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In Würde altern

Die Freuden des Alters

Nach zwei Büchern zum Alter („Lust auf Alter“, „Taubenfüttern ist nicht genug“) wurde ein über 70-jähriger Kinderarzt zum Kongress für Alterspsychiatrie und -psychotherapie eingeladen. Die Gedanken des Autors zielen auf Umkehr, Versöhnung und Demut ab.

Keypoints

  • Das Dasein ist endlich. Sich davor zu fürchten normal.

  • Die Bewältigung der Furcht liegt im Geben und in der Akzeptanz.

  • Anhand von Literatur werden Beispiele für Angstbewältigung und Akzeptanz demonstriert.

  • Nicht Hoffnung machen, sondern Akzeptanz des Unausweichlichen ist die Kur, Heilung ist nur Ihm gegeben.

Zu meiner eigenen Überraschung habe ich eine Einladung zum Jahreskongress der Österreichischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie erhalten. Das ist insofern überraschend, als ich Kinder- und Jugendfacharzt in Pension bin und mich nur durch zwei Bücher,1,2 die auch autobiografische Züge tragen, mit dem Altern auseinandergesetzt habe. Nichtsdestotrotz bin ich Dilettant in der guten wie schlechten Bedeutung des Wortes: Liebhaber und laienhafter Betrachter. Bei der Tagung war ich wie jede und jeder eine/ein Schauspieler*in. Wie F. Grillparzer sagt: „Wir alle spielen, wer’s weiß ist klug!“ Der Unterschied zur/zum Schauspieler*in besteht darin, dass Laien die Maske nie ablegen können. Der Moment des Abschminkens ist nicht klar, bei den Alten kann die Maske mit dem Gesicht verwachsen, sodass sie von innen als Schutz und von außen als hartgewordenes Gesicht imponiert.

R. M. Rilke beschreibt in seinem Prosatext „Malte Laurids Brigge“, wie Menschen mit ihren Gesichtern umgehen:

„Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“ 3

R. M. Rilke war 1905 Lernender bei Auguste Rodin, von dem er „sehen“ lernen wollte. Am Anfang des „Malte“ erfahren wir, wie der Dichter in bitterer Armut mit sich öffnenden Augen Gesichter betrachtet. Die Benutzung des Gegebenen, die Abnutzung sieht er und kann sie in Worte kleiden. Alte sind wie Kinder, wie Jugendliche unbelastet von den Sorgen des Alltags, aber sie haben keine Zukunft. Es ist wie eine zweite Jugend – nur ohne Zukunft. Insofern ist der Vergleich der Alten mit den Kindern zulässig. In vielen Empfindungen werden sie wie die Kinder: Schmerzen verbreiten sich schnell über den ganzen Körper – Allodynie –, das Auge tränt leicht und es bedarf nicht viel, damit sie betroffen oder gerührt sind.

Die reale und die psychische Haut werden dünner – Kränkungen geschehen leicht und oftmals unabsichtlich. Versöhnungen sind schwer. Auch in der Partnerschaft sind Versöhnungen nicht mehr so einfach, Behaarung und Geruch sind wenig einladend, Pheromone versiegten. Brüste gingen verloren, die Prostata wuchs, der weibliche Bart sprießt, der männliche wurde weiß und die Haut – jetzt muss Schluss sein, sonst tritt Ekel auf.

Da antwortet Matthäus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (18:3) Es geht um Umkehr. Umkehr ist die Aufforderung, sein Leben noch in Ordnung zu bringen, bevor es zu spät ist. Hienieden umzukehren, bevor man sich dem göttlichen Gericht zu stellen hätte, alles zu vergessen, was einen ablenken könnte: Geld, Besitz, Macht, Ruhm – irdischer Tand, der vor dem ewigen Richtstuhl nichts gilt. Seine Angelegenheiten zu ordnen, reinen Tisch zu machen, sich zu läutern, seinen Frieden zu machen und wahrhaftig zu werden. Wie leicht ist das gesagt und wie schwer gemacht! Hat man nicht einer jeden und einem jeden eingebläut, dass sie/er nicht alles sagen darf? Hat man das vorlaute Kind nicht gescholten, schlechtgemacht? Erwachsenwerden eingefordert, Verantwortungsübernahme und gesellschaftlich angepasste Verlogenheit anerzogen. Und nun soll die/der Alte wieder ehrlich werden und edel. Schwarze Pädagogik, die das Schlechte vor dem Guten sieht, fehlerzentrierte Wahrnehmung und Härte gegen sich und andere sind aber die erlernten Verhaltensweisen. Leider geht’s aber nicht anders: Die Aufgabe der Alten ist es, wieder wie die Kinder zu werden: einfach und wahrhaft. Allerdings stellen sich dieser Entwicklung heute große Hindernisse entgegen: Religion gibt vielen Menschen keine Antworten mehr auf die letzten Fragen. Weder wird an die unmittelbare Auferstehung laut dem römischen Katholizismus geglaubt noch an das ewige Gericht. Stattdessen haben Ärzt*innen den Platz der Priester*innen eingenommen und sollen ewiges Leben garantieren. Wir tauschen Gelenke und Herzkranzgefäße aus und machen solche Fortschritte, dass man bald hundert Jahre alt werden wird. Der Preis, den die Patienten zahlen, sind oft Einsamkeit, Unbeweglichkeit, Armut und Demenz. Dabei empfinden sie durchaus, dass sie wie die Kinder im Weg stehen, nur dass sie nicht mehr herzig sind. Ihre faltigen Gesichter lösen keine Freude aus, sie zeigen kein Kindchenschema und ihr Kindwerden – mit oder ohne Umkehr – erfreut nicht. Vor allem die Alten nicht. Sie können einander nicht leiden, zu sehr sehen sie im anderen sich selbst. Nichts scheint zu helfen – außer vielleicht doch:

Geben und Nehmen

Etwas haben die Alten noch und das muss verschwendet werden. Sie sollen weder mit sich noch mit den Gütern sparen. Das sagt sich leicht. Ich kann’s nicht. Ich will behalten, meine Ängste durch Besitz abwehren, außerdem mag ich meine Besitztümer. Sicher, ich leihe sie her: Meine Tochter und mein Sohn empfinden mein kleines Badehäuschen als ihres. „Zum Schluss bleibt einem nur, was man hergeschenkt hat!“, war Rudolf Stolz’ Lebensmotto. Der, der mit leeren Taschen vor Seinem Gericht steht, ist der Leichtere, Freiere. Denn in jedem Moment des Lebens, nach dem Erreichen des achten Lebensjahrzehnts sowieso, sollte an das Memento mori gedacht werden. Das Leben geht dem Ende zu. Geben und Kind werden, reden und wahrhaftig sein – das sind die Anforderungen ans Alter.

Leben aus der Zukunft

Dem philosophisch gebildeten Kardiologen Robert Gasser verdanke ich den Hinweis, dass wir alle aus der Zukunft leben können. Denn wir wissen um die Sterblichkeit. Jeder Tag kann der letzte sein und wenn wir am Ende unseres Lebens resümieren, sollten wir heute wissen, woran wir unsere Taten messen werden. Wir können uns täglich fragen, ob das oder jenes, was wir gerade machen oder planen, diesem Ziel entspricht. Wir können jede unserer Handlungen und Gedanken darauf untersuchen, ob sie als richtig angesehen werden. Dazu müssen wir nicht wissen, wie lange das Leben dauert. Es reicht zu wissen, dass es endlich ist. Von dort, aus der letzten Perspektive, schauen wir aufs Heute. Im Alter steht alles auf dem Prüfstand. Daher gilt es, wachsam zu sein: darauf zu achten, ob man etwas später als richtig ansehen wird. Wenn das positiv beurteilt wird, entsteht Fröhlichkeit. Im Wissen, dass man das Richtige macht. Dabei muss man aber hart urteilen, unnachsichtig sein. Vielleicht ist das der Beginn der Weisheit? Es geht nicht um den Erhalt der Gesundheit und Arzttermine, es geht nicht um den Erhalt des Geldes, es geht nicht um den nächsten Urlaub oder um Bewegung und Sport, Fitness oder gesundes Essen, sondern nur um das, was in den letzten Minuten zählen wird. Auf was werde ich zurückblicken wollen?

A. Tschechows „Krankenzimmer Nummer 6“ – was kann noch Schlimmeres drohen?

Dr. Ragin, Arzt einer Provinzkrankenanstalt, weiß um die furchtbaren Zustände in der dem Spital angeschlossenen Psychiatrie. Er lässt Nikita als „Pfleger“ schalten und walten, wie er will: Nikita stiehlt das Heizmaterial, Kranke erfrieren, ein Patient wird zum Betteln in die Stadt geschickt, das Geld wird ihm weggenommen und versoffen. Widerstände bricht der Pfleger mit Faustschlägen. Dr. Ragin besucht einmal aus Langeweile den jungen Adeligen I. D. Gromow, der wegen seiner Angst vor dem Gulag eingeliefert wurde. Er heilt ihn mit dem Satz: „Was könnte dort noch schlimmer sein, als es hier ist?“

Mir erscheint dieser Satz – bei aller Tragik, die in dem Buch beschrieben wird – ein Heilungssatz für viele Krankheiten und Beschwerden. Die Zukunftsängste beziehen sich bei Alten auf Verschlechterungen ihres Gesundheitszustands und die Angst vor zunehmender Demenz, deren Vorboten sie erleben. Angst vor der Verschlechterung des Zustands, der Leistungsfähigkeit, vor Abhängigkeit. Alles wird eintreten. Insofern ist der Gedanke an die Zukunft selbst toxisch.

Nach einem Vortrag bei der 10. Alterspsychiatrische Tagung der ÖGAPP, 24. Juni 2022, Wien

1 Peter Scheer: Taubenfüttern ist nicht genug. Warum Älterwerden Spaß macht. Wien: Metro, 2012 2 Peter Scheer: Lust aufs Alter. Unkonventionelle Gedanken über das Älterwerden. Wien: Falter, 2020 3 https://www.sterneck.net/literatur/rilke-gesichter/index.php , gesehen am 9.6.2022

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