© Elodie Grethen

Ein Kämpfer gegen Vorurteile

„Gegen HIV brauchen wir mehr als Medikamente“

Dr. Florian Breitenecker setzt sich als Allgemeinmediziner vor allem für ganzheitliche, bio-psycho-soziale Medizin ein, in der Stigmatisierung keinen Platz hat. Sein Primärversorgungszentrum in Wien ist auf die Betreuung von Menschen mit HIV bzw. sexuell übertragbaren Infektionen, Substitutionsbehandlung, Chemsex-Beratung sowie Transgender-Medizin spezialisiert.

Kurz vor seinen beiden Vorträgen am DÖAK, dem Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress in Wien, nahm sich Dr. Florian Breitenecker Zeit für ein Interview mit ALLGEMEINE+über seinen Werdegang als Allgemeinmediziner und die Spezialisierung seiner Tätigkeit auf HIV bzw. sexuell übetragbare Infektionen (STI). Die Räumlichkeiten des Primärversorgungszentrums in Wien-Mariahilf, das er gemeinsam mit zwei weiteren Ärzten und seiner Schwester, einer diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin, leitet, sind ein geschützter Raum, in dem Menschlichkeit, Wertschätzung, Hilfsbereitschaft und Toleranz großgeschrieben werden.

Wie sind Sie zur Medizin gekommen?

F. Breitenecker: Mein Großvater war ein Gerichtsmediziner, mein Vater ist Pathologe. Aber ich bin der Einzige unter vier Geschwistern, der Mediziner geworden ist. Allerdings nicht aus hundertprozentiger Überzeugung. Das Studium hat mich auch nicht wahnsinnig begeistert, weil es doch eher trocken war. Wirklich interessiert hat mich die Medizin erst im Turnus im SMZ Ost, damals Donauspital, jetzt Klinik Donaustadt. Das war eine gute, interessante Zeit. Aber auch dann wusste ich noch nicht so wirklich, in welche Richtung ich gehen will.

Wie ergab sich dann Ihr Schwerpunkt auf sexuell übertragbare Erkrankungen (STD)?

F. Breitenecker: Ich wollte immer schon für die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Ausland arbeiten. Nach dem Turnus bin ich 2003 daher nach Thailand gegangen, weil ich dachte: Das ist ein gutes Land für den ersten Einsatz – da ist kein Krieg und es herrschen keine extremen Bedingungen. Und es gab dort ein HIV-Projekt, das von einem amerikanischen Aids-Spezialisten geleitet wurde und bei dem ich ein Jahr lang mitgearbeitet habe. So hat das Interesse für HIV/Aids begonnen. Als ich zurückgekommen bin, wollte ich gerne auf diesem Gebiet weitermachen. 2005 bin ich mit meiner damaligen Frau nach Malawi gegangen, um ein HIV-Projekt zu starten. Das war eine sehr wertvolle Erfahrung, aber auch eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, weil dort sehr viele sehr kranke Menschen auf die Therapie gewartet haben. Es sind damals leider noch viele trotz Therapie gestorben. Und natürlich war das Gesundheitssystem in Malawi noch einmal viel schlechter als in Thailand.

Wie ging es dann weiter in Ihrem Interessengebiet?

F. Breitenecker: Nach meiner Rückkehr hat es sich dann ergeben, dass an der Universitätsklinik für Dermatologie am AKH Wien eine Kollegin in Karenz gegangen ist, die als Allgemeinmedizinerin in der HIV/STD-Ambulanz gearbeitet hat. Ich durfte dann in der Ambulanz mit einem großartigen Team Patient:innen betreuen. Ich war dort acht Jahre auf Werkvertragsbasis mit Drittmittel-finanzierten Kurzverträgen. Dadurch, dass die Therapie ja eine lebenslange ist und immer mehr Patientinnen und Patienten dazukommen sind, wurde natürlich das Kollektiv, das zu betreuen war, immer größer. Wir sind zunehmend in Personalprobleme geschlittert, haben dann dagegen protestiert und auch mit medialer Hilfe versucht, die Bedingungen für uns zu verbessern. Das hat dem damaligen Rektor der MedUni Wien nicht gefallen und mein Vertrag wurde zum letzten Mal um sechs Monate verlängert.

<< Stigmatisierung und Diskriminierung gibt es immer noch, schlimmerweise am meisten im Gesundheitssystem selbst.>>
Dr. Florian Breitenecker
Aber es öffnete sich dafür eine andere Tür?

