<p class="article-intro">Muskelverletzungen weisen im Fussball eine sehr hohe Inzidenz auf. Diagnostisch ist die Unterscheidung zwischen funktionellen und strukturellen Verletzungen wichtig. Die Behandlung ist in aller Regel konservativ. Der Return-to-Sport sollte entsprechend einem Stufenmodell durchgeführt werden. Zur Vermeidung einer Rezidivverletzung muss zuerst die maximale Belastbarkeit der Strukturen gewährleistet sein, bevor der Spieler wieder ins wettkampfmässige Geschehen eingreifen kann.</p>
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<p class="article-content"><p>Fussball ist eine der populärsten Sportarten in der Schweiz überhaupt. Auch in der Unfallstatistik ist der Fussball führend: 45 000 Sportverletzungen oder rund ein Viertel der Sportverletzungen ereignen sich laut SUVA im Fussball, 70 % davon im organisierten Club-Fussball. Gemäss SUVA ereignen sich viele schwere Verletzungen (z. B. Knieverletzung mit Ruptur des vorderen Kreuzbandes) bei direktem Gegnerkontakt und einem Foulspiel und führen zu aufwendigen, oft operativen Behandlungen mit einer langen Rehabilitationsund Out-of-Competition-Zeit. Speziell im Profi-Fussball steht eine zweite Gruppe von Verletzungen im Vordergrund. Diese sind zwar weniger spektakulär, betreffen jedoch im Laufe der Saison viele Spieler: die Muskelverletzungen. Die grosse Mehrzahl der Muskelverletzungen sind indirekte Muskelverletzungen ohne Einwirkung eines Gegen-/Mitspielers oder ohne direkten Kontakt zwischen Gegner und dem verletzten Muskel. Im Durchschnitt sind 72 % der Spieler von einer Muskelverletzung betroffen, pro Saison! Bei jedem Spiel fehlt mindestens ein Spieler pro Mannschaft aufgrund einer Muskelverletzung. Das hat einen grossen Einfluss auf die Performanceeiner Mannschaft. Deswegen ist es ungemein wichtig, Muskelverletzungen richtig zu diagnostizieren und konsequent zu behandeln.</p> <h2>Inzidenz und Pathomechanismus</h2> <p>92 % aller Muskelverletzungen betreffen die Muskulatur der unteren Extremität. Am häufigsten treten die Verletzungen im Bereich der Hamstringsgruppe auf, aber auch die Adduktoren, der M. rectus femoris und der M. triceps surae sind anfällig für muskuläre Probleme. In einer eigenen, kürzlich publizierten Studie betrug die Inzidenz für die verschiedenen Muskelgruppen: Hamstrings 38 %, Adduktoren 28 %, M. iliopsoas 15 %, M. triceps surae 11 % und M. rectus femoris 6 %. <br />Die Verletzungen treten zu rund einem Drittel als Folge einer lokalen Ermüdung oder Überlastung auf und können nicht einem einzigen Ereignis zugeordnet werden. Erstaunlicherweise kann eine solche Überlastungsverletzung auch zu einer schwerwiegenden Muskelverletzung mit Kontinuitätsunterbrechung führen. Typische weitere Mechanismen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Es fällt auf, dass bei fast allen diesen Mechanismen eine exzentrische Kraft oder Bewegungskomponente vorliegt. Wie bereits 1938 von A. V. Hill beschrieben, ist eine exzentrische Kraft höher als eine konzentrische oder isometrische Kraftentwicklung und hat daher das grösste Verletzungsrisiko. <br />Viel diskutierte Risikofaktoren sind u. a. ungenügendes Warm-up, Überbelastung (oder Trainingsmangel), mangelhafter Aufbau nach einer Verletzung/Krankheit und eine reduzierte Beweglichkeit (fehlende Muskelflexibilität). Der grösste Risikofaktor ist allerdings eine vorausgegangene Muskelverletzung. Die Rezidivquote liegt im Profifussball bei 16 % und im Nachwuchsfussball sogar bei bis zu 38 %. Gerade deshalb ist eine gute Ausbehandlung wichtig.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_a3-tab1-2.jpg" alt="" width="1193" height="327" /></p> <h2>Diagnostik und Klassifikation</h2> <p>Die Diagnostik der Muskelverletzung ist primär eine klinische Diagnose. Im Zentrum stehen die Beschreibung der Beschwerden und des Verletzungsmechanismus. Dabei soll erfasst werden, ob es sich um eine primäre oder eine Rezidivverletzung handelt und wie gross der Funktionsausfall ist. Die Spannbreite ist gross: Von Beschwerden nur bei sportlicher Aktivität bis zu einer Gehunfähigkeit und der Notwendigkeit einer Stockentlastung ist je nach Schweregrad alles möglich. <br />In