
Der Behandlungsprozess von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie
Autorin:
Diana Klinger, MSc, MA, MA
Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: diana.klinger@meduniwien.ac.at
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In unserer sich stetig wandelnden Gesellschaft rücken die Fragen rund um Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck immer mehr in den Fokus. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, deren Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität oft eine komplexe Reise ist. Dabei ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass sie auf diesem Weg von umfassender Unterstützung und Verständnis begleitet werden.
Keypoints
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Die Gesellschaft erkennt zunehmend die Komplexität von Geschlechtsidentitäten an und bewegt sich weg von einem starren binären Geschlechtsverständnis hin zu einem breiteren Spektrum.
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Die steigende Anzahl von Jugendlichen, die sich als nichtbinär identifizieren, betont die Notwendigkeit, ihre spezifischen Bedürfnisse und Identitätserfahrungen zu beachten.
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Der Behandlungsprozess erfordert Offenheit, die Berücksichtigung des individuellen Alters und medizinischer Optionen, um die optimale Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie sicherzustellen.
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Eine effektive Behandlung erfordert eine sorgfältige multidisziplinäre Zusammenarbeit, die auch datenschutzrechtliche Bestimmungen einbezieht.
Identitätserleben
Transgender und „non-binary“/„nichtbinär“ sind Begriffe, die das Identitätserleben einer wachsenden Anzahl von Kindern und Jugendlichen beschreiben. Transgender bezieht sich auf Personen, die sich vorübergehend oder dauerhaft mit einem Geschlecht identifizieren, das sich von ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht unterscheidet (Nieder et al., 2014). Eine Transidentität kann sich bereits in der frühen Kindheit manifestieren oder später, vor allem mit dem Einsetzen der pubertären Veränderungen, auftreten.
Der Begriff „non-binary“/„nichtbinär“ hingegen beschreibt Personen, die ihre Geschlechtsidentität außerhalb der traditionellen binären Geschlechterordnung erleben. Das bedeutet, dass sie ihre Identität nicht ausschließlich als „männlich“ oder „weiblich“ definieren. Unter dem Sammelbegriff „non-binary“ oder „nichtbinär“ werden verschiedene Identitäten verstanden. Nichtbinäre Personen können mehrere Geschlechtsidentitäten gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten haben, eine Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht ablehnen („agender“) oder sich mit einer Geschlechtsidentität identifizieren, die Elemente anderer Geschlechter umfasst oder vermischt, und dabei Begriffe wie „polygender“, „genderfluid“ oder „genderqueer“ verwenden.
Darüber hinaus kann sich die Geschlechtsidentität von nichtbinären Menschen im Laufe der Zeit ändern und entwickeln (Coleman et al., 2022).
Diagnostische Klassifikation
Eine Transidentität oder nichtbinäre Identität muss nicht zwangsläufig mit einem Leidensdruck oder mit einem Transitionswunsch, der medizinische Maßnahmen beinhaltet (wie z.B. eine geschlechtsangleichende Hormontherapie), einhergehen (Matsuno & Budge, 2017; Thun-Hohenstein et al., 2017). Wenn aber dies der Fall ist, kann eine multiprofessionelle Diagnostik sinnvoll sein, um das individuelle Erleben von Kindern und Jugendlichen erfassen und verstehen zu können. Ziel ist es, ein passendes Unterstützungs- und Behandlungsangebot bereitzustellen, wobei die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen im Mittelpunkt stehen sollten.
In der aktuellen Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11; World Health Organization, 2023) findet sich die Diagnose „Geschlechtsinkongruenz“, während im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V; American Psychiatric Association, 2022) der Begriff „Geschlechtsdysphorie“ verwendet wird. Während „Geschlechtsinkongruenz“ den Zustand beschreibt, in dem die erlebte Geschlechtsidentität eines Kindes oder Jugendlichen nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, bezieht sich die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ auf den klinisch relevanten Leidensdruck, der sich aus der Diskrepanz zwischen der erlebten Geschlechtsidentität und dem Zuweisungsgeschlecht ergeben kann. Die beiden Klassifikationssysteme bieten jeweils spezifische Diagnosekriterien für Kinder sowie Jugendliche und Erwachsene, um Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie zu beschreiben.
Bei den Diagnosekriterien im Kindesalter werden neben der körperlichen Inkongruenz bzw. Dysphorie auch die Besonderheiten des Fantasiespiels sowie Spielzeug-, Spiel-, Aktivitäten- und Spielkameradenpräferenzen des präpubertären Kindes berücksichtigt. Im Jugend- und Erwachsenenalter stehen dagegen das Identitätserleben und die Identifikation mit dem erlebten Geschlecht im Vordergrund.
