<p class="article-intro">Eine 52-jährige Patientin wurde aus der hausärztlichen Sprechstunde auf die Notfallstation mit seit 5 Tagen bestehender, druckdolenter Schwellung in der rechten Axilla und seit 3 Tagen bestehender Rötung, Schwellung und Überwärmung auf Höhe des DIP-Gelenks am rechten Zeigefinger zugewiesen, welche trotz peroraler Antibiotikatherapie mit Amoxicillin/Clavulansäure seit zwei Tagen progredient verliefen. Unter der Verdachtsdiagnose einer Beugesehnenphlegmone wurde ein handchirurgisches Konsilium angefordert.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Bei Weichteilinfekten, die unter Betalaktam-Antibiotika klinisch nicht besser werden, sollte insbesondere bei Anamnese eines Zeckenbisses oder bei Kontakt zu Nagetieren an Tularämie gedacht werden.</li> <li>Die Diagnose der Tularämie ist schwierig. Bei Verdacht muss das Labor informiert werden. Positive Antikörper müssen im Zusammenhang mit dem klinischen Verdacht interpretiert werden. Eine schnellere Diagnostik ist mittels PCR möglich.</li> <li>Aktuelle Therapieempfehlungen: Bei schweren Fällen Streptomycin oder Gentamicin i.v. für mindestens 7–10 Tage, bei milden Fällen Ciprofloxacin oder Doxycyclin p.o. für mindestens 2 Wochen.</li> </ul> </div> <p>Die Patientin war in gutem Allgemeinzustand und afebril (37,8° C). Klinisch zeigten sich eine periartikuläre Rötung und eine Schwellung palmar des DIP-Gelenkes an Dig II mit palpatorisch lokaler Druckdolenz über dem Beugesehnenkanal (Abb. 1a). Die passive Bewegung des DIPGelenkes war schmerzfrei. Eine flächige Rötung verlief entlang der Oberarminnenseite mit verstrichener Axilla und druckdolenter, axillärer Lymphadenopathie rechts (Abb. 1b). Der restliche Status war unauffällig.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s47_abb1.jpg" alt="" width="700" height="247" /></p> <h2>Befunde</h2> <p>Bei Eintritt betrug der Wert für die Leukozyten 10,0G/l und für das CRP 166mg/l. Im CT des Thorax und Abdomens wurden keine weiteren pathologischen Lymphadenopathien thorakal oder abdominal gefunden. 3x 2 Blutkulturen (anaerob und aerob) zeigten kein Keimwachstum.</p> <h2>Verlauf</h2> <p>Es erfolgte eine Abszessinzision am Dig. II mit Spülung und Drainage. Die intraoperative Exploration der Beugesehnenscheide ergab keine Pathologien. Es wurde eine empirische Antibiotikatherapie mit Amoxicillin/Clavulansäure 3x 2,2g i.v. initiiert, worunter sich entgegen der Erwartung eine Progredienz des klinischen Befundes und der laborchemischen Infektzeichen zeigte. Dieser für Hautkeime atypische klinische Verlauf liess den Verdacht aufkommen, dass für die Abszedierung unübliche Erreger verantwortlich sein müssen. Des Rätsels Lösung erbrachte das mikrobiologische Resultat: Francisella tularensis. Die spezifisch ergänzte Anamnese erbrachte, dass die Patientin die Hasen der Nachbarn versorgt hatte. Direkte Kratz- oder Bissverletzungen waren der Patientin nicht erinnerlich, anamnestisch wies sie jedoch eine Verletzung der Fingerkuppe des betroffenen Zeigefingers als Eintrittsstelle auf.</p> <h2>Diagnose</h2> <p>Ulzeroglanduläre Tularämie mit Abszedierung Dig. II sowie Lymphangitis und ausgedehnter Lymphadenopathie am Oberarm und an derAxilla rechts</p> <h2>Therapie</h2> <p>Nach dem Laborbefund F. tularensis erfolgte die Umstellung der empirischen Antibiotikatherapie auf Gentamicin 3x 100mg i.v. Bei persistierender Abszedierung am Zeigefinger wurden erneut ein Débridement und eine Spülung durchgeführt. Unter Gentamicin, welches unter stationären Bedingungen für 8 Tage verabreicht wurde, ergab sich ein günstiger klinischer Verlauf. Nach Austritt der Patientin wurde die Antibiotikatherapie mit Ciprofloxacin 2x 750mg p.o./Tag bis zum vollständigen Abheilen der Fingerphlegmone und der axillären Lymphadenopathie während 3 Wochen weitergeführt.</p> <h2>Diskussion</h2> <p>Der Erreger der Tularämie, F. tularensis, wurde von Dr. George McCoy 1911 durch eine pestähnliche Epidemie bei Eichhörnchen in der Region Tulare County in Kalifornien entdeckt. Die erste genaue Beschreibung der Krankheit erfolgte durch Dr. Edward Francis 10 Jahre später.<sup>1–3</sup><br /> Die Tularämie ist eine Zoonose in der nördlichen Hemisphäre und kommt dort v.a. zwischen dem 30. und 71. Breitengrad vor. Sie befällt über 100 verschiedene Tierarten, vor allem Hasen und kleinere Nagetiere. Die Inzidenz ist in den Sommermonaten am grössten, doch zeigt sich oft auch ein zweiter, wenn auch geringerer Anstieg in den Herbst- und Wintermonaten durch die Jagd von Wildtieren.<sup>1, 6</sup><br /> Bei anfänglich nur einzelnen dokumentierten Fällen pro Jahr in der Schweiz sind die Zahlen in den letzten Jahren deutlich steigend (Tab. 1). Dabei wurden 50 % der Fälle aus den Kantonen Zürich und Aargau gemeldet.<br /> Aufgrund der Seltenheit der Krankheit mit unterschiedlichen Manifestationsformen kann von vielen undiagnostizierten Fällen ausgegangen werden.<sup>4–6</sup> Die Diagnose wird zusätzlich durch das fehