
Alters- und rollenspezifische Angehörigenarbeit
Autorinnen:
Mag. Joy Ladurner, MSc
Lisa Kainzbauer
HPE – Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter
E-Mail: joyladurner@gmx.at
Wir sind viele, wir sind nicht allein! 39% der Menschen in Österreich sind oder waren von einer psychischen Erkrankung betroffen,1 entsprechend groß ist die Zahl angehöriger Menschen. Von ihnen leiden 60% unter der Belastung durch die psychische Erkrankung.2 Angehörige brauchen Information und Unterstützung. Seit 1978 finden sie diese beim Verein HPE, „Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter“, der österreichweit tätig ist und zahlreiche – unter anderem alters- und rollenspezifische – Angebote vorhält.
Keypoints
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Angehörige sollen gesehen, gehört und einbezogen werden.
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Angehörige brauchen Verständnis für ihre individuelle Situation.
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Angehörige brauchen Information, Unterstützung und Beratung in Krisen, aber auch bei der Neuausrichtung ihres Alltags.
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Die (Mit-)Arbeit von Angehörigen (z.B. in Ausbildung, Versorgung und Forschung) soll selbstverständlich sein und gefördert werden.
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Recovery ist auch für Angehörige ein wichtiges Konzept, das entsprechend vermittelt werden muss.
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Angehörige sind vielfältig, sie wollen und brauchen unterschiedliche Dinge zu unterschiedlichen Zeitpunkten; am besten ist es, sie selbst zu fragen.
Angehörige Menschen
Angehörige Menschen sind vielfältig; sie umfassen z.B. Eltern, Kinder, Geschwister, Partner:innen oder Großeltern. Weitere nahe Bezugspersonen können Freund:innen, Nachbar:innen, Arbeitskolleg:innen, Personen, die aufgrund von Patchworksituationen dazukommen, Elternteile, Geschwister etc. sein. Diese bilden einen maßgeblichen Bezugsrahmen. Sie sind i.d.R. keine psychosozialen Profis und brauchen Information und Hilfe, um positiv und ohne über die eigenen Grenzen zu gehen Unterstützung bieten zu können.
Glaubenssatz: „Einen kranken Menschen verlässt man nicht.“
Was bedeutet es, angehörig zu sein?
Für jeden angehörigen Menschen kann das unterschiedlich sein; mögliche Implikationen oder Themen können sein:
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Schock, komplett neue Situation, Unbekanntes und/oder Überforderung
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Krisen, Eskalationen, Belastungen
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Unsicherheit, Verunsicherung, viele Fragen zu haben, intensive Gefühle
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über (eigene) Grenzen zu gehen
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körperliche, psychische Symptome
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Verantwortung, Loslassen vs. Festhalten
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Nicht-wahrhaben-Wollen
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Aushalten, dass es nicht so ist, wie es sein soll
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Abschied von Erwartungen
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Stigma, Scham
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Schuldgefühle
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Hoffnung
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neue Wege, Strategien, Perspektiven finden
Die Reise eines angehörigen Menschen ist sehr individuell, zur Orientierung kann jedoch der Überblick in Abbildung 1 hilfreich sein. Je nach Mensch können die Phasen kürzer oder länger sein, in einer anderen Reihenfolge verlaufen, einzelne Phasen können ausgelassen bzw. mehrere wiederholt werden oder gleichzeitig ablaufen.
