
„Aus 600 Fällen wurden 6000“
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Hans-Jürgen Möller
Ehem. Lehrstuhl für Psychiatrie und Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München
E-Mail: hans-juergen.moeller@med.uni-muenchen.de
Das Interview führte
Hanna Gabriel, MSc
Spanien, Portugal, Deutschland – nicht nur bei uns in Österreich werden Gesetze zum assistierten Suizid gerade viel diskutiert. Wie die Gesetzeslage bei unseren Nachbarn in Deutschland aussieht und was wir etwa von den Niederlanden lernen können, besprechen wir mit einem Münchner Experten.
Hans-Jürgen Möller ist als Psychiater und ehemaliger Professor für Psychiatrie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität auch über die Landesgrenzen Deutschlands hinaus bekannt. In einem Review1 äußerte er sich im vergangenen Jahr zur anhalten Diskussion rund um den assistierten Suizid. Darin betont er die problematischen Konsequenzen, die eine Erweiterung der Kriterien für den assistierten Suizid nach sich ziehen würde − und verweist dabei auf Erfahrungen aus den Niederlanden.
Aus welchen Motiven nehmen Menschen assistierten Suizid in Anspruch?
H.-J. Möller: Das hängt in erster Linie mit den rechtlichen Regelungen des jeweiligen Landes zusammen. In der „Euthanasie-Bewegung“, die auch die aktive Sterbehilfe beinhaltet, hatte man ursprünglich Menschen im Auge, die eine schwere, zum Tode führende Erkrankung haben, etwa ein Karzinom im Finalstadium. Mittlerweile wurden diese Grenzen aber zunehmend weiter gefasst.
Sehen Sie darin ein Problem?
H.-J. Möller: Die große Frage ist, wer über die Willensfähigkeit verfügt, um zu entscheiden, dass es in seiner Situation tatsächlich sinnvoll ist, sich zu töten. Sollen zum Beispiel auch Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen ein Recht auf assistierten Suizid haben?
Ist ein Suizid immer krankhaft?
H.-J. Möller: Wir Psychiater vertreten die Position, dass hinter Suizidalität meist eine schwere psychische Erkrankung steht oder zumindest eine schwere psychische Veränderung, zum Beispiel eine reaktive Depression. Dadurch kann der Patient nicht mehr klar entscheiden oder alternative Möglichkeiten ins Auge fassen. Aus der Geschichte kennen wir aber auch Ausnahmen, wie die sogenannten Bilanzsuizide von Adligen oder Offizieren. So etwas kommt aber selten vor.
Wie gestaltet sich die Gesetzeslage in Deutschland?
H.-J. Möller: Auch bei uns gibt es derzeit eine Legalisierungsinitiative zum assistierten Suizid. Das deutsche Verfassungsgericht hatte zuvor eine − nach deren Ansicht − „zu“ strenge Fassung eines solchen Gesetzes aufgehoben. Nun versucht unser Parlament, einen Mittelweg zwischen den Extremen zu finden. Dazu wird an drei Entwürfen gearbeitet, von denen der strengste vorsieht, dass zwei Psychiater mit zeitlicher Distanz beurteilen, ob der Suizidwunsch einen nachvollziehbaren Hintergrund hat und der Betreffende wirklich willensfähig ist. Ich schätze allerdings, dass sich dieser Entwurf nicht durchsetzen wird.
Sorgen Sie sich wegen einer Kommerzialisierung des assistierten Suizids?
H.-J. Möller: Teilweise könnten die Gesetzesentwürfe das durchaus befördern. Man muss aber sagen, dass unsere Abgeordneten sehr darum ringen, diese Möglichkeit nicht zu eröffnen.
Das Entscheidende ist aus meiner Sicht, dass jegliche Freistellung in diese Richtung bedeutet, dass eine zunehmende Welle von Menschen den Weg auch nutzen wird. In den Niederlanden wurde das völlig unterschätzt. Hier sind die jährlichen Fälle aktiver Euthanasie mit der Zeit deutlich gestiegen. Aus anfangs ca. 600 Fällen wurden 6000. Besonders auffällig ist dabei die Gruppe der älteren Menschen, die sich teils aus Lebensunlust für die Euthanasie entscheiden oder um im Alter nicht zu leiden. Die Sog- und Modellwirkung solcher Gesetze ist also nicht zu unterschätzen.
Wäre es Ihnen lieber, man hätte diese Büchse gar nicht erst geöffnet?
H.-J. Möller: Das ist in einer freien Gesellschaft offenbar nicht zu vermitteln. Unsere Wertesysteme haben sich geändert und der Mensch will vor allem frei sein. Als Arzt glaube ich, dass es notwendig ist, Menschen mit schwerer körperlicher Erkrankung auch dabei zu helfen, dass sie einen Weg zum Tod finden, der schmerzlos ist und ihre Situation erleichtert. Der beste Weg sind hierfür in meinen Augen Palliativstationen und, wenn nötig, eine indirekte Todesbeihilfe.
Wichtig ist mir, dass wir keine „Kaufhausmentalität“ entstehen lassen und der assistierte Suizid nicht einer frei verkäuflichen Ware gleich wird. Dazu habe ich zu große Hochachtung vor dem Leben.
Literatur:
1 Möller HJ: The ongoing discussion on termination of life on request. A review from a German/European perspective. Int J Psychiatry Clin Pract 2021; 25(1): 2-18