
©
Getty Images/iStockphoto
Depressionsbehandlung: Bewährtes und Neues
Leading Opinions
30
Min. Lesezeit
30.08.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Es ist der Alltag jedes Psychiaters: Menschen mit Depressionen zu behandeln. Doch das kann ziemlich frustrierend sein. Bei vielen wirkt die Therapie nicht, die Depression rezidiviert oder wird chronisch und die Betroffenen leiden unter Komorbiditäten. Wie man therapeutisch vorgeht, um eine Remission zu erreichen, und was es für neue Behandlungsansätze gibt, berichtete Dr. med. Joe Hättenschwiler am Update Refresher Psychiatrie in Zürich.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Depressionen gelten als Volkskrankheiten: Jeder fünfte Mensch erkrankt irgendwann in seinem Leben daran,<sup>1</sup> die 12-Monats-Prävalenz liegt je nach Patientenpopulation zwischen 7,5 und 13 % .<sup>2–4</sup> Bei jedem dritten Patient dauert eine Episode länger als zwei Jahre, sodass sie gemäss DSM-5 der neuen Kategorie «persistierende depressive Störung» entspricht. «Dass das neu ist, müssen wir den Versicherungen sagen», findet Dr. med. Joe Hättenschwiler. «Denn die Dauer der Depression mit ihren komplexen Auswirkungen hat grossen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit und auch auf den Therapieansatz, wobei dann klar ist, dass die Patienten eine länger dauernde Therapie brauchen. » Hättenschwiler ist Leiter des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung in Zürich, wo jede Woche Dutzende von Patienten mit Depressionen behandelt werden. «Das Problem ist, dass Depressionen oft therapieresistent sind und häufig mit somatischen oder anderen psychischen Krankheiten einhergehen – das macht die Behandlung schwierig.» Depressionen seien nicht nur eine enorme Belastung für die Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch für das Gesundheitssystem.<br /><br /> Mehr als zehn Milliarden Franken kosten Depressionen pro Jahr, hat Hättenschwiler vor ein paar Jahren gemeinsam mit Wissenschaftlern vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin in Zürich ausgerechnet. <sup>5</sup> Von den zehn Milliarden Gesamtkosten machen 46 % direkte Kosten aus für die Behandlung und 54 % indirekte, etwa für Arbeitsausfälle. «Das ist enorm viel», sagte Hättenschwiler. «Dabei haben wir heute bewährte Behandlungsstrategien, die aber oft nicht voll ausgeschöpft werden.» Bei der Therapie hake es an mehreren Stellen: «Die Depression wird nicht oder zu spät erkannt. Wenn sie erkannt wird, bekommen die Patienten dennoch oft keine Behandlung. Werden sie therapiert, dann oft nicht richtig. Werden sie richtig behandelt, dann aber häufig nicht lange genug – diese Zustände sind inakzeptabel!» Es sei davon auszugehen, schätzt der Psychiater, dass maximal 1 von 5 Patienten eine leitliniengerechte Therapie erhält. Dabei gibt es hilfreiche Behandlungsempfehlungen, u.a. von der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression SGAD in Zusammenarbeit mit der SGBP und SGPP. Darin sind die Therapiestrategien erläutert und auch in Algorithmen auf einen Blick zu erkennen (Abb. 1).