F. Breitenecker: Genau, als ich erfahren habe, dass hier im Haus der praktische Arzt in Pension geht. Ich wusste, dass sich die Marienapotheke im selben Gebäude auf HIV und HIV-Medikamente spezialisiert hat. Ich wollte ja auf jeden Fall mit HIV weiterarbeiten. Es hat sich dann auch tatsächlich so ergeben, dass ich noch bei meinem Vorgänger mitgearbeitet habe. Nach seiner Pensionierung habe ich dann den Patientenstock übernommen. Der hatte natürlich mit HIV überhaupt nichts zu tun. Dann sind so nach und nach auch Patient:innen mit HIV-Infektionen dazu gekommen.

Wann haben Sie begonnen, ein Team bzw. eine Gruppenpraxis aufzubauen?

F. Breitenecker: Mir war immer wichtig, in einem Team zu arbeiten und auch die psychosoziale Komponente stark zu betonen. Miriam Alvarado-Dupuy, die Sozialarbeiterin und Sexualberaterin ist, und ich haben 2016 einen Verein zur Förderung der bio-psychosozialmedizinischen Versorgung von Personen aus sozialen Randgruppen und von chronischen Krankheiten betroffenen Personen gegründet, der heute an.doc.stelle heißt. Über diesen Verein haben wir Psychotherapie, psychologische Beratungen, Sexualberatungen, Sozialarbeit etc. von Beginn an angeboten.

Der Verein war Voraussetzung, um Spenden für eine niederschwellige Versorgung sammeln zu können. Die Patient:innen spenden für die Beratung. Wenn sie keinen Beitrag leisten können, dann zahlen sie nichts. Da kamen auch meine guten Kontakte zu großen Pharmafirmen zugute, die HIV-Medikamente produzieren und die die an.doc.stelle sehr verlässlich und regelmäßig unterstützen. Das Team in der Ordination hat sich laufend vergrößert. Ich habe relativ bald begonnen, Lehrpraktikant:innen einzustellen. Zwei dieser Lehrpraktikanten sind mittlerweile Geschäftsführer geworden und andere arbeiten auch noch mit. Außerdem ist die Familie stark vertreten: Meine Stieftochter als Pflegeassistentin sowie meine Frau an der Anmeldung sind ganz wichtige Säulen des Betriebs. Inzwischen umfasst das Team rund 35 Leute.

Was sind Schwerpunkte der Betreuung?

F. Breitenecker: Psychosoziale Zuwendung ist bei vielen unserer Patient:innen besonders wichtig. Es ist durchaus so, dass sie sich oft dem Pflegepersonal mehr öffnen als den Ärztinnen und Ärzten. Zum Beispiel ergibt sich bei der Blutabnahme meist die Möglichkeit, Adhärenzgespräche darüber zu führen, wie es mit der Therapie bzw. der Einnahme klappt. Gerade bei der HIV-Therapie ist es sehr wichtig, dass die Adhärenz funktioniert. Daher hat das Pflegepersonal von Anfang an eine sehr wichtige Rolle innegehabt. Mit Jahresbeginn wurde die Gruppenpraxis ein Primärversorgungszentrum. Die dafür notwendige Größe hatten wir ja schon und wir hatten vorher auch wie ein Primärversorgungszentrum gearbeitet – mit Zusatzangeboten wie Ernährungsberatung, Sozialarbeiter:innen, Psychotherapeut:innen, Sexualberater:innen. In unserem Team gibt es im Zusammenhang mit dem Transgender-Schwerpunkt auch einen sogenannten trans*buddy, der transgender Personen in allen möglichen Belangen berät. Wir haben eine Juristin, die auch Sozialarbeiterin ist, dadurch können wir zusätzlich Rechtsberatung anbieten.

Was hat sich durch den Status als Primärversorgungszentrum (PVZ)geändert?

F. Breitenecker: Wir haben jetzt 50 Stunden pro Woche geöffnet. Das heißt, man braucht sehr viele Leute, um alle diese Stunden ausreichend zu besetzen. Es sind immer drei Ärztinnen und Ärzte gleichzeitig da und auch drei Pflegeräume gleichzeitig besetzt. Ein Spezifikum unseres PVZ ist die Geschäftsführung. Sie besteht ausDr. Vasiljević, Dr. Uy und mir, und demnächst auch aus meiner Schwester Nora Breitenecker, die eine diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin ist. Das ist seit einer Gesetzesnovelle im August 2024 möglich. Das Problem ist, dass zwar das Gesetz dafür geschaffen wurde, aber die Folgeverträge mit der Gesundheitskasse etc., die sich aus diesem Gesetz ergeben, noch nicht adaptiert wurden. Aber das Gesetz ist nun mal da und wir bestehen darauf, dass es umgesetzt wird. Wenn man so multiprofessionell und interdisziplinär arbeitet in einem großen Team, warum soll dann die Leitung nur aus Ärzt:innen bestehen? Das ist ja nicht einzusehen.

