
Kinderorthopädie in Gefahr?
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Andreas Leithner
Universitätsklinik für Orthopädie und Traumatologie, Medizinische Universität Graz
E-Mail: andreas.leithner@medunigraz.at
Die Fokussierung auf (gewinnbringende) operative Eingriffe bei Erwachsenen hat in vielen Ländern die Kinderorthopädie marginalisiert. Es ist an der Zeit, hier gegenzusteuern, um nicht die Gesundheit der nächsten Generationen zu gefährden.
Keypoints
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Kinderorthopädie muss Teil der studentischen Lehre sein.
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Kinderorthopädie muss Teil der Fachärzt*innenausbildung sein.
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Universitäre, tertiäre Zentren müssen kinderorthopädische Schwerpunkte aufweisen.
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Die Kinderorthopädie gehört auch im niedergelassenen Bereich gestärkt.
Abb. 1: Ratschläge zur gesunden Körperhaltung (Nicolas Andry de Boisregard, 1743)
Ob der 83-jährige Pariser Rektor Nicolas Andry de Boisregard geahnt hat, dass er mit seinem Buch „L’Orthopédie ou L’art de prevenir et de corriger dans les enfants les difformités du corps“ nicht nur einen in viele Sprachen übersetzten Bestseller schreiben wird, sondern ein ganzes Fach danach benannt wird? Vermutlich nicht. Sein eigentlich mit den Ratschlägen zur gesunden Körperhaltung (Abb. 1) geschmücktes Buch war speziell an Eltern gerichtet. Scheinbar gab es schon vor fast 300 Jahren die Notwendigkeit der Prävention und Therapie von Haltungsschäden bei Kindern und Jugendlichen. Ersetzen Sie einfach das Buch in Abbildung 1 durch ein Handy – das Problem ist ident!
Der Name „L’Orthopédie“ setzt sich entsprechend auch aus dem altgriechischen „orthos“ („aufrecht, gerade, richtig“) und „paidion“ („Kinder“) zusammen. Orthopädie heutzutage hat aber nur noch in geringem Maße mit Kindern und Jugendlichen zu tun, vielmehr hat die Gruppe der (Fast-)Senioren vor allem durch die Bereiche der Endoprothetik einen Großteil der Orthopädie in Beschlag genommen, sodass das Fach heutzutage besser Orthogerie („aufrechte Senioren“) statt Orthopädie heißen sollte. Die benachbarte Orthogeriatrie hat sich ja bereits als interdisziplinärer Bereich etabliert.
Diese Fokussierung auf (gewinnbringende) operative Eingriffe bei Erwachsenen hat in vielen Ländern die Kinderorthopädie marginalisiert, an den Rand gedrängt. So stellte Prof. Wirth in einem Interview 2022 in der „Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie“ fest, dass sich im Bereich der Kinderorthopädie das Angebot seit 2010 verschlechtert habe, vor allem weil sie als finanziell unattraktiv gilt. Auch im universitären Bereich sowie in der fachärztlichen Ausbildung würde die Kinderorthopädie nicht entsprechend abgebildet werden (Lichert F: Z Orthop Unfall 2022; 160: 257-9).
Dem ist eigentlich wenig hinzuzufügen. Es besteht die eindeutige Gefahr, dass wir trotz klarer Verbesserungen im Bereich der Erwachsenenorthopädie (Register, Mindestfallzahlen, verbesserte Ausbildung) im Bereich der Kinderorthopädie zurückfallen, Stellen nicht mehr besetzen können und schlussendlich Wissen verlieren und damit auch die Gesundheit der nächsten Generationen gefährden. Daher ist meines Erachtens Folgendes zu fordern:
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Die Kinderorthopädie muss Teil der studentischen Lehre sein bzw. bleiben – auch um hier potenzielle Bewerber*innen für diesen Bereich begeistern zu können.
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Die Kinderorthopädie muss Teil der Fachärzt*innenausbildung bleiben (und daher dann aber auch entsprechend geprüft werden). Alle angehenden Fachärzt*innen der Orthopädie und Traumatologie müssen über ein kinderorthopädisches Basiswissen verfügen, das entweder durch verpflichtende Rotationen oder praxisnahe Kurse vertieft wird. Dieses Wissen sollte meines Erachtens auch fixer Bestandteil einer wieder einzuführenden mündlichen Prüfung sein.
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Universitäre, tertiäre Zentren müssen kinderorthopädische Schwerpunkte betreiben, die mit entsprechenden finanziellen und personellen Mitteln ausgestattet und in ein kindgerechtes Umfeld eingebettet sind. Die an sich im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) vorgesehene Fokussierung in sogenannten kinderorthopädischen Zentren gehört verpflichtend umgesetzt.
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Auch der niedergelassene Bereich muss sich seiner Verantwortung gegenüber dieser Altersgruppe bewusst sein, unterstützt durch regelmäßige, ggf. verpflichtende Fortbildungen sowie eine adäquate finanzielle Abgeltung.
Davon unabhängig sehe ich in den Bereichen Tumororthopädie sowie Skolioseoperationen bei Kindern und Jugendlichen die zunehmende Notwendigkeit einer staatlich gesteuerten Zentralisierung auf 2–3 Zentren in Österreich, wie sie beispielsweise in den Niederlanden oder Großbritannien teilweise bereits erfolgt ist.
Österreich kann eine lange Tradition weltberühmter und oftmals den Bereich der Kinderorthopädie revolutionierender Orthopäden aufweisen – beispielsweise Adolf Lorenz, Karl Chiari, Franz Grill, Reinhard Graf. Wir sollten uns nicht nur dieser historischen Taten bewusst sein, sondern als Gesellschaft daran arbeiten, dieses Spezialgebiet weiterhin zu bewahren und zu stärken.
Fazit
Abb. 2: Das „orthopädische Bäumchen“ (Nicolas Andry de Boisregard, 1743)
Die Kinderorthopädie ist nicht eine interessante Nische des Faches Orthopädie und Traumatologie, sondern historisch und fachlich das Fundament, auf dem der Bereich der Orthopädie fußt. Nicht umsonst ist das von Nicolas Andry de Boisregard kreierte orthopädische Bäumchen (Abb. 2) – analog zum kindlichen Körper – ein wachsender Baum und weder eine knorrige uralte Eiche noch ein Bonsai. Wir müssen die Kinder unserer Gesellschaft dem Stand der Wissenschaft entsprechend betreuen – sowohl in Prophylaxe als auch in Therapie.
Literatur:
beim Verfasser
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