Staaten der USA stützen diese Hypothese jedoch eindeutig nicht.<sup>5</sup><br /><br /> Schliesslich kommen auch beim Vorsorgeprinzip die zwei bereits oben beschriebenen Bedingungen zur Anwendung: (1) Durch die Prohibition lässt sich der Schaden abwenden, und (2) es steht hierfür kein anderes Mittel zur Verfügung.</p> <h2>Schlussfolgerungen</h2> <p>Aus oben Gesagtem folgt, dass sich die Cannabisprohibition durch medizinische Evidenzen über Cannabis-bezogene Schäden nicht stützen lässt. Ein Verbot aus moralistischen Gründen bedarf hingegen keiner medizinischen Evidenz – allerdings einer Begründung, wieso ausgerechnet der Konsum von Cannabis unmoralisch sein soll. * Feinberg selber lehnte Beleidigungsprinzipien als Strafrechtsgrundlage im Übrigen nachdrücklich ab.<br /><br /> <sup>†</sup>Andere solche «Verbrechen ohne Opfer» könnten z.B. Homosexualität, Pazifismus, Prostitution, Sterbehilfe oder Pornografie sein. Man könnte hier von einer Kriminalisierung der Lebensstile sprechen, die durch den Nationalsozialismus tragische Berühmtheit erlangt hat.</p></p>
<p class="article-footer">
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<p><strong>1</strong> Hall GE: Crimes without victims. Deviant behavior and public policy: Abortion, homosexuality, drug addiction. JAMA 1965; 192: 1016 <strong>2</strong> Mill JS: Über die Freiheit. Ditzingen: Reclam, 1974 <strong>3</strong> Domenig D, Cattacin S: Sind Drogen gefährlich? Gefährlichkeitsabschätzungen psychoaktiver Substanzen. I.A. der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen (EKDF). Genève: Université de Genève (Sociograph - Sociological Research Studies, 22a); 2015 <strong>4</strong> Arseneault L et al.: Causal association between cannabis and psychosis: examination of the evidence. Br J Psychiatry 2004; 184: 110-7 <strong>5</strong> Dills A et al.: Dose of reality: the effect of state marijuana legalizations. Cato Institute Policy Analysis Series No 799; September 16, 2016</p>
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