
Harm Reduction bei Suchterkrankungen
Autor:
Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA
Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik
Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich
St. Pölten
E-Mail: Bernhard.Rupp@aknoe.at
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Der Umgang mit suchterzeugenden Substanzen ist seit jeher ein politisches Thema. Im Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Selbstbestimmung versuchen aktuell die Länder Deutschland (zu Cannabis) und Österreich (zu Tabak und Nikotin), neue – auch schadensmindernde – gesetzliche Regelungen auf den Weg zu bringen.
Drogenpolitik und Drogenwirtschaft
Der Umgang mit bestimmten Substanzen betreffend Produktion, Handel und Konsum scheint der (europäischen) Politik seit dem 16. Jahrhundert und insbesondere seit dem 20. Jahrhundert zunehmend steuerungsbedürftig zu sein.1 Zur Liste dieser Substanzen gehören Met, Bier, Hanf, Opium, Peyote, Meskalin, Tabak, Myrrhe, Weihrauch, Kaffee, Tee, Betel, Khat, Kokablätter und neuerdings auch Medikamente wie Valium, Benzos oder Oxycontin.
Die Zielsetzungen derartiger Steuerungsbestrebungen sind nicht einheitlich und reichen von der ausdrücklichen Förderung oder Subventionierung bestimmter (legaler) Drogen über Verbote bestimmter anderer Substanzen, die Repression politischer Opposition bis hin zur Durchsetzung einer „drogenfreien Gesellschaft“. Trotz aller politischer Bemühungen zur Durchsetzung einer „drogenfreien Gesellschaft“ scheint die Verwendung von bewusstseins-verändernden Substanzen nach wie vor ein fundamentales Bedürfnis vieler Menschen zu sein. Sie werden aus spirituellen Gründen konsumiert, ebenso wie als Fluchtmittel aus belastenden persönlichen und gesellschaftlichen Zuständen.
Drogenpolitik ist ständig am Schnittpunkt mit anderen Politikbereichen, z.B. Außen-, Wirtschafts-, Innen-, Sozial- oder Gesundheitspolitik, und steht unter dem Einfluss verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Interessen. Die Gemengelage unterschiedlicher Interessen bestimmte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Entstehung des globalen Drogenverbots, das auch unseren heutigen Umgang etwa mit Heroin, Kokain und auch Cannabis prägt.
Bei illegalen Drogen besteht nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in politischen Kreisen etwa in der Schweiz, Deutschland und Österreich ein grundsätzlicher Konsens zum Konzept der „harm reduction“2, wiewohl immer wieder in der nationalen Politik Rückfälle zur Rekriminalisierung und Ächtung Suchtkranker zu beobachten waren – etwa bei der Diskussion, wer denn (rasch und ohne den Nachweis eines bereits eingetretenen beträchtlichen Leberschadens) in den „Genuss“ innovativer hochwirksamer, aber extrem teurer Hepatitistherapien kommen „darf“.
Legalize Cannabis?!
Um den Schwarzmarkt mit seinen unter Umständen gesundheitsgefährdenden illegalen Produkten zurückzudrängen und die Jugend zu schützen, unternimmt die Bundesrepublik Deutschland in Sachen „harm reduction“ derzeit (Oktober 2022) einen bemerkenswerten Schritt: Erwachsene sollen in Deutschland künftig Cannabis kaufen, besitzen und konsumieren dürfen – entsprechende Pläne hat das deutsche Bundeskabinett gebilligt. Dem Kabinettsbeschluss zufolge sollen Cannabis und der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden.3 Erwerb und Besitz von bis zu 30 Gramm „Genusscannabis“ sollen straffrei, privater Eigenanbau in begrenztem Umfang erlaubt und ein Verkauf an Erwachsene in lizenzierten Fachgeschäften und möglicherweise auch Apotheken ermöglicht werden.
Die deutsche Bundesregierung beschreibt in ihrem Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken auch die verzwickten völker- und europarechtlichen Hürden, die auf dem Weg zum Ziel, Cannabis und THC künftig nationalrechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel einzustufen, zu überwinden sein werden (bei ungewissem Ausgang dieses Unterfangens).
Erhöhung des Substitutionsdrucks und Kostensteigerung als „magic bullet“?
Cannabis ist in Österreich im Moment (noch) kein großes Thema auf der politischen Agenda. Das Gesundheitsministerium in Österreich ist zurzeit mit großer Strenge in Sachen Tabak und Nikotin unterwegs und bereitet den Versuch vor, Millionen tabak- und nikotinproduktekonsumierenden Österreicher*innen drastisch ihr suchtkrankes Verhalten vor Augen zu führen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Umbenennung des „Tabak- und Nichtraucherinnen- bzw. Nichtraucherschutzgesetzes“ zum „Tabak- und Nikotinsucht-Gesetz“. Der Industrie soll mit neuen administrativen Auflagen das Inverkehrbringen legaler und risikoreduzierter Produkte erschwert werden – zum gesundheitlichen und finanziellen Nachteil der Konsu-ment*innen.
Aus Sicht der Wirtschaft wäre es nicht nachvollziehbar, wenn jetzt, Anfang 2023, ein neues Gesetz diskutiert werden sollte, denn das Tabakrecht sei durch die Tabak-Produktrichtlinie 2014/40/EU („TPD2“) in weiteren Bereichen europarechtlich vollharmonisiert, sodass insoweit für die Mitgliedstaaten kaum Spielräume für Ergänzungen verblieben. Weiters wird argumentiert, dass in absehbarer Zeit die Erlassung einer neuen Tabak-Produktrichtlinie der EU zu erwarten sei. Österreich wäre daher in naher Zukunft erneut verpflichtet, die jetzt angedachte Gesetzesnovelle wieder zu ändern. Bis dahin würden den Herstellern, Zulieferern und den Trafikant*innen erhebliche Kosten entstehen bzw. würden aufgrund dieser überbordendenden Regeln hohe Verluste drohen. Mit ein Grund wäre, dass sich Österreich im negativen Sinne von allen Mitgliedstaaten in unmittelbarer Nähe abheben und dadurch die legale und illegale Einfuhr von Produkten aus den unmittelbaren Nachbarstaaten massiv befeuern würde.
Das geregelte Sicherstellen zeitnahen Inverkehrbringens legaler innovativer risikoreduzierter Produkte wäre auch aus Sicht verhaltensveränderungswilliger Raucher*innen eine wichtige Harm-Reduction-Option.
Ebenso wichtig ist aus Sicht der Gesundheitspolitik und der Konsument*innen die Vermeidung von durch die Novelle befürchteten Preissteigerungen und des damit verbundenen Drucks zur Substitution teurer legaler Produkte in Österreich durch billigere illegale Einfuhr von (unkontrollierten) Produkten aus den unmittelbaren Nachbarstaaten.4
Public Health vs. Gesundheitsförderung
Bei Alkohol und besonders auch bei Tabak und Nikotin (und dem Thema „harm reduction“) werden ideologische (oder auch religiös begründete) Bruchlinien nach wie vor ganz deutlich sichtbar.a Wie Uhl5 zutreffend bemerkt, finden wir zwei diametrale Grundpositionen in der Alkoholpolitik (und meines Erachtens auch in der Tabakpolitik). Die Position, die im protestantisch geprägten Nordeuropa und in Teilen der englischsprachigen Welt vorherrscht, könnte man als „restriktiven Ansatz“ bezeichnen, dem ein „liberaler Ansatz“ in den katholisch und christlich-orthodox geprägten Regionen Europas gegenübersteht.