Lisa ist mit ihrer an paranoider Schizophrenie erkrankten Mutter aufgewachsen und hat folgende Erfahrung gemacht:
„Dass meine Mutter Schizophrenie hat, war mir immer bewusst, was die Erkrankung bedeutet, wurde mir aber erst klar, nachdem sie ihre Medikamente abgesetzt hatte und meine Mutter plötzlich zu einem anderen Menschen wurde. Erst kurz zuvor war meine Urgroßmutter verstorben, die für uns beide eine soziale Mutter gewesen war. Durch ihren Tod gelangte nicht nur die Familienstruktur ins Wanken, auch die Gesundheit meiner Mutter litt unter ihrem Ableben. Plötzlich begann meine Mutter wirre Dinge zu erzählen, war rastlos und lief kichernd durch die Wohnung. Das waren für mich, als damals 14-Jährige, schwer einzuordnende und sehr verängstigende Situationen. Aufgrund dieser neuen Entwicklung und meines Bedürfnisses nach Sicherheit und Stabilität (die ich von meiner Familie nicht erlangen konnte), nahm ich mich der Einteilung der Haushaltsfinanzen an, überwachte die Einkäufe und legte ein strenges Budget fest.
Auch wenn ich es damals als ‚normal‘ erlebte, war das eine belastende Zeit für mich. Zu einem späteren Zeitpunkt entwickelte sich ein Kontakt zur Kinder- und Jugendhilfe und bald daraus zog ich von zu Hause aus. Als ich zwei weitere Jahre später meine eigene Wohnung erhielt, fühlte ich mich so frei wie nie zuvor, doch von Jahr zu Jahr holten mich die unverarbeiteten Ereignisse der Vergangenheit ein. Heute weiß ich, dass ich viel vom Zusammenleben mit meiner erkrankten Mutter gelernt habe, genauso habe ich aber viele Lasten auf mich genommen. Ich bin sehr strukturiert, brauche das aber auch als Sicherheitsanker. Verhaltensweisen, die mich an die Erkrankung meiner Mutter erinnern, lösen Angst bei mir aus. Ich bin sehr empathisch, tue mir aber schwer, Hilfe von anderen anzunehmen. Kontrolle gibt mir Sicherheit, doch sie laugt mich auch aus. Ich bin gut darin, ein Anker für andere zu sein, habe aber selbst große Verlustängste. Mein Weg ist nicht zu Ende und auf diesem werde ich sicher noch einiges dieser Liste hinzufügen können. Das größte Ziel ist aber, die erlebten Erfahrungen gut in mein Leben zu integrieren.“
HPE – Hilfe für Angehörige von Personen mit psychischen Erkrankungen
HPE ist ein österreichweit tätiger Verein für Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen, der europaweit vernetzt ist: www.eufami.org . Menschen kommen mit unterschiedlichen Problemstellungen und in vielfältigen Lebenssituationen zu HPE. Sie kommen mit diversen Erwartungen, Anliegen und Bedürfnissen; u.a. wird häufig der Wunsch nach Information und/oder einem Austausch unter Gleichgesinnten genannt. HPE zielt darauf ab, zu informieren, zu entlasten, Ressourcen zu stärken und die Lebensqualität der Angehörigen zu verbessern.
Die Angebote sind sehr vielfältig und reichen von Beratung (telefonisch, online, persönlich, Chat etc.) über (rollen- und erkrankungsspezifische) Selbsthilfegruppen, Veranstaltungen (Tagungen, Seminare etc.), Informationen (Webseite, Broschüren, Zeitschrift) bis hin zu Projektarbeit (z.B. „Verrückte Kindheit“,3 „visible“,4 „JOJO“5) und Interessenvertretung (etwa in Gremien, bei der Begutachtung von Gesetzesentwürfen).
Alters- und rollenspezifische Angebote
Bei manchen Angeboten wird nach Rollen (z.B. Eltern, Kinder, Geschwister, Partner:innen) unterschieden sowie – sofern bekannt – nach Erkrankungsbildern, teilweise auch nach dem Alter der erkrankten Person.
Rollen- und erkrankungsspezifische Angebote können Menschen dort abholen, wo sie sich gerade befinden: beim Wunsch nach dem Erlangen von mehr Information über ein bestimmtes Krankheitsbild sowie unterstützend beim Prozess persönlicher Weiterentwicklung durch ein Erreichen von mehr Klarheit über die eigene Rolle – mit Gleichgesinnten auf Augenhöhe.
Literatur:
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