<sup>6, 7</sup><br /><br /> Grundsätzlich gibt es vier primäre Behandlungsstrategien: Aktiv abwartende Begleitung, Psychotherapie, Medikamente oder eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten. Das kurzfristige Ziel der Akutbehandlung ist die Remission: «Der Patient soll psychopathologisch, psychosozial und beruflich möglichst wieder seine Funktion von früher erreichen», erklärte Hättenschwiler. Mittelfristig sollen mit der Erhaltungstherapie Restsymptome beseitigt, der Patient auf das frühere Niveau rehabilitiert und Rückfälle vermieden werden. Mit der Rezidivprophylaxe sollen dann als langfristiges Ziel neue depressive Episoden vermieden werden. «Die Verhinderung von Rückfällen und die Rezidivprophylaxe werden hierzulande immer noch vernachlässigt», so Hättenschwiler. «Nicht nur weil der Arzt die Medikamente zu früh abgesetzt oder keine Psychotherapie mehr verschreibt, sondern auch weil die Patienten mit der Therapie aufhören, weil sie sich besser fühlen.» Wird eine Remission nicht erreicht, habe das aber enorme Konsequenzen: Komorbiditäten verschlechtern sich, die Patienten haben mehr residuale Symptome, kommen im Alltag nicht so gut klar, ihre Lebensqualität sinkt, das Rückfallrisiko steigt und es finden sich sogar Hinweise, dass die graue Substanz im Gehirn abnimmt (Abb. 2).<sup>8–13</sup><br /><br /> Die Wahl der Therapie richtet sich nach der Schwere der Symptome, dem Erkrankungsverlauf und der Präferenz des Patienten. Bei leichter Depression kann man dem Patienten durchaus eine aktiv abwartende Begleitung vorschlagen. «Man muss aber dabei bedenken, dass viele Patienten schon lange still abwarten, weil sie nicht zum Arzt gegangen sind oder die Depression nicht erkannt wurde», gab Hättenschwiler zu bedenken. Daher sei es wichtig, keine Zeit zu verlieren. Bessern sich die Beschwerden innert zwei Wochen nicht, sollte man zu einer Psychotherapie oder Pharmakotherapie raten. Bei einer mittelschweren Depression beginnt man gleich mit Psychotherapie oder Pharmakotherapie, bei einer schweren kombiniert man von Anfang an beides. Nicht einfach sei die Wahl des passenden Antidepressivums, gab Hättenschwiler zu. «Es gibt wenig Evidenz, welches Präparat bei welchem Patienten am besten wirkt. Im Prinzip muss man ausprobieren und wenn es nicht wirkt, frühzeitig auf ein anderes umstellen.»<br /><br /> Viel diskutiert wurde am Update Refresher die Metaanalyse von Prof. Andrea Cipriani von der Universität Oxford, die im Februar im «Lancet» veröffentlicht wurde.<sup>14</sup> Alle der 21 untersuchten Antidepressiva wirken besser als Placebo, aber es zeigten sich Unterschiede in der Wirksamkeit je nach Präparat: Eine grössere Effektstärke zeigten zum Beispiel Vortioxetin, Bupropion und Escitalopram, eine schwächere Wirkung Fluoxetin, Fluvoxamin und Trazodon. «Man kann jetzt aber nicht pauschal sagen, dass jeder Patient Vortioxetin, Bupropion oder Escitalopram bekommen soll, weil diese am besten abgeschnitten haben», sagte Hättenschwiler. «Die Auswahl hängt von vielen Faktoren ab.» Unter anderem davon, ob der Patient oder seine Verwandten schon mal Antidepressiva eingenommen hatten und wie sie wirkten, von den zu erwartenden Nebenwirkungen, allfälligen Interaktionen mit anderen Medikamenten und natürlich dem Wunsch des Patienten. Eine grosse Rolle spielen Begleitsyndrome: Bei einer Depression mit Schmerzsymptomatik werden zum Beispiel eher SNRIs empfohlen, bei Dysthymie lieber SSRIs. Bei einer ängstlichen Depression kann man SSRIs oder SNRIs verschreiben, bei einer bipolaren Depression profitiert der Patient, wenn man einen Stimmungsstabilisierer zum Antidepressivum gibt.