Der restriktive Ansatz sieht jeglichen Alkoholkonsum negativ und handelt nach dem Motto „Weniger ist besser“, während der liberale Ansatz einen moderaten Alkoholkonsum neutral bis positiv bewertet und sich – nach dem Motto „Konsumiere Alkohol verantwortungsbewusst“ – ausschließlich gegen den exzessiven Alkoholkonsum wendet. Zur Untermauerung des liberalen Ansatzes gibt es auch Fotos eines katholischen Papstes, der eine Trockenbeerenauslese segnet, im Internet.6
Uhl bezeichnet den restriktiven Ansatz, der den Alkoholkonsum aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen einschränken möchte, als „Bevölkerungsansatz“ (oder auch als „Public-Health-Ansatz“). Der liberale Ansatz orientiert sich hingegen an den Gesundheitsförderungsgrundsätzen der Ottawa Charta (1986) mit dem Ziel, Menschen dazu zu befähigen, gesunde Entscheidungen zu treffen, ihnen aber nicht vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Daher sei es auch legitim, den liberalen Ansatz als „Gesundheitsförderungsansatz“ zu bezeichnen.5,7
Versöhnung der Ansätze und Versachlichung der Diskussion
Der – auch eher österreichkompatible – synthetische Ansatz folgt dem Motto „Weniger (oder weniger schädlich) ist besser – und ich bin befähigt, im Wissen darüber bessere (gesündere) Entscheidungen zu treffen, und niemand schreibt mir vor, wie ich mich zu verhalten habe“. Im Versuch, Glaubenskriege und manichäische Dispute im Feld der Gesundheitsförderung und Prävention zu vermeiden, scheint dieser Ansatz eine tragfähige Basis für die kommenden gesundheitspolitischen Gesundheitsförderungs- und Präventionsdiskussionen zu sein.
Aus einem Cartoon ...
Ärztin:
Das Beste für Sie wäre der Verzicht auf Alkohol und Zigaretten.
Patient:
… und das Zweitbeste?
Für künftige sachliche Diskussionen wird die Generierung und redliche Anwendung von wissenschaftlicher Evidenz in der Auseinandersetzung der Wissenschaft mit der Politik notwendig sein. Auch die Rolle der Ärzt*innen muss neu ausgerichtet – oder eigentlich erst gefunden – werden. Als Beratungsstellen erscheinen Dealer*innen, Winzer*innen oder Trafikant*innen vergleichsweise weniger geeignet. Weiters muss es moderner Gesundheitspolitik endlich gelingen, die Selbstbestimmungsfähigkeit der Menschen zu respektieren. Paternalistische Konzepte des Wegsperrens, Verbietens und Bestrafens können, quod erat demonstrandum, nur eine gewisse Zeit lang mit massiver Polizeigewalt und unter Inkaufnahme gewaltiger Vertrauensverluste der (Gesundheits-)Politik durchgesetzt werden. Dann schwindet die Normentreue der Normadressat*innen nachhaltig.
Nachsatz
Wilhelm Busch hat schon geschrieben: „Es ist bekannt seit alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.“8
Mittlerweile ist es nicht mehr ernstlich möglich, die dringende Notwendigkeit der politischen Gestaltung gesunder sozialer Verhältnisse zu leugnen, aber das ist eine andere Geschichte (Fortsetzung folgt).
a Zum Thema Alkohol und Harmreduktion sei auf die antike Tradition des Symposions (Trinkgelage) der griechischen Oberschicht verwiesen. Wein wurde immer nur (mit Wasser) verdünnt getrunken. Puren Wein zu trinken galt als barbarisch. Vgl. J. Robinson (Hg.): Wine. In: The Oxford Companion to Wine. 3. Aufl. Oxford: 2006. 326-9
Literatur:
1 Wölfl aus Sarajevo A: Der „Türkentrank“, der zur Rebellion anstiftete. Der Standard, 24.Jänner2016; https://www.derstandard.at/story/2000029585947/der-tuerkentrank-der-zur-rebellion-anstiftete 2 Harm reduction international: https://www.hri.global/what-is-harm-reduction 3 Bundeskabinett Deutschland: Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken. Bundesministerium für Gesundheit 2022; https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunktepapier_Abgabe_Cannabis.pdf 4 Felsinger R, Groman E: Price policy and taxation as effective strategies for tobacco control. Front Public Health 2022; 10: 851740 5 Uhl A: Alkoholprobleme und Alkoholpolitik. Deutscher Bundestag 2021; https://www.bundestag.de/resource/blob/825382/126c43beb1117ff4b6be7b3f6f1627ec/19_14_0292-10-_ESV-Prof-Dr-Alfred-Uhl_Alkoholpraeventionsstategie-data.pdf 6 https://www.meaus.com/papst-wein-vogel.htm 7 Uhl A et al.: Guest Editorial: Alcohol policy and evidence. Drugs and Alcohol Today 2021; 21(1): 1-5 8 Busch W: Die fromme Helene. https://www.projekt-gutenberg.org/wbusch/helene/heleneg1.html
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