Behandlungsempfehlungen bei Geschlechtsdysphorie/Geschlechtsinkongruenz von Kindern und Jugendlichen in Österreich
Es ist wichtig zu betonen, dass eine Transidentität oder eine nichtbinäre Identität an sich nicht als pathologisch oder behandlungsbedürftig anzusehen ist. Die Diagnosen sollten dazu dienen, den betroffenen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien einen Weg des Umgangs zu bieten und eine Finanzierung etwaiger medizinischer Maßnahmen über das Gesundheitssystem zu ermöglichen. Kinder, Jugendliche und ihre Familien benötigen in erster Linie eine Begleitung durch den Behandlungsprozess (Thun-Hohenstein et al., 2017).
Geschlechtsidentität ist schon lange nicht mehr Schwarz/Weiß oder eben Rosa/Blau – die binäre Sichtweise wurde von einem breiten Spektrum abgelöst
Die österreichischen Behandlungsempfehlungen sehen vor, dass der Behandlungsprozess, die diagnostische Einschätzung und die psychosoziale Betreuung durch ein multidisziplinäres Team durchgeführt werden sollten. Für medizinische Maßnahmen im Rahmen des Behandlungsprozesses sind eine sorgfältige Evaluation und Indikationsstellung von entscheidender Bedeutung. Hierbei sollten die Fachdisziplinen Kinder- und Jugendpsychiatrie, die klinische Psychologie und die Psychotherapie ihre Expertise einbringen. Eine gemeinsame konsensbasierte Entscheidungsfindung, vorzugsweise in Form einer multiprofessionellen Fallkonferenz, gewährleistet eine umfassende Beurteilung der individuellen Bedürfnisse und der aktuellen Situation des betroffenen Kindes oder Jugendlichen im Transitionsprozess. In einem weiteren Schritt sollten die Empfehlungen und Erkenntnisse der Fachpersonen in einem offenen Informationsgespräch mit der Familie des/der Betroffenen erörtert werden. Dieser partizipative Ansatz ermöglicht es, die bestmögliche Behandlungsstrategie festzulegen, die die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Kindes oder Jugendlichen angemessen berücksichtigt und gleichzeitig die Unterstützung der Familie einbezieht (Thun-Hohenstein et al., 2017).
Interventionsmöglichkeiten im Kindes- und Jugendalter
Je jünger die Kinder sind, desto größer ist die Variation der Entwicklungsverläufe. Eine Vorhersage vor der Pubertät ist nicht möglich, daher sollten vor diesem Zeitpunkt keine medizinischen Interventionen erfolgen. Vor der Pubertät liegt der Schwerpunkt auf psychosozialen Interventionen, wie der Etablierung einer begleitenden Psychotherapie/psychologischen Therapie, einer klinisch-psychologischen Diagnostik oder einer sozialen Transition, wenn diese von dem Kind und der Familie erwünscht sind (Romer & Möller-Kallista, 2021). Eine soziale Transition kann u.a. folgende Elemente beinhalten: die Gestaltung des Geschlechtsausdrucks (z.B. Frisur, Wahl der Kleidung usw.) entsprechend der Geschlechtsidentität, Namensänderung und/oder Änderung der Pronomen (Coleman et al., 2022). Letztere können in Österreich auch amtlich im Rahmen einer Personenstands- und Namensänderung geändert werden.
Nach Beginn der Pubertät können neben den bereits genannten psychosozialen Interventionen auch somatomedizinische Maßnahmen wie eine pubertätsarretierende Therapie, Menstruationsunterdrückung (bei geburtsgeschlechtlich weiblichen Personen) und geschlechtsangleichende Hormontherapie ergriffen werden. Diese sind erst nach Beginn der Pubertät bzw. ab dem 16. Lebensjahr möglich und erfordern eine sorgfältige klinisch-psychologische, psychotherapeutische und kinder- und jugendpsychiatrische Evaluierung sowie die Zustimmung beider Erziehungsberechtigten (Thun-Hohenstein et al., 2017).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Rahmen des Behandlungsprozesses eine umfassende Akzeptanz und unterstützende Begleitung der individuellen Geschlechtsidentität bei Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeutung sind, um ihre körperliche und mentale Gesundheit zu fördern und ihnen ein solides Fundament für ihre Entwicklung zu bieten.
Literatur:
bei der Verfasserin
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