
Alkoholsucht bei Frauen
Autorin:
Mag. Dr. Ute Andorfer
Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Psychotraumatologie, Gender und Diversity
Anton-Proksch-Institut Wien und in freier Praxis
Web: www.uteandorfer.at
E-Mail: uteandorfer@me.com
Frauen von heute holen in vielen Lebensbereichen auf – auch beim Konsum von Alkohol, der nicht mehr „die“ männliche Droge zu sein scheint. Für Suchtentwicklung und Suchtverlauf gibt es auch bei Frauen typische Merkmale, denen vermehrt Augenmerk geschenkt und die in der Begegnung und Behandlung berücksichtigt werden sollten. Und dennoch: Auch wenn Frauen von Sucht betroffen sind, gibt es nicht den Weg aus der Suchterkrankung, sondern so viele Wege, wie es von Sucht betroffene Frauen gibt.
Keypoints
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Der stetige Wandel der Geschlechterrollen bringt auch eine „alkoholische Emanzipation“ von Mädchen und Frauen mit sich.
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Die „life risks“ von Frauen zur Entwicklung einer Suchtproblematik sind vielfältig und liegen z.B. in den Bereichen Erwerbsleben, Familie, Einsamkeit und Armut.
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Suchterkrankungen liegen zumeist komorbide Störungen zugrunde.
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Der Weg aus der Sucht ist sehr individuell – die Entscheidung gegen das Suchtmittel allein jedoch nicht ausreichend.
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Ein übergeordnetes persönliches Ziel liefert meist mehr Motivation zum Ausstieg aus der Sucht.
Die Mädchen und Frauen von heute wollen selbstständig sein und ihr Leben selbst bestimmen. Die Mädchen und jungen Frauen von heute probieren vieles selbstbewusster und selbstbestimmter aus als Mädchen und junge Frauen früherer Generationen. Die Mädchen und Frauen von heute sind zum Beispiel ähnlich stark berufsorientiert wie die Burschen und Männer von heute. Mädchen und Frauen überholen Burschen und Männer in der Schule und in der Ausbildung, haben aber vorerst sehr oft schlechtere Karrierechancen als diese.
Die andere Seite der Emanzipation
Dieser Wandel der Geschlechterrollen spiegelt sich in vielen Verhaltensänderungen von Mädchen und Frauen wider. Die Mädchen und Frauen von heute „emanzipieren“ sich auch hinsichtlich ihres Konsumverhaltens in Bezug auf Alkohol, wobei diese „alkoholische Emanzipation“ leider eine selbstschädigende ist! Junge Erwachsene, aber eben auch Mädchen beginnen nicht früher mit dem Konsum von Alkohol, aber, wenn sie beginnen, dann konsumieren sie diesen regelmäßiger als frühere Generationen, und dies ist durchaus kritisch zu betrachten.
Beim Konsum von Alkohol passen sich heutzutage Mädchen immer mehr dem Trinkverhalten von Burschen an. Alkohol scheint also nicht mehr „die“ männliche Droge zu sein und es gilt hier auch, vermehrtes Augenmerk auf die Zielgruppe „junge Frauen“ zu richten. Denn in Österreich nimmt Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei Frauen deutlich messbar zu. Das Verhältnis trinkender Männer zu trinkenden Frauen hat sich im vergangenen Jahrzehnt von 4:1 auf 3:1 verschoben.
Sucht als multifaktorielles Geschehen
Wiederholte Konsumexzesse in der Jugendzeit sind Warnsignale für Probleme in der Lebenswelt der jungen Mädchen und sie können in Verbindung stehen mit Substanzmissbrauch bzw. Substanzabhängigkeit im Erwachsenenalter. Die Entstehung einer Suchterkrankung ist und bleibt dabei aber ein multifaktorielles Geschehen und lässt sich nicht nur auf das veränderte Rollenbild der Frau von heute, ihr Streben nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und den damit vielleicht verbundenen Druck bzw. die dadurch entstehende oft zitierte „Mehrfachbelastung“ der Frau reduzieren bzw. hinlänglich erklären. Auch wenn Frauen von heute nicht mehr ganz so still und heimlich wie früher in eine Suchterkrankung „schlittern“, so ist und bleibt es bei jeder Einzelnen von ihnen ein eigener, individueller Entstehungsverlauf mit spezifischen Belastungsfaktoren und kritischen Lebensereignissen.
Zu den „life risks“ von Frauen im Zusammenhang mit der eventuellen Entwicklung einer Suchtproblematik zählen die zunehmende Teilnahme am Erwerbsleben, die jedoch immer noch mit mehr Benachteiligungen im Vergleich zu Männern verbunden ist. Außerdem die Herausforderung, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Haushalt zu stemmen. Und wenn dann auch noch die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, die meist von Frauen geleistet wird, dazukommt, steigt der Druck und damit die Vulnerabilität hinsichtlich der Entwicklung einer Suchtproblematik. Es kann aber ebenso ein Risiko darstellen, alleinerziehende Mutter zu sein, mit all den möglichen Belastungsfaktoren, die hier auf diese Frauen einwirken. Aber auch die Überalterung unserer Gesellschaft verbunden mit der Tatsache, dass Frauen im Alter stärker vom Alleinleben, von Armut und Multimorbidität betroffen sind, ist riskant.