der klinischen Untersuchung können verschiedene Punkte untersucht werden (Tab. 2). Diese Untersuchungsbefunde können auch als Verlaufsbeurteilung hinzugezogen werden. Die absolute Kraft ist dabei als Untersuchungsmerkmal schwierig verwertbar, einerseits durch die schmerzbedingte Inaktivierung des Muskels, andererseits können synergistisch aktive Muskeln einen Funktionsausfall kaschieren. Die angrenzenden Gelenke sollen ebenfalls untersucht werden, um deren Einbezug auszuschliessen. <br />Als Klassifikation der Muskelverletzungen hat sich die «Munich Consensus Classification » etabliert, welche von einer Gruppe um Müller-Wohlfart propagiert wurde. Sie unterscheidet zwischen funktionellen und strukturellen Verletzungen und gibt ebenfalls Auskunft um die Return- to-Sport-Zeit (Tab. 3). Palpatorisch gibt es zwischen den zwei Hauptgruppen (funktionell – strukturell) Unterschiede. Während sich bei funktionellen Verletzungen grundsätzlich eher ein durchgängiger Muskelhartspann bildet, lässt sich bei oberflächlichen strukturellen Verletzungen in der Frühpause eine Delle palpieren, in welcher sich danach ein Ödem bildet, welches leicht erhaben sein kann und von der Konsistenz her einen deutlichen Unterschied zur Muskulatur zeigt. Im Zweifel und bei höhergradigen Verletzungen empfiehlt sich eine Bildgebung. Dabei hat sich der Ultraschall als Bildgebung der Wahl etabliert (Abb. 1). Dieser kann in der Regel vom untersuchenden Sportmediziner selber durchgeführt werden und kann symptomorientiert unter Berücksichtigung der Muskelfunktion (Defektgrösse, Hämatom, Kraftüberleitung) erfolgen. Alternativ bietet sich die Magnetresonanztomografie (MRI) an (Abb. 2). Bei Jugendlichen mit noch nicht abgeschlossenem Knochenwachstum gilt ein besonderes Augenmerk apophysären Avulsionsverletzungen (z. B. Spina iliaca anterior inferior des M. rectus femoris, Tuber ischiadicum der Hamstrings). <br />Bei chronischen Muskelverletzungen ist die Differenzialdiagnose wesentlich breiter zu fassen. Ein chronisches Kompartmentsyndrom («chronic exertional syndrome»), eine Knochenhautreizung (Periostitis) oder sogar eine Stressfraktur (z. B. Pubalgie/ Stressreaktion Schambein bei chronischen Adduktorenbeschwerden) sind auszuschliessen, bevor von einer chronischen, gegebenenfalls insuffizient behandelten Muskelverletzung ausgegangen wird. Zudem ist an reaktive Muskelveränderungen (z. B. Verhärtung) als Folge einer arthrogenen Pathologie (z. B. Hamstringsverhärtung bei Bakerzyste oder Rectus-femoris- Problematik bei Chondromalacia patellae) zu denken. Funktionelle und strukturelle Dysbalancen sind zu suchen (z. B. Beinlängendifferenz, Beckenschiefstand, Quadriceps/Hamstrings-Dysbalance, Beinachseninstabilität) sowie das Becken und die Wirbelsäule in die Beurteilung miteinzubeziehen (z. B. rezidivierende LWS- oder ISG-Blockaden, eingeschränkte LWS-Beweglichkeit, Beckeninstabilität).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_a3-abb1.jpg" alt="" width="625" height="314" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_a3-abb2.jpg" alt="" width="302" height="373" /></p> <h2>Behandlung</h2> <p>Die Prognose einer frischen Muskelverletzung ist sehr gut. Der Muskel ist sehr gut durchblutet. Lokal sind pluripotente Zellen (Satellitenzellen) vorhanden, die den Reparationsprozess rasch starten können. Es erfolgt eine «restitutio ad integrum». Nur bei schweren Verletzungen oder insuffizienter Behandlung kann eine Narbenheilung entstehen. Trotzdem ist die konsequente Behandlung und Ausbehandlung von Muskelverletzungen oft schwierig. Aufgrund der so grossen Häufigkeit der Verletzung wird diese von den Spielern oft verharmlost. Der Drang, wieder spielen zu können, ist sehr stark. Von aussen gibt es viele Faktoren, die diesen Druck weiter erhöhen: Trainer, Eltern, Klub, Manager, Medien. <br />Aufgrund der hohen Rezidivrate (16 %–38 %) ist jedoch die konsequente Ausbehandlung einer Muskelverletzung sehr wichtig. Hier hat die medizinische Betreuung (Sportmediziner, Sportphysiotherapeut, Reha-Trainer) eine wichtige Funktion und sollte den Spieler im Sinne seiner Gesundheit und nicht im kurzfristigen Interesse seines Trainers oder Managers behandeln. <br />Die Behandlung der Muskelverletzung erfolgt bereits auf dem Spielfeld oder Platz. P.R.I.C.E. (Protection, Rest, Ice, Compression, Elevation) gilt insbesondere für Muskelverletzungen. Nach der genauen Diagnostik können die Therapie, das Alternativtraining und der Return-to-Sport genau geplant werden. Die Therapie ist in aller Regel konservativ. Ausnahmen bilden schwere Muskelrisse mit Ruptur der intramuskulären Sehnenanteile (z. B. kompletter M.