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„Wer nicht angreift, kann nicht begreifen“

Prof. Hans Tilscher erklärt den Unterschied zwischen „Befunderkrankten“ und „Befindenserkrankten“ und beschreibt die Methoden der manuellen Medizin in der Diagnostik und Therapie von Beschwerden am Bewegungsapparat.

Zeit seines Berufslebens hat sich Prof. Dr. Hans Tilscher auf konservative Orthopädie und hier vor allem auf manualmedizinische Behandlungen spezialisiert. Im Jahre 1969 gründete er mit Prof. Franz Gerstenbrand die neuroorthopädische Ambulanz an der neurologischen Universitätsklinik in Wien, die bis zum Jahr 1981 bestand. 1971 schuf er die erste Abteilung für konservative Orthopädie und Rehabilitation und führte sie bis 2002. Tilscher hat zahlreiche Publikationen und Lehrbücher verfasst und gibt sein Wissen auch in Kursen weiter. Fast 19000 Kursteilnehmer wurden von ihm persönlich unterrichtet.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit manueller Medizin und können auf jahrzehntelange Erfahrung zurückblicken. Wie beurteilen Sie den Stellenwert der manuellen Medizin in der modernen Orthopädie?

H. Tilscher: Die menschliche Hand mit ihrer vollendeten Harmonie sensorischer und motorischer Fähigkeiten ist der Ausgangspunkt diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen in der Manualmedizin. Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates sind in den Industrieländern die häufigste Schmerzursache, wobei zwei Drittel davon Wirbelsäulenbeschwerden sind. Interessant ist, dass 85% der Wirbelsäulenbeschwerden unspezifisch sind. Das bedeutet, dass morphologische Darstellungen und Laborbefundungen keine diagnostischen Vorteile erbringen (es sei denn Ausschlussmöglichkeit!), sondern dass hier klinisch untersucht werden muss. Das Problem, das wir jetzt haben – und deshalb bin ich für das Gespräch sehr dankbar –, ist, dass die Ausbildung der Ärzt:innen an Abteilungen, Kliniken und Spitälern erfolgt, wo vor allem Patient:innen mit Strukturzerstörungen, also „Befunderkrankte“ behandelt werden, wo sie mit dem Labor, dem Röntgen, dem CT, dem MRI usw. die Diagnose erstellen können, um dann entsprechende – meistens chirurgische – Eingriffe vorzunehmen. Wenn diese Ärzt:innen dann in die Praxis gehen, sehen sie sich mit Patient:innen konfrontiert, die diese Strukturzerstörungen nicht aufweisen, sondern Strukturstörungen haben, also „Befindenserkrankte“ sind, die klinisch untersucht werden müssen, um zu entsprechenden Diagnosen zu kommen.

<< Bewegliches muss mit ruhenden Fingern und Ruhendes mit bewegten Fingern palpiert werden.>>

Wir müssen bei der manuellen Medizin die manuelle Diagnostik und die manuelle Therapie unterscheiden. Ein klinischer Untersuchungsgang ist das Testen der verschiedenen Funktionen, um die für die Krankheit typische Fehlfunktion zu finden. Einer der ersten großen Impulse, die ich persönlich durch die manuelle Medizin erhielt, war, dass ich nicht den morphologischen Gegebenheiten Folge leistete, sondern den Funktionsstörungen und Funktionszerstörungen.

Die klinische Untersuchung ist bei diesen 85% der Menschen mit unspezifischen Schmerzen weiterführend. Sie ist das Sammeln von einzelnen Befunden, die in ihrer Kombination die nosologische Einordnung eines Krankheitsbilds ermöglichen. Sie ist sowohl bei Funktionszerstörungen als auch bei Funktionsstörungen wichtig: Bei Funktionszerstörungen, wo die Pathomorphologie als Ursache der Beschwerden in Erwägung zu ziehen ist, ist die klinische Untersuchung hinweisend. Bei Funktionsstörungen ohne Pathomorphologie ist sie weiterführend und zielführend.

Welche diagnostischen Verfahren setzt die manuelle Medizin ein, um orthopädische Probleme zu beurteilen?

H. Tilscher: Bei der klinischen Untersuchung gibt es folgende Punkte, die auch in unserer Ausbildung enthalten sind: Zuerst einmal die Anamnese. Hier geht es nicht nur um Vorerkrankungen, sondern auch um den Ort und die Art des Auftretens der Beschwerden. Das zweite ist die Inspektion, das suchende Schauen nach hinweisenden weiterführenden Auffälligkeiten, wobei auch das Erscheinungsbild des Menschen diagnostisch eingeordnet wird. Allein schon die Begegnung mit dem Menschen, z.B. das Händeschütteln, kann kritische Details erkennen lassen. Geschlecht, Alter, die Haltung – die antalgische Fehlhaltung zum Beispiel –, die Alltagsbewegung, der Gang, das Gesicht, der Ausdruck und natürlich die Form beim Lokalstatus müssen berücksichtigt werden.