Sucht macht also vor keiner Altersgruppe halt, aber auch vor keiner Gesellschafts- oder Bildungsschicht, und eine Suchtentwicklung zeigt sich zudem oft bei Frauen „auf der Flucht“, bei Frauen mit Migrationshintergrund, um nur noch eine weitere mögliche Gruppe von suchtgefährdeten Frauen zu nennen.
Alkohol als „Selbstmedikation“
Der Suchterkrankung liegen bei jeder Betroffenen immer auch komorbide Störungen zugrunde, wie zum Beispiel Traumafolgestörungen, denen in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Frauen setzen Alkohol jedoch nicht nur in der Behandlung der Symptome eines Traumas wie Flashbacks, Intrusionen und Übererregung als Medikament ein. Er hilft ihnen auch, wenn auch nur kurzfristig, in der Behandlung von Schlafstörungen, affektiven Störungen, Angststörungen oder auch chronischen Schmerzstörungen. Alkohol zeigt sich im Sinne der „Selbstmedikationshypothese“ leider sehr potent. Zudem ist er rund um die Uhr verfügbar, erschwinglich und sozial akzeptiert.
Neben spezifischen Belastungsfaktoren und kritischen Lebensereignissen, „life risks“ und komorbiden Störungen gibt es aber auch noch die Suchtentstehung begünstigende weibliche Sozialisationsfaktoren. Der Faktor „Mütterlichkeit“ wird oft von Generation zu Generation, im Sinne eines Lernens am Modell, von Müttern an Töchter weitergegeben. Frauen zeigen sich oft verlässlich verfügbar, verständnisvoll, fürsorglich und anspruchslos. Im Ausgerichtetsein auf andere vernachlässigen Frauen ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer, laufen Gefahr in Passivität zu geraten und eine Opferhaltung einzunehmen. Alkohol kann dann eine rasche Belohnung darstellen oder auch trösten.
Eine heimliche Sucht?
Für den Suchtverlauf bei Frauen typisch ist, dass er sich eher (!) unauffällig entwickelt. Frauen trinken eher heimlich – mehr als es betroffene Männer tun. Nach wie vor ist auch die soziale Stigmatisierung der suchtkranken Frau größer als die des suchtkranken Mannes, und diese vergrößert sich noch einmal, wenn die Sucht schwangere Frauen betrifft. Das Thema Alkohol und Schwangerschaft ist leider ein sehr schambesetztes und es müsste ihm viel mehr Aufmerksamkeit und Verständnis entgegengebracht werden. Die suchtkranke schwangere Frau trinkt niemals mutwillig, um werdendes Leben zu gefährden. Sie trinkt, weil sie nicht anders kann, weil sie eben suchtkrank ist. Suchtkranke Schwangere trauen sich noch weniger, professionelle Suchthilfe anzunehmen als die suchtkranke nicht schwangere Frau. Der Grund dafür sind massive Scham- und Schuldgefühle.
Aber auch das Zusammenleben mit Kindern ist für eine trinkende suchtkranke Frau ein schambesetztes Thema, das in der Therapie sehr behutsam bearbeitet werden sollte. Suchtkranke Frauen schaffen es zwar im Allgemeinen früher als suchtkranke Männer, therapeutische Hilfe zu suchen und anzunehmen, typisch dabei ist allerdings auch, dass sie sich oft mit mangelnder familiärer Unterstützung beim Ausstiegswunsch konfrontiert sehen.
Therapieansätze und Begleitung
Die Suchterkrankung stellt „nur“ die Spitze des Eisberges dar. Wir müssen mit den betroffenen Frauen auch behutsam unter die Wasseroberfläche blicken, um festzustellen, was zusätzlich noch behandelt werden muss, wie zum Beispiel die zugrunde liegenden, komorbiden Störungen. In der Begegnung mit suchtkranken Frauen bedarf es allerdings nicht nur der Beachtung der Defizite, welche die Suchterkrankung ausgelöst und aufrechterhalten haben. Gerade den Ressourcen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jede einzelne betroffene Frau in die therapeutische Auseinandersetzung mitbringt, muss Raum gegeben werden, um sie für den individuellen Weg aus der Sucht zu nutzen. Und es gilt, höherwertige Ziele mit jeder einzelnen Frau zu entwickeln, denn ohne ein solches Ziel ist eine so komplexe Leistung wie die Bewältigung einer Suchterkrankung nicht zu schaffen.
Die Entscheidung allein gegen das Suchtmittel gibt nicht genügend Antrieb zu dauerhafter Veränderung. Die Abstinenz schafft die Grundlage für höherwertige Ziele. Eine Entscheidung für ein Ziel, für das es sich lohnt, das Suchtmittel Alkohol aufzugeben, setzt mehr Energien frei als eine Entscheidung gegen das Suchtmittel allein!
Literatur:
bei der Verfasserin
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