-rectus-femoris-Riss oder muskulotendinöser Abriss eines Gastrocnemiuskopfes) oder tendinöse Avulsionsverletzungen (z. B. komplette proximale Avulsionsrisse des M. rectus femoris). Grosse Hämatome können unter Ultraschall punktiert werden. Das führt zu einer raschen Schmerzreduktion und dazu, dass sich die gerissenen Muskelanteile für die Heilung näher aneinander legen, und reduziert das Risiko für eine Myositis ossificans. <br />Die Ruhigstellung, Schienen-/Bandagenversorgung und evtl. sogar Stockentlastung richten sich nach Lokalisation und Schweregrad. Die Heilung kann physiotherapeutisch und mit physikalischen Massnahmen (je nach Verletzungsgrad wärmend oder kühlend, Elektrotherapie, Ultraschall, Massagen, antientzündlich oder durchblutungsfördernd) unter Berücksichtigung der Wundheilungsphasen unterstützt werden. Über einen positiven Effekt von Infiltrationen (z. B. PRP, Actovegin, Kortison) gibt es keine evidenzbasierten Studien. Alternativtraining (z. B. Fahrradergometer, Aquajogging, AlterG – Antigravitationslaufband, Krafttraining) kann so weit ermöglicht werden, wie die Heilung nicht beeinträchtigt wird. Der Return-to- Sport erfolgt in aller Regel schrittweise in Bezug auf Intensität und Dauer der Belastung. Unter Anleitung von Sportphysiotherapeut und Reha-Trainer erfolgt zuerst das Einzeltraining am Ball, dann das Mannschaftstraining ohne, später mit Gegnerkontakt, und erst dann ist der Einsatz im Spiel wieder möglich. <br />Der schrittweise Belastungsaufbau ist wichtig, um die Muskelfasern in ihrer Funktion wieder aufzubauen und eine richtige Ausrichtung der Fasern zu fördern. Ansonsten bildet sich Narbengewebe, welches danach eine Schwachstelle ist und einen häufigen Grund für Rezidivverletzungen darstellt. <br />Entscheidend ist, dass der Sportler bzw. die Sportlerin jederzeit im schmerzfreien Bereich den Aufbau absolvieren kann. Daher ist die Länge der Stufen zeitlich nicht genau anzugeben. Grundsätzlich sind Pausen von mindestens 24 Stunden zwischen den Reha-Einheiten zu empfehlen, um die genaue Reaktion des Körpers auf die Belastung zu beobachten. Generell ist ein geduldiger Aufbau der schnellere Weg, um zu einer erfolgreich anhaltenden maximalen Belastbarkeit und zum Wettkampfsport zurückzukehren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_a3-tab3.jpg" alt="" width="792" height="519" /></p> <h2>Prävention</h2> <p>Aufgrund der Häufigkeit von Muskelverletzungen, der Bedeutung der Sportart und des Rezidivrisikos wurden verschiedene Präventionsprogramme zusammengestellt und es werden viele wissenschaftliche Studien zur Prävention von Fussballverletzungen insgesamt, aber auch zu Muskelverletzungen im Besonderen durchgeführt. Das bekannteste Präventionsprogramm ist sicherlich das FIFA 11+, welches verschiedene Trainingsübungen zur Verbesserung der Muskelfunktion (Kraft, Flexibilität) miteinbezieht. Zwar zeigen diese bei grossen Studienpopulationen gewisse präventive Effekte, trotzdem ist die Verletzungsinzidenz weiterhin hoch. Neuste Ansätze beschäftigen sich deshalb mit einem multimodalen Präventionskonzept. Dies beinhaltet:</p> <ul> <li>Verbesserung der Trainingsmethodik</li> <li>spezifisches Aufwärmprotokoll</li> <li>Instruktion von Verhalten im Verletzungsfall</li> <li>kontinuierliches Training und Instruktion der Trainer</li> <li>Instruktion von Eltern, Angehörigen und Umfeld</li> <li>Ausbildung der Spieler</li> </ul> <p>Diese multimodalen Ansätze scheinen erfolgversprechender zu sein. Bis sich jedoch wissenschaftlich etablierte Erkenntnisse auch im Alltag auf dem Rasen des Hobbyspielers durchgesetzt haben, wird es noch viele Anstrengungen brauchen.</p></p>
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