
Endoskopische ventrale Stabilisierung thorakaler und lumbaler Wirbelkörperfrakturen
Jatros
Autor:
Ass.-Prof. Dr. Gholam Pajenda
Universitätsklinik für Unfallchirurgie, Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: gholam.pajenda@meduniwien.ac.at
30
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07.07.2016
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<p class="article-intro">Die Entwicklung neuer Instrumente und Implantate ermöglicht die videoassistierte endoskopische ventrale Rekonstruktion der thorakalen und thorakolumbalen Wirbelsäule. Eine präzise präoperative Analyse und Planung, subtile intraoperative Vorgehensweise unter Beachtung bestimmter Sicherheitsaspekte sowie der Einsatz spezieller Instrumente und Implantate sind wichtige Voraussetzungen. Die biomechanisch belastbare Rekonstruktion der ventralen Säule zur Vermeidung einer signifikanten posttraumatischen kyphotischen Fehlstellung ist gerade im Hinblick auf die langfristige Bedeutung der sagittalen Balance als wesentliches Behandlungsziel bei thorakolumbalen Wirbelsäulenverletzungen zu sehen.</p>
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<p class="article-content"><p>Schwere Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule sind meistens Folge eines Hochrasanztraumas oder Sturzes aus großer Höhe. Eine steigende Lebenserwartung und die Zunahme von degenerativen Veränderungen gehen mit einem Verlust der Kompensationsmechanismen der Wirbelsäule einher. Die Inzidenz schwerer Wirbelsäulenverletzungen nach Bagatelltraumen bei älteren Patienten zeigt eine steigende Tendenz. Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule führen zu Einschränkungen der Stützfunktion des Achsenskeletts und zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensqualität. Die statistische Auswertung zahlreicher Studien belegt die höhere Inzidenz der Verletzungen im Bereich der thorakolumbalen Wirbelsäule.<br /> <br /> Die operative Behandlung dieser Verletzungen erfolgt meistens primär über den dorsalen Zugang. Dies basiert einerseits auf der hohen biomechanischen Stabilität der Pedikelschrauben und anderseits auf der Möglichkeit der direkten Dekompression des Rückenmarks bei schwerwiegender Spinalkanalstenose.<br /> <br /> Die biomechanischen Untersuchungen an der Brust- und Lendenwirbelsäule haben gezeigt, dass beim aufrechten Stand die Lastübertragung überwiegend über die ventrale Säule erfolgt. Die dorsalen Elemente der Wirbelsäule erfüllen die wichtige Zuggurtungsfunktion. Die Rekonstruktion der ventralen Säule, vor allem im Bereich der thorakolumbalen Wirbelsäule, gewährleistet eine physiologisch adäquate Lastübertragung. Dadurch können eine Defektheilung und in der Folge eine posttraumatische Deformität der Wirbelsäule nach einer Verletzung vermieden werden.<br /> <br /> Die klassischen offenen Operationszugänge, wie Thorakotomie und Thorako-Phreniko-Lumbotomie, bedeuten einen großen operativen Eingriff mit hoher Zugangsmorbidität. Die Entwicklung endoskopischer Techniken hat es ermöglicht, diese Rekonstruktion mit minimal invasiver Methode durchzuführen und die Zugangsmorbidität entsprechend zu reduzieren. Ziel der Arbeit ist es, einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Methode zu bieten.</p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Für die bildgebende Diagnostik wird primär die native Röntgentechnik angewendet. Die Aufnahmen im Stehen sind zur Bestimmung der Gesamtachse, der sagittalen Balance und der Fehlstellung sehr informativ. Sie sind wichtig für die Verlaufsbeobachtung. In der Akutdiagnostik gewinnt die CT-Untersuchung zunehmend an Bedeutung, sie wird mittlerweile als Goldstandard betrachtet. Wirbelsäulenverletzungen sind meistens mit anderen schweren Verletzungen assoziiert. Polytraumatisierte und schwer verletzte Patienten werden standardmäßig im Rahmen des Polytraumamanagements mittels CT abgeklärt.<br /> <br /> Die CT-Analyse der Wirbelsäule wird zur Bestimmung der Destruktion des Wirbelkörpers und der Einengung des Spinalkanals und damit zur Frakturklassifikation angewendet. Die De-struktion der Bandscheibe kann in gewissem Ausmaß daraus abgeleitet werden. Die MRT ist aufgrund der hohen Sensitivität zur Beurteilung des Rückenmarks, der Bandscheibe und der dorsalen ligamentären Strukturen gut geeignet. Für den Fall einer rein ventralen Versorgung einer Wirbelkörperfraktur ist es unerlässlich, eine Verletzung der dorsalen Elemente mittels MRT auszuschließen.