
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Vorgehen bei chronischem Tinnitus
Autor:innen:
Priv.-Doz. Dr. Roland Moschèn
Franziska Gross,MSc
Universitätsklinik für Psychiatrie II
Landeskrankenhaus Innsbruck
E-Mail: roland.moschen@tirol-kliniken.at
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Für Tinnitusbetroffene, die sich durch das Ohrgeräusch psychisch belastet und in ihrer Lebensqualität eingeschränkt fühlen, hat sich die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als wirksamer psychotherapeutischer Behandlungsansatz erwiesen. Der vorliegende Artikel bietet einen Überblick über die zentralen Elemente dieser Behandlungsform und ihre wesentlichen Wirkmechanismen. Dabei soll deutlich werden, wie Betroffene in einem gelingenden Umgang mit dem Tinnitus unterstützt werden können und die individuell erlebte Belastung reduziert werden kann.
Keypoints
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Tinnitus kann für Betroffene mit erheblichem psychischem Leidensdruck einhergehen, wobei das Ausmaß der subjektiv erlebten Belastung mit gedanklichen Bewertungen, Aufmerksamkeitsprozessen und Verhaltensweisen interagiert.
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Im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie werden gezielte Strategien vermittelt, um die Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Tinnitus zu reduzieren, problemverstärkende gedankliche Bewertungen zu verändern und die Bewältigung zu verbessern.
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Die Anwendung von Entspannungstechniken und Ausübung von angenehmen Aktivitäten tragen zur langfristigen psychischen Entlastung bzw. einer Verbesserung des generellen Wohlbefindens bei.
Einleitung
Chronischer Tinnitus kann für Betroffene mit erheblichem Leidensdruck verbunden sein. Dabei lässt sich das Belastungsausmaß nur unzureichend durch audiologische Parameter wie beispielsweise die gemessene Lautstärke, Charakteristik oder Frequenz des Tinnitus erklären. Vielmehr kommt psychosozialen Faktoren wie tinnitusbezogenen Kognitionen und Emotionen, komorbiden Störungen (z.B. eine begleitende Depression oder Angststörung), Schlafstörungen wie auch den gewählten Bewältigungsformen (Coping) eine bedeutsame Rolle zu. Diese Faktoren können im Sinne eines Circulus vitiosus die erlebte Belastung verstärken und die Gewöhnung an den Tinnitus erschweren.
Demzufolge sind bei belastendem Tinnitus neben einer umfassenden HNO-ärztlichen Abklärung und Information psychologische/psychotherapeutische Verfahren indiziert. Insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) hat sich als wirksamer Ansatz zur Reduktion der Tinnitusbelastung etabliert und wird in der aktuellen S3-Leitlinie für chronischen Tinnitus (2021) mit hoher Evidenzstärke empfohlen. Die Behandlung zielt darauf ab, sekundäre psychische Symptomatiken zu verbessern, den Habituationsprozess zu unterstützen und die Akzeptanz des Ohrgeräuschs zu fördern. Durch den Erwerb von Wissen und spezifischen Kompetenzen im Umgang mit Tinnitus wird eineBewältigung des Tinnitus ermöglicht.
Grundlagen der kognitiven Verhaltenstherapie bei Tinnitus
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung bei Tinnitus basiert auf der Beobachtung, dass Betroffene mit hohem Leidensdruck oft eine fortgesetzte, ängstlich gefärbte Fokussierung auf den Tinnitus zeigen. Zugrunde liegen häufig gedankliche Bewertungen, die dem Tinnitus weitreichende Folgen zuschreiben. Auch liegt zu Beginn der Behandlung die Vorstellung vor, selbst darauf keinen Einfluss zu haben, wodurch Gefühle des Ausgeliefert-Seins, Angst und Unbehagen anwachsen, was den Prozess der Gewöhnung an das Ohrgeräusch erschwert. Dem soll im Rahmen einer KVT mithilfe der nachfolgend beschriebenen zentralen Behandlungselemente (Abb. 1) entgegengewirkt werden.
Abb. 1: Inhalte der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung (modifiziert nach Kröner-Herwig B et al.:Tinnitus. Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union, 2010)
Kernstücke der KVT bei Tinnitus
Informationsvermittlung
Betroffene schildern häufig ängstigende Vorstellungen von Auswirkungen des Tinnitus auf das Hörvermögen oder fürchten eine stetige Zunahme der Lautstärke. Eine evidenzbasierte medizinische und psychologische Aufklärung über Tinnitus trägt dazu bei, solche Fehlannahmen zu entkräften, und bahnt Wege für Prozesse der Gewöhnung. Die Sensibilisierung für bio-psycho-soziale Zusammenhänge, wie z.B. zwischen Stress, Hörverarbeitung und dem subjektiven Geräuscherleben, ermöglicht Orientierung und ein vertieftes Verständnis des Geschehens.
Veränderung problemverstärkender gedanklicher Bewertungen
Durch gezielte therapeutische Interventionen werden ungünstige, belastende und katastrophisierende Gedanken in Bezug auf den Tinnitus hinterfragt und günstigere Vorstellungen gefördert. Hierbei gilt es auch zu analysieren, in welchen Situationen bzw. bei welchen Beschäftigungen das Ohrgeräusch in den Hintergrund der Wahrnehmung tritt. Dies relativiert die oft vorzufindende Überzeugung, der Tinnitus sei immer gleich laut und störend, und sensibilisiert für die Bedeutung von Aufmerksamkeitsprozessen und Wahrnehmung.
Entspannungstechniken
Chronischer Stress kann nicht nur eine (Mit-)Ursache von akutem Tinnitus bzw. seiner Chronifizierung sein, sondern auch dessen Folge. Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, das autogene Training, Atemübungen oder Achtsamkeitstraining reduzieren das generelle Stressniveau nachweislich. Über eine Milderung psychophysiologischer Belastungsreaktionen, die Linderung von erhöhten Spannungs- und Angstzuständen, die Förderung von Stressbewältigungsfertigkeiten und eine Verbesserung der Schlafqualität wird die emotionale Toleranz für den Tinnitus gesteigert. Langfristig kann sich so eine gelassenere Haltung gegenüber dem Ohrgeräusch entwickeln.
Die Aufmerksamkeit lenken lernen
Übungen zur bewussten Fokussierung externer Reize, wie gezieltes Hören von Naturgeräuschen oder Musik, wie auch das aktive Einbeziehen anderer Sinneseindrücke (z.B. das Riechen, Sehen, Tasten, Schmecken) helfen, den Tinnitus in den Hintergrund treten zu lassen. Dabei ist für Betroffene die Erfahrung wesentlich, dass sie durch eine gezielte Umlenkung der Aufmerksamkeit aktiv (mit)bestimmen können, was ins Zentrum ihrer Wahrnehmung rückt. An dieser Stelle sei jedoch erwähnt, dass bei chronischem Tinnitus Versuche einer unablässigen Ablenkung bzw. Unterdrückung der Tinnituswahrnehmung, beispielsweise durch Dauerbeschallung oder exzessive Geschäftigkeit, nicht förderlich für seine Bewältigung sind. Im therapeutischen Rahmen ist es möglich, in einer informierten, körperlich und seelisch entspannten Verfassung Erfahrungen mit der bewussten Wahrnehmung zu sammeln, was den Weg für eine gelassenere Tinnituswahrnehmung bahnt.
Vermeidungsverhalten reduzieren, positive Aktivitäten bestärken
Förderlich ist auch eine Reduktion von Verhaltensweisen, die sich ungünstig auf die Gewöhnung an den Tinnitus auswirken, wie beispielsweise der Rückzug aus tragenden sozialen Beziehungen oder ein übermäßiges Vermeidungsverhalten. Gezielt werden die vorhandenen persönlichen und sozialen Ressourcen der Betroffenen hervorgehoben und die Ausübung von Aktivitäten, die in Einklang mit den persönlichen Werten und Zielen der Person stehen, wird gefördert.
Die Tinnitusbewältigungsgruppe an der Universitätsklinik Innsbruck
An der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck kommt der kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz in enger Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen seit vielen Jahren im Rahmen einer ambulanten, interdisziplinären Behandlung im Einzel- und Gruppensetting zur Anwendung. Das Gruppenangebot folgt einem tinnitusspezifischen, manualisierten Vorgehen nach Kröner-Herwig, Jäger und Goebel (Tinnitus: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual, 2010). In zwölf wöchentlich stattfindenden Gruppensitzungen à 120 Minuten und einer Follow-up-Sitzung sechs Monate nach Therapieabschluss werden die oben dargestellten Inhalte und Themen bearbeitet. Eine HNO-Fachärztin nimmt an zwei Sitzungen teil, in denen sie medizinische Informationen vermittelt und Fragen der Teilnehmenden beantwortet.
Fazit
Die KVT hat sich als evidenzbasiertes Verfahren zur Unterstützung der Bewältigung von chronischem Tinnitus und damit zur Reduktion der subjektiv erlebten Belastung bewährt. Therapieziel ist gegenwärtig nicht eine Heilung des Tinnitus, sondern ein Leben mit Tinnitus und guter Lebensqualität. Durch evidenzbasiertes Wissen, die Anwendung von Entspannungsverfahren, Übungen zur Wahrnehmungslenkung und die Umsetzung günstiger Bewältigungsstrategien lassen sich in den meisten Fällen langfristig eine Habituation an das Ohrgeräusch und ein gelingender Umgang damit erreichen.
Literatur:
bei den Verfasser:innen
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