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Herzrasen beim Zahnarzt
Leading Opinions
30
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01.09.2016
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<p class="article-intro">Menschen mit Zahnarztangst kann eine Konfrontationstherapie helfen, die Angst loszuwerden.</p>
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<p class="article-content"><p>Dass manche Menschen Schweissausbrüche, Atemnot oder gar Todesangst beim Zahnarzt bekommen, kann viele Ursachen haben. Michael Rufer, Professor für Psychiatrie am UniSpital Zürich, erklärt, was dabei im Hirn passiert und wie man die Angst verlernen kann.<br /> <br /> <strong>Herr Rufer, 15,4 Prozent der Frauen und 5,1 Prozent der Männer haben eine spezifische Phobie<sup>1</sup>, also Angst vor Objekten wie Spinnen oder einer bestimmten Situation – etwa dem Zahnarztbesuch. Warum ist das so?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Das kann unterschiedliche Ursachen haben, oft kommt vieles zusammen: Traumata in der Kindheit sind möglich, Erziehung mit zu wenig Geborgenheit oder überfordernde Situationen als Erwachsene. Wie viele Leute Zahnarztangst haben, wissen wir nicht genau, dazu gibt es keine verlässlichen Studien.<br /> <br /><strong> Wie äussert sich die Angst?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Unterschiedlich. Manche haben Angst vor Schmerzen, andere davor, bei einer Spritze ohnmächtig zu werden. Im Extremfall sieht das so aus wie bei meiner 34-jährigen Patientin neulich: Schweissausbrüche, Herzrasen, Todesangst, Atemnot und Ohnmachtsgefühle. Bei der Frau wurde die Angst vermutlich durch mehrere schreckliche Erlebnisse verursacht. 1999 war sie überfallen worden, ihr Kiefer war gebrochen, mehrere Zähne waren ausgefallen. Es kamen noch weitere belastende Lebensereignisse hinzu, unter anderem ist ein enger Angehöriger plötzlich bei einem Unfall gestorben. Kurz bevor sie zu mir kam, sollte ihr ein Abszess im Kiefer entfernt werden, was sie aber ablehnte, weil sie so grosse Angst davor hatte.<br /> <br /><strong> Was passiert im Hirn?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Die Hauptrolle spielt die Amygdala, der Mandelkern: Wenn wir eine Situation als gefährlich bewerten – auch wenn sie das wie beim Zahnarzt nicht ist –, gelangt diese Information blitzschnell an die Amygdala. Daraufhin werden Stresshormone ausgeschüttet, die die typischen Angstsymptome auslösen.<br /> <br /><strong> Wie helfen Sie den Betroffenen?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Eine Psychotherapie kann die überschiessende Angstreaktion verändern. Das Gehirn „lernt“, auf die Situation beim Zahnarzt nicht mehr mit Angst zu reagieren. Die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition schnitt in Studien am besten ab. Ziel der Exposition ist, dass sich der Patient der Angst so lange aussetzt, bis sie nachlässt (siehe Abb. 1). Eine Besonderheit bei Ängsten vor Spritzen ist, im Unterschied zu anderen Angststörungen, dass die Patienten tatsächlich ohnmächtig werden können. Sie lernen daher vorher auch eine Methode, die das verhindert, die sogenannte angewandte Entspannung. Dabei spannt man verschiedene Muskeln für mehrere Sekunden an, um den Blutdruck zu erhöhen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1604_Weblinks_Seite28.jpg" alt="" width="708" height="595" /></p> <p><strong>Gehen Sie mit zum Zahnarzt?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Ja, ich versuche das. Aber das geht nicht immer. Dann erkläre ich dem Patienten, dass er wenn irgend möglich die Angstkurve erleben muss. Er soll seine Gedanken und Gefühle zulassen und seine Körperreaktionen beschreiben. Er kann sie zum Beispiel in einem Heft notieren oder mit dem Zahnarzt darüber sprechen. Erleben die Patienten, dass die Angst zurückgeht, auch wenn sie nicht aus dem Sprechzimmer rennen, sind sie sehr erleichtert und stolz, es geschafft zu haben.<br /> <br /><strong> Ist die Therapie immer erfolgreich?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Etwa 80 bis 90 Prozent der Patienten mit spezifischen Phobien profitieren erheblich von dieser Art der Psychotherapie.<sup>3</sup><br /> <br /><strong> Wie lange dauert die Therapie?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Das kommt darauf an, was für Probleme der Patient neben der Angst hat. Wenn Angst das Hauptproblem ist, reichen oft schon wenige Sitzungen. <br /> <br /><strong> Wie reagierte Ihre Patientin?</strong><br /> <strong>M. Rufer:</strong> Sie bekam grosse Angst, als wir gemeinsam zum Zahnarzt gingen, aber diese legte sich in der Situation. Bei den Spritzen wurde sie nicht ohnmächtig, sondern begann heftig zu weinen und sagte: „Mir darf keiner wehtun.“ Das waren die Gefühle, die sie früher, in Zusammenhang mit dem Überfall, hatte, und darüber redeten wir dann in den Wochen nach der Exposition in meiner Sprechstunde. Sie lernte, dass sie nicht immer perfekt sein muss, sondern auch einmal Schwächen zeigen darf. Das war ein weiterer Grund gewesen, warum sie jahrelang nicht zum Zahnarzt gegangen war: Sie wollte die Angst verstecken, schämte sich dafür. Als sie jetzt ihrem Zahnarzt davon berichtete, reagierte er sehr verständnisvoll, was ihr sehr dabei half, nun regelmässig zu ihm zu gehen. Zahnärzte können Leuten mit Zahnarzt­angst viel helfen.<br /> <br /><strong> Vielen Dank für das Gespräch!</strong></p></p>
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<p><strong>1</strong> Bandelow B et al: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen. <a href="http://www.awmf.org/leitlinien.html" target="_blank">www.awmf.org/leitlinien.html</a> <br /><strong>2</strong> Öst L-G: Spezifische Phobien. In: Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 2: Störungen im Erwachsenenalter. Hg.: Margraf J, Schneider S., Springer 2009 <br /><strong>3</strong> Rufer M et al: Stärker als die Angst. Ein Ratgeber für Menschen mit Angst- und Panikstörungen und deren Angehörige. Bern: Huber, 2. Auflage 2016</p>
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