<br /> <br /> Die AO-Klassifikation hat sich für den Bereich der Wirbelsäule als nachvollziehbar erwiesen. Typ A beschreibt die Verletzungen des ventralen Anteiles der Wirbelsäule. Typ B beschreibt die Verletzung der knöchernen bzw. ligamentären dorsalen Zuggurtungselemente. Typ C beschreibt jegliche seitliche Dislokation der Wirbelsäule als ein Zeichen für einen Rotationsmechanismus der Kraft- und Gewalteinwirkung. Zur Bestimmung des Destruktionsausmaßes des Wirbelkörpers hat sich die McCormack-Klassifikation als hilfreich erwiesen und wird entsprechend häufig angewendet.</p> <h2>Die klinisch-neurologische Untersuchung</h2> <p>Die klinisch-neurologische Befunderhebung ist bei Patienten mit Wirbelsäulenverletzung von großer Bedeutung. Die Therapieentscheidung und vor allem der Zeitpunkt einer operativen Versorgung werden wesentlich davon beeinflusst. Zahlreiche Register- und Studiendaten deuten auf einen positiven Einfluss einer frühzeitigen operativen Versorgung bei neurologischen Defiziten hin. Zur systematischen Befunderhebung hat sich der ASIA-Score vor allem in Bezug auf die Prognose und die Verlaufsbeobachtung bewährt (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite49_1.jpg" alt="" width="704" height="364" /></p> <h2>Operationsplanung</h2> <p>In den überwiegenden Fällen werden diese Frakturen primär von dorsal stabilisiert. Bei der präoperativen Planung sind die anatomischen Verhältnisse des frakturierten Wirbels in Bezug zu den Nachbarorganen und dem Verlauf der Gefäße wichtig. Die Frakturen im Bereich der oberen BWS bis Th 8/9 sind meistens über die rechte Thoraxseite besser zugänglich, darunter sowie im Bereich der thorakolumbalen Wirbelsäule über die linke Thoraxseite. In Kooperation mit den Anästhesisten führen wir eine Bestimmung der Lungenfunktion durch. Damit kann die Möglichkeit der einseitigen Lungenbeatmung mittels Doppellumentubus präoperativ evaluiert werden. Das kontrollierte Kollabieren der Lunge auf der Zugangsseite bietet eine optimale Übersicht im Thoraxraum und die Kontrolle des Operationssitus (Abb. 2, 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite49_2.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Operationstechnik</h2> <p>Die adäquate Aufstellung der Bildschirme im Operationssaal und die Nutzung inverser Videotechnik erlauben dem Operationsteam eine optimale räumliche Darstellung des Operationsfeldes. In den letzten Jahren sind Instrumente und Implantate für diese Operationstechnik entwickelt und adaptiert worden, die eine sichere und ergonomische Arbeit ermöglichen. Bei der Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch muss auf eine adäquate Polsterung zur Dekubitusprophylaxe und Vermeidung von Lagerungsschäden geachtet werden (Abb. 1).<br /> Vor der sterilen Abdeckung werden die frakturierten Wirbel unter Bildverstärkerkontrolle dargestellt und zur besseren Orientierung und Lagebeziehung auf der Haut aufgezeichnet bzw. markiert. Damit können die optimale Lage des operativen Zuganges und die Arbeitskanäle bestimmt werden.<br /> Um einer pulmonalen Verletzung vorzubeugen, erfolgt der erste Zugang unter direkter Sicht und alle weiteren Zugänge können dann unter thorako-skopischer Kontrolle gesetzt werden. Die Insertion des Zwerchfells befindet sich etwa auf Höhe Th12/L1, sodass bei der Instrumentierung dieser Region ein Zwerchfellsplit erforderlich ist. Bei hochgradiger Spinalkanalstenose können eine sichere Dekompression des Rückenmarks und die stabile Rekonstruktion der ventralen Säule erreicht werden. Abhängig vom Knochensubstanzdefekt kann sowohl Knochenspan als auch Wirbelkörperersatz verwendet werden (Abb. 3).<br /> Der autologe trikortikale Knochenspan aus dem Beckenkamm gilt als Goldstandard und die Einheilungsrate ist bei monosegmentaler Verwendung mit additiver Stabilisierung sehr hoch. Jedoch ist die Entnahmemorbidität nicht gering und die Komplikationsrate wird in der Literatur zwischen 2 und 10 % angegeben. Diesem Umstand Rechnung tragend werden zunehmend Cages für die monosegmentale Fusion angeboten. Für eine bisegmentale Aufrichtung und Rekonstruktion stehen gute expandierbare Cages zur Verfügung.<br /> Die Operation kann sowohl in Seitenlage als auch in Bauchlage durchgeführt werden. Einige Autoren berichten über gute Erfahrungen mit der einzeitigen dorsoventralen Versorgung in Bauchlage.