<sup>15</sup> Man beginnt mit der geringsten Dosierung und dosiert zügig gemäss Verträglichkeit auf. «Wichtig ist, dass man Unruhe und Schlaflosigkeit konsequent mitbehandelt», so Hättenschwiler. «Etwa mit Benzodiazepinen, Z-Substanzen oder atypischen Antipsychotika.» Spricht ein Patient auf das Antidepressivum nicht an, kann das viele Gründe haben: Eine Komorbidität wurde nicht erkannt und nicht therapiert – etwa eine unerkannte Bipolarität –, die Dosis war zu niedrig oder die Therapie zu kurz, eine mangelnde Compliance, Interaktionen mit anderen Medikamenten, genetische Varianten, ein ungeeignetes Psychotherapieverfahren oder anhaltender psychosozialer Stress. Wirken die Medikamente nicht, kann man auf ein anderes Antidepressivum wechseln, ein weiteres einer anderen Klasse hinzufügen oder mit Lithium oder atypischen Antipsychotika augmentieren. Darüber hinaus können auch mit der Elektrokrampftherapie oder einer kognitiven Verhaltenstherapie Effekte erzielt werden. Eine Lichttherapie wird klassischerweise bei saisonaler Depression eingesetzt. «Neue Daten zeigen aber, dass Lichttherapie auch bei nicht saisonaler Depression hilft», berichtete Hättenschwiler. «Als Monotherapie und erst recht als Zusatzbehandlung. » So senkte eine Lichttherapie depressive Symptome stärker als Fluoxetin, und in Kombination war beides noch effektiver.<sup>16</sup> Körperliche Bewegung könne man ebenfalls empfehlen, so der Psychiater. «Aber nur als Zusatztherapie – Bewegung alleine ist nicht wirksamer als Antidepressiva. » Regelmässiger Ausdauersport kann das Risiko senken, dass man überhaupt an einer Depression erkrankt,<sup>17</sup> und bei depressiven Patienten mit Angststörungen kann es diese lindern.<sup>18</sup> Es ist aber nicht klar, ob Bewegung die Lebensqualität bei Depression wirklich erhöht.<sup>19</sup> «Zumindest schadet körperliche Bewegung nicht, wenn man nicht übertreibt – und ausserdem tut man dann auch seinem Herz-Kreislauf-System etwas Gutes.»<br /><br /> Eine neue Therapieoption bei therapieresistenter Depression könnte in Zukunft Ketamin in Form eines Nasensprays sein. Ketamin wird klassischerweise als Narkosemittel verwendet. Forscher fanden aber heraus, dass es in niedrigen Dosen – intravenös verabreicht – auch Depressionen lindern kann. «Das Spannende ist, dass Ketamin einen ganz anderen Wirkmechanismus hat als die klassischen Antidepressiva», sagt Hättenschwiler. Ketamin ist ein Antagonist am NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)- Glutamatrezeptor und übt seinen antidepressiven Effekt vermutlich unter anderem über neurotrophe Substanzen wie den «brain-derived neurotrophic factor» (BDNF) aus. «Schon eine einzige i.v. Dosis reicht aus, um depressive Symptome innert Stunden zu lindern – das ist ein enormer Vorteil gegenüber den klassischen Antidepressiva. » Suizidgedanken lassen deutlich nach, so könnte sich Ketamin auch als ideales Medikament bei akuter Suizidalität etablieren zur Überbrückung, bis die klassischen Antidepressiva wirken. Die intravenöse Gabe ist aufwendig, aber auch die nasale Applikation scheint zu wirken.<sup>20, 21</sup> Bisher ist Ketamin als Nasenspray noch nicht zugelassen, es ist aber im Rahmen von Studien schon verfügbar. «Möglicherweise profitieren Patienten, die wenig oder gar nicht auf herkömmliche Antidepressiva reagieren, vom glutamergen Ansatz», vermutet Hättenschwiler. «Man sollte das Spray aber vorerst nur bei ausgewählten Patienten im Rahmen eines individuellen Therapieversuches mit adäquaten somatischen Überwachungsmöglichkeiten anwenden. » Gelangt aus Versehen zu viel Ketamin in den Rachen, kann es zu einer Überdosierung mit motorischen Störungen, Bluthochdruck oder psychotischen Reaktionen kommen. In noch experimentaler Phase ist das Präparat Psilocybin, ein 5HT<sub>2A</sub>-Agonist, der illegal als «psychedelische Droge» konsumiert wird. Untersucht wurde Psilocybin unter anderem bei Angst und Depressionen von Tumorpatienten. Vielversprechend findet Hättenschwiler die experimentelle Studie bei Patienten mit chronischen Depressionen schwerer/mittelschwerer Ausprägung. 5 der 12 Patienten waren nach drei Monaten in Remission.