Dann folgt die Strukturpalpation, das Hingreifen. Denn nur wer hingreift, kann auch begreifen! Palpiert werden die Haut (Trophik, Temperatur, Feuchtigkeit), das Bindegewebe (Verquellung), die Muskulatur (Tonus, Form, Verhärtung), das Gelenk (Form, Erguss, Verdickung, Beweglichkeit), Gefäße (Form, Puls) und Strukturen (Neubildungen, Rückbildungen). Bewegliches muss mit ruhenden Fingern und Ruhendes mit bewegten Fingern palpiert werden. Weiters ist die Schmerzpalpation ein sehr wichtiger Faktor.

Das Nächste sind Provokationstests, wie Lasègue- bzw. Pseudo-Lasègue-Zeichen, Patrick-, Menell-, Zohlen-Test sowie Stauchungstests, Fersenfallversuche uvm. Mit den Provokationstests kann man spezifische Schmerzen, Schmerzerleichterung, Geräusche, Schwindel, Muskelaktivierungen oder Parästhesien erzeugen. Das alles sind kritische Details, Auffälligkeiten, die in ihrer Gemeinsamkeit die klinische Diagnose ermöglichen.

Dann folgen die Funktionsuntersuchungen der Muskulatur (Kraft, Dehnbarkeit, Ruhespannung, Triggerpunkte, muskuläre Maximalpunkte, segmentale Irritationspunkte etc.), der Gelenke (Beweglichkeit, aktiv und passiv), aber auch der Haut (Sensibilität) und des Zentralnervensystems (Bewegungsmuster, Koordination, Geschicklichkeit). Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass eine Fülle von neurologischen Untersuchungsmöglichkeiten Funktionen des Bewegungsapparates betreffen.

Natürlich sind bei der Diagnostik auch die technischen Befunderhebungen zu berücksichtigen. Oft gibt es dann auch eine Probebehandlung, die die Diagnose vertieft.

Das heißt, es gibt eine Fülle von Befunden, die diagnostisch aussagekräftig sind und in ihrer Gemeinsamkeit die vorliegende Schmerzsyndromatik erklären. Die klinische Untersuchung ist also nichts anderes als das Sammeln von hinweisenden weiterführenden Auffälligkeiten, die an etwas denken lassen, und ihre Verarbeitung und der Vergleich mit den Wissensinhalten aus der Ausbildung und der Erfahrung.

In welchen Bereichen sehen Sie die manuelle Medizin als Ergänzung oder sogar als Alternative zu invasiven und medikamentösen Behandlungsansätzen?

H. Tilscher: Der Bewegungsapparat ist für Druck- und Dehnungsreize programmiert. Manuelle Therapieformen bedienen sich daher physiologischer Reizqualitäten. Was die manuelle Therapie anstrebt, ergibt sich aus dem Ergebnis der klinischen Untersuchung, die erstens aus der topischen Schmerzdiagnose besteht (z.B. Lumbalgie, Zervikalsyndrom, Dorsalgie), zweitens aus der Identifikation der Struktur, die gestört ist. Die Therapie erfolgt in Abhängigkeit von der Aktualitätsdiagnose: Bei akuten Beschwerden ist der Reizabbau das Ziel, bei chronischen Beschwerden ist es das Reizsetzen.

Die manuelle Therapie zum Abbau von Reizen beinhaltet die Ruhigstellung des Gelenks oder des Muskels, die Counterstrain-Technik und die Traktion, die eine sehr wichtige Therapie für Gelenke ist. Die Traktion muss natürlich in einer Neutralstellung erfolgen und nicht in einer Extremstellung, die mit einer vermehrten Rezeptorenaktivität einhergeht.

Die Therapie chronischer Schmerzen erfolgt mit dem manuellen Setzen von Reizen über die Rezeptoren der Haut, der Muskulatur und der Gelenke. An der Haut ist das Reiben, Streichen und Rollen (Massage und Reflexzonenmassage). An der Muskulatur werden therapeutische Reize durch Drücken (Inhibition) und tiefes Reiben (Friktion) gesetzt. Weichteiltechniken sind meistens laterale Dehnungen und longitudinale Dehnungen. Eine besondere Weichteiltechnik der manuellen Medizin ist die postisometrische Relaxation, d.h., dass man nach einer Anspannung die kurze Relaxation der Muskulatur ausnützt, um sie zu dehnen und zu entspannen. Muskelenergie- und Faszientechniken kommen zum Einsatz und selbstverständlich kann auch die Heilgymnastik Reize an Muskeln und Gelenken setzen.