Wie sehen Sie den Stellenwert Ihres PVZ als Anlaufstelle für Menschen mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten bzw. für Transgender- und Sucht-Patient:innen?
© Christopher Klettermayer

01 Breitenecker beim Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress im März 2025

F. Breitenecker: Es ist in ganz Österreich so, dass die HIV-Betreuung hauptsächlich in Ambulanzen in Schwerpunktspitälern gemacht wird. Die einzige Ausnahme ist Wien. Hier gibt es mittlerweile mit uns drei allgemeinmedizinische Anlaufstellen sowie drei Dermatologen und eine Dermatologin, die aber zum Teil Wahlärzt:innen sind. Es gibt im Burgenland und in Niederösterreich keine HIV-Ambulanz in Spitälern, d.h., wir haben auch viele Patient:innen aus diesem Raum. Bei den Suchterkrankungen betreuen wir einerseits Patient:innen mit der klassischen Opiatabhängigkeit im Substitutionsprogramm, aber auch mit anderen Formen der Sucht, wie zum Beispiel der Chemsex-Problematik – ein neueres Phänomen, das aber auch sehr versorgungsintensiv ist. Die Substanzen, die bei Chemsex verwendet werden, werden auch intravenös gespritzt. Dabei können u.a. schlimme Nekrosen entstehen. Im Bereich der Transgender-Medizin für Erwachsene haben wir den größten Zulauf, weil sie in Österreich nach wie vor schlecht aufgestellt ist. Die größte Transgender-Ambulanz am AKH Wien ist heillos überlaufen, mit Wartezeiten von bis zu neun Monaten. In Ungarn erwarten Ärzt:innen, die Hormontherapie für transgender Personen anbieten, hohe Strafen. Viele kommen daher über die Grenze, um ihre Behandlung fortsetzen zu können. Der Bedarf ist also groß.

Seit April 2024 werden die Kosten der HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) von der Krankenkasse übernommen. Wie hat sich das bei Ihnen auf die Nachfrage, z.B. vonseiten von Frauen, ausgewirkt?

F. Breitenecker: Das war sicher eine wichtige gesundheitspolitische Entscheidung und die Rückerstattung über die Krankenkasse funktioniert gut. Es ist aber schwer einzuschätzen, inwieweit diese Maßnahme zu einer Steigerung im PrEP-Gebrauch geführt hat. Wir haben immer wieder Frauen, die sich für die PrEP interessieren. Allerdings wird die PrEP bei Frauen nur zur täglichen Einnahme verschrieben und dadurch entscheiden sich die meisten dagegen. Würde es eine anlassbezogene PrEP für Frauen geben bzw. Studien, die belegen, dass diese Form auch für Frauen sicher ist, dann wäre das ein Gamechanger. Die Kostenerstattung hat an diesem Problem nichts geändert.

Verschreiben Sie generell öfter die anlassbezogene PrEP?

F. Breitenecker: Es gibt tatsächlich viele, die die PrEP nur anlassbezogen nehmen. Der Anteil beträgt in unserer Ordination ca. 40%. Das ist zwar nach wie vor nur eine Off-label-Anwendung, aber es ist eine wichtige Option. Einige Studien belegen, dass die anlassbezogene Einnahme für Männer genauso sicher ist wie die tägliche. Es gibt sehr viele, die so selten Risikokontakte haben, dass sie sich gegen eine PrEP entscheiden würden, müssten sie sie täglich einnehmen. Und mit einer Packung PrEP zum Beispiel ein Jahr auszukommen und dann doch in den entscheidenden Momenten geschützt zu sein – das ist schon eine ganz wichtige Möglichkeit.

Die Prävalenz von sexuell übertragbaren Infektionen (STI) steigt weltweit. Werden dadurch mehr Screenings angefragt?