<sup>22</sup> «Ein innovativer, pharmakologisch begründeter Versuch», kommentierte Hättenschwiler. «Bevor man die Substanz aber einsetzt, bedarf es weiterer Studien.»<br /><br /> Noch wichtiger als neue Behandlungskonzepte sei aber, dass die derzeit verfügbaren und evidenzbasierten Empfehlungen effektiver umgesetzt würden. «Mit den heutigen Therapien können wir vielen Patienten helfen – man muss sich nur die Behandlungsempfehlungen sorgfältig anschauen und für jeden Patienten die passende Strategie wählen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1803_Weblinks_s34_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="1475" /></p> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1803_Weblinks_s34_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="1126" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Update Refresher Psychiatrie, 14.–15. Juni 2018, Zürich
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Kessler RC et al.: Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 593- 602 <strong>2</strong> Narrow WE et al.: Arch Gen Psychiatry 2002; 59: 115-23 <strong>3</strong> Henderson AS et al.: Psychol Med 1993; 23: 719- 29 <strong>4</strong> Beekman AT et al.: J Affect Disord 1995; 36: 65-75 <strong>5</strong> Tomonaga Y et al.: Pharmacoeconomics 2013; 31(3): 237-50 <strong>6</strong> Holsboer-Trachsler E et al.: Schweiz Med Forum 2016; 16(35): 716-24 <strong>7</strong> DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression: S3-Leitlinie/ Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression – Kurzfassung, 2. Auflage. Version 1. 2017. DOI: 10.6101/ AZQ/000366. www.depression.versorgungsleitlinien.de <strong>8</strong> Keller MB: JAMA 2003; 289: 3152-60 <strong>9</strong> Doraiswamy PM et al.: Am J Geriatr Psychiatry 2001; 9: 423-8 <strong>10</strong> Paykel E et al.: Psychological Medicine 1995; 25: 1171-80 <strong>11</strong> Miller IW et al.: J Clin Psychiatry 1998; 59: 608-19 <strong>12</strong> Judd LL et al.: Journal of Affective Disorders 1998; 50: 97-108 <strong>13</strong> Frodl TS et al.: Arch Gen Psychiatry 2008; 65: 1156-65 <strong>14</strong> Cipriani A et al.: Lancet 2018; 391: 1357-66 <strong>15</strong> Holsboer- Trachsler E, Holsboer F: Antidepressiva (Kap. 53). Handbuch der Psychopharmakotherapie. 2012, 589-628 <strong>16</strong> Lam RW et al.: JAMA Psychiatry 2016; 73: 56-63 <strong>17</strong> Goodwin RD: Prev Med 2003, 36: 698-703 <strong>18</strong> Harvey SB et al.: Br J Psychiatry 2010, 197: 357-364 <strong>19</strong> Cooney GM et al.: Cochrane Database Syst Rev 2013; (9): CD004366 <strong>20</strong> Daly EJ et al.: JAMA Psychiatry, online 27. Dezember 2017 <strong>21</strong> Canuso CM et al.: Am J Psych, online 16. 4. 2018<strong> 22</strong> Carhart-Haris RL et al.: Lancet Psychiatry 2016; 3(7): 619-27</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Neues und Unpubliziertes aus der psychiatrischen Forschung und Therapie
Von 7. bis 8. November 2024 fand die 26. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB) in Wien statt. Im Festsaal der ...
«Wir versuchen, gegenüber den Kindern ehrlich, aber auch sehr behutsam mit der Wahrheit zu sein»
Die Psychiaterin Roksolana Jurtschischin arbeitet im St.-Nikolaus- Kinderspital in Lwiw. Seit dem Kriegsausbruch behandelt sie mit ihren Kollegen täglich im Akkord traumatisierte Kinder ...
Entwicklungen und Trends in der Behandlung der Insomnie
Schlafstörungen betreffen einen großen Teil der Bevölkerung. Die Therapie hat sich im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt. Heute stehen neben der kognitiven Verhaltenstherapie für ...