Beim Setzen von therapeutischen Reizen an Rezeptoren der Gelenke unterscheiden wir zwischen Mobilisation und Manipulation. Mobilisation ist das Bewegen in einem vom Gelenk aus vorgesehenen Bewegungsraum mit dem Ziel, die Bewegungsweite auszudehnen: passiv durch Ziehen, Gleiten, Dehnen und aktiv durch Muskelenergietechniken und die postisometrische Relaxation. Bei der Manipulation wird mit einem kurzen, schnellen, aber nicht traumatisierenden Ruck in den paraphysiologischen Raum des Gelenkes gegangen – das ist meistens begleitet von einem Krachgeräusch. Dieser Eingriff hat eine sehr intensive Reizwirkung an den Rezeptoren, die die Schmerzbilder im Zentralnervensystem beeinflussen.

Was die chirotherapeutische Manipulation angeht, ist die einzige Indikation dafür die Blockierung, das ist das Fehlen des translatorischen Gleitens, das man bei der klinischen Untersuchung festgestellt hat.

Das Gebiet der Manualmedizin ist also ein sehr großes und wissenschaftlich weitgehend aufgearbeitet. Invasive und medikamentöse Behandlungen sind bei Strukturzerstörungen geeignet, aber Strukturfunktionsstörungen sind die Indikation Nummer 1 für die Manualmedizin und die oben beschriebenen Formen der Reflextherapie.

Bei welchen orthopädischen Kranheitsbildern ist die manuelle Medizin besonders effektiv?

H. Tilscher: Das ist einmal die Hyperalgesie der Haut, wie zum Beispiel bei der Fibromyalgie: Fibromyalgie ist sozusagen schon eine Einladung an die Manualmedizin. Eine weitere Indikation sind Befunde an der Muskulatur, um hier die Syndromatik zu beeinflussen. Unverzichtbar ist die manuelle Therapie bei Gelenksstörungen im Sinne der Beweglichkeitseinschränkung. Eine Erkrankung, die immer häufiger wird und auch bei Jugendlichen zu beobachten ist, sind die Hypermobilitäten. Überbewegliche Gelenke dürfen natürlich nicht manipuliert werden, sondern sie müssen stabilisiert werden.

Ein typischer Fall für die manuelle Medizin ist auch das untere Zervikalsyndrom, wo der Patient den Punkt nicht zeigen kann, der ihm wehtut, nämlich zwischen den Schulterblättern. Dabei handelt es sich meistens um Blockierungen der Kostovertebralverbindungen und hier ist die Manipulation besonders effektiv.

Kann manuelle Medizin auch in der Prävention muskuloskelettaler Probleme hilfreich sein?

H. Tilscher: Durch die Beurteilung des Bewegungsapparates nach den oben erwähnten Punkten ist es möglich, gewisse Störfaktoren bei der Entstehung von Wirbelsäulenerkrankungen zu erkennen und sie – und das ist jetzt wichtig – individuell auszuschließen. Ein wichtiger Faktor dabei, der auch von uns gelehrt wird, ist das Schaffen eines Muskelstatus. Es geht bei der Muskulatur nicht nur um die Kraft, es kann ein Muskel auch verkürzt oder abgeschwächt sein; er kann aber auch hyperton sein.

Was weniger bekannt ist, ist, dass es posturale und phasische Muskeln gibt, die meistens Antagonisten sind, weshalb in der Prävention bzw. in der Rehabilitation die Notwendigkeit besteht, zuerst die verkürzten posturalen Muskeln zu dehnen, damit sie nicht nach dem Prinzip der reziproken Innervation bei der Kräftigung der phasischen Antagonisten stören.

Die manuelle Medizin hat also auch hier wichtige Erkenntnisse gewonnen und kann entsprechende Ratschläge für die Durchführung der Prävention und Rehabilitation liefern.

Denken Sie, dass die Möglichkeiten der manuellen Medizin in der medizinischen Praxis ausreichend ausgeschöpft werden?

H. Tilscher: Die Möglichkeiten der Manualmedizin werden in der medizinischen Praxis natürlich nicht ausreichend ausgeschöpft, weil dafür zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten im Studium vorgesehen sind.

Welche Ausbildungs- und Zertifizierungsstandards sollten Therapeuten erfüllen, um die manuelle Medizin sicher und effektiv in der Orthopädie anzuwenden?

H. Tilscher: Es ist von der Internationalen Gesellschaft für manuelle Medizin bzw. von der Österreichischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin ein Ausbildungsplan vorgesehen, der mit einer Abschlussprüfung endet und dann auch zum Führen eines Diploms berechtigt.

Ich persönlich bin habilitiert im Fach konservative Orthopädie unter besonderer Berücksichtigung der Manualmedizin. Mein erster Kurs, den ich halten durfte, fand 1969 statt und ich halte seither fast jedes Jahr entsprechende Kurse ab.

Kongress

„Die gestörte Lenden-Becken-Hüftregion“

28.–30. Juni 2024, Pörtschach

Information:
Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin (ÖÄGMM)
Sabine Witty
Telefon: +43 664 453 04 14
E-Mail: witty.sabine@gmail.com

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