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite50_1.jpg" alt="" width="386" height="504" /></p> <h2>Methodenspezifische Risiken und Komplikationen</h2> <p>Die endoskopisch-ventrale Stabilisierung bedarf eines hohen logistischen Aufwands. Weiters ist die relativ flache Lernkurve zu berücksichtigen. Eine kleine, oberflächliche Pleura- und Lungenverletzung kann manchmal zu einem persistierenden Pneumothorax führen, der im Einzelfall eine verlängerte Dauer der Thoraxdrainage erfordert. Eine unzureichende Darstellung und Versorgung bzw. ein Übersehen von Verletzungen der segmentalen Gefäße kann aufgrund fehlender lokaler Kompression zu revisionspflichtigen Hämatomen führen. Eine Verletzung bzw. Kompression der Interkostalnerven durch die Arbeitstrokare kann temporär lokale Schmerzen verursachen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite50_2.jpg" alt="" width="943" height="659" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Die Frakturbehandlung der Brust- und Lendenwirbelsäule wird in der Literatur intensiv diskutiert. Vor allem die Frage, welche Behandlungsmethode, sei sie konservativ oder operativ, für welchen Verletzungstyp am günstigsten ist. Der Grund ist einerseits in der komplexen Natur der Verletzung und andererseits in der relativ raschen Entwicklung der chirurgischen und technischen Möglichkeiten zu suchen. Ein gemeinsames Ziel ist die Verringerung der Morbidität durch den Eingriff und weiters die Erhöhung der Effektivität der Maßnahmen.<br /> <br /> Die ventrale Instrumentierung hat historisch gesehen zu vergleichbaren Fusionsraten wie die dorsale Instrumentierung geführt. Es wurden zahlreiche Implantate (Dwyer-Hall staple-screw device, Kostuik-Harrington device, Dunn device, Kaneda device Syracuse I-plate) dafür verwendet. In der Literatur wird auf spezifische Probleme der jeweiligen Implantate und vor allem der Zugangsmorbidität bei der Thorakotomie bzw. Thorako-Phreniko-Lumbotomie hingewiesen.<br /> <br /> Die Ergebnisse aus der Literatur und aus Metaanalysen sowie Multicenterstudien um die Jahrtausendwende, wie z.B. die Ergebnisse der ersten Multicenterstudie der Arbeitsgemeinschaft Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, haben gezeigt, dass bei Verletzungen mit Beeinträchtigung der ventralen Säule Grenzen für rein dorsale Verfahren existieren. Gleichzeitig wurde der höhere Aufwand der technisch aufwendigeren kombinierten Verfahren festgestellt.<br /> <br /> Die umfassende chirurgische Versorgung wurde im deutschsprachigen Raum intensiv verfolgt. Die Entwicklung neuer Operationsmethoden, vor allem der endoskopischen Chirurgie, sowie Fortschritte auf dem Implantatesektor, wie der expandierbare Wirbelkörperersatz und adäquate Platten- und Stabsysteme für den endoskopischen Einsatz, haben neue Ansätze für das Management von schweren Wirbelkörperfrakturen gebracht. Die Ergebnisse der zweiten Multicenterstudie der Arbeitsgemeinschaft Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie haben gezeigt, dass radiologisch bessere Ergebnisse und ein geringerer Korrekturverlust mit einer kombiniert dorsoventralen Stabilisation im Vergleich zur isoliert dorsalen Operationstechnik erreicht werden können. Der Korrekturverlust ist bei Verwendung von WK-Ersatzimplantaten geringer als bei Verwendung von Knochenspänen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite51.jpg" alt="" width="387" height="601" /></p> <p>Viele Autoren sehen die Indikation zur Rekonstruktion der ventralen Säule bei Verletzungen im thorakalen und lumbalen Bereich, wenn eine erhebliche kyphotische Fehlstellung mit Destruktion der benachbarten Bandscheiben vorliegt. Zum Beispiel ist das bei den kompletten Berstungsbrüchen der Fall. Bei rein dorsaler Instrumentierung dieser Frakturen kommt es häufig zur sekundären Sinterung und zu kyphotischen Fehlstellungen.<br /> Die Frakturklassifikation, Knochenqualität und der Allgemeinzustand des Patienten sind wesentliche Faktoren, die individuell bei der Indikationsstellung für die ventrale Rekonstruktion berücksichtigt werden müssen. Es ist im Einzelfall zu entscheiden, ob eine mono- oder bisegmentale ventrale Spondylodese vorgenommen wird. Die Argumentation pro monosegmentale ventrale Spondylodese ist sicherlich aufgrund der Erhaltung eines Bewegungssegments gerechtfertigt. Der junge Patient mit gutem Knochenstock und inkomplettem Berstungsbruch ohne jegliche Verletzung der Grundplatte und der darunter liegenden Bandscheibe kann von dieser Vorgehensweise sicherlich profitieren. Beim älteren Patienten und gegebenenfalls etwas osteoporotischen Knochen ist auch in diesen Fällen eine bisegmentale Spondylodese mit Wirbelkörperersatz anzustreben. Höhergradige Instabilitäten, sekundäre Rekonstruktionen nach kyphotischer Deformität sowie eine verminderte Knochenqualität sind Argumente für eine zusätzlich ventral aufzubringende winkelstabile Platte.<br /> Das isoliert ventrale Vorgehen soll besonders kritisch betrachtet werden. In diesem Fall muss unbedingt eine Verletzung des dorsalen Bandapparates, z.B. mittels MRT, ausgeschlossen werden. Weiters ist eine gute Knochenqualität erforderlich. Zur Stabilisierung der Fraktur ist eine winkelstabile Platte – sowohl bei Verwendung von Knochenspan als auch bei Wirbelkörperersatz – erforderlich.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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