F. Breitenecker: Ich glaube, dass sexuell übertragbare Erkrankungen in der Medizin nach wie vor ein stiefmütterliches Dasein fristen. Es gibt nur wenige Behandler:innen, die das Thema aktiv ansprechen, und den Patient:innen ist es oft peinlich, darüber zu reden. Dadurch wird weniger getestet, als es eigentlich notwendig wäre. Wir stellen allerdings fest, dass immer mehr Frauen für STI-Checks zu uns kommen, weil sexuelle Gesundheit bei uns kein Tabuthema und ein wichtiger Teil unseres Angebots ist.

© Elodie Grethen

02 Das Team des Primärversorgungszentrums „Teampraxis im 6.“

Begegnen Ihnen im Zusammenhang mit HIV nach wie vor Stigmatisierung und Vorurteile?

F. Breitenecker: Ja, leider. Stigmatisierung und Diskriminierung gibt es immer noch, und schlimmerweise am meisten im Gesundheitssystem selbst. Nach wie vor werden Patient:innen so behandelt, als würden sie ein Risiko für andere Personen darstellen. Selbst bei unbehandelten Personen ist das Risiko, auf nicht sexuellem Weg jemanden anzustecken, minimal, bei gut behandelten Personen – wenn die HIV-Viruslast unter der Nachweisbarkeitsgrenze ist – ist das Risiko null komma null. Da muss man keine Spezialtermine vergeben oder Spezialhygienemaßnahmen anwenden. Leider wird diese wissenschaftlich nicht haltbare „Übervorsichtigkeit“ immer noch gelehrt, das muss sich schleunigst ändern. Gegen HIV brauchen wir mehr als Medikamente.

Ende März fand der DÖAK, der 12. Deutsch-Österreichische Aids-Kongress, in Wien statt. Sie haben selbst zwei Vorträge gehalten. Welche neuen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?
© Breitenecker

03 Beim Einsatz für Ärzte ohne Grenzen 2003in Thailand

F. Breitenecker: Der Kongress in der Hofburg war ein voller Erfolg. Eine Erkenntnis war für mich, wie wenig wissenschaftliche Evidenz es eigentlich für manche Dinge gibt, die wir seit Langem wie selbstverständlich tun. Dazu gehören zum Beispiel das dreimonatliche Screening auf STI bei PrEP-Usern und die antibiotische STI-Therapie bei asymptomatischen Patient:innen. Ob diese Vorgehensweise etwas bringt oder vielleicht sogar schadet, ist unklar, trotzdem machen es alle so. Es bleiben also noch so einige offene Fragen, die in den nächsten Jahren zu klären sind.

Was war in Ihren Augen die bedeutendste Entwicklung in Bezug auf HIV/Aids in den letzten Jahren??

F. Breitenecker: Die bedeutendste Entwicklung waren sicherlich die Injectables, also die intramuskulären Applikationen von antiretroviralen Medikamenten, nämlich sowohl für die Therapie als auch für die Prophylaxe. Eine Injektion schützt sechs Monate vor einer HIV-Infektion. Das ist ein Meilenstein, damit könnten viele Tausend Infektionen jedes Jahr verhindert werden. Diese Substanzen müssen daher schnell generisch produziert werden, um im globalen Süden zum Einsatz zu kommen.

Warum sollte man HIV nicht auf die leichte Schulter nehmen, obwohl sich die Therapie verbessert hat?

F. Breitenecker: Die HIV-Infektion ist nicht heilbar, erfordert eine lebenslange Therapie, und obwohl diese Therapie die Virusreplikation sehr effektiv unterbindet, entsteht dem Organismus ein gesundheitlicher Schaden durch die Immunaktivierung, die quasi die Alterung der Organe beschleunigt. Man sollte sich also nach wie vor gut vor einer Infektion schützen.

Vielen Dank für das Gespräch!
Verein an.doc.stelle

Der Verein an.doc.stelle berät und begleitet Menschen aus sozialen Randgruppen bzw. von chronischen Krankheiten betroffene Personen in biopsychosozialen Krisen und informiert zu unterschiedlichen Themen rund um Gesundheit. Ein multiprofessionelles Team – bestehend aus Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, einer Psychologin, Sexual- und Beziehungsberater:innen, Psychotherapeut:innen, trans*Buddies, einer diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin und einer Juristin – unterstützt Menschen in herausfordernden Lebenssituationen: niederschwellig, wertschätzend, rasch und unbürokratisch. Die an.doc.stelle ist in ein Primärversorgungszentrum ( https://teampraxis.wien/ ) integriert und steht auch nicht versicherten Menschen zur Verfügung.

Weitere Informationen: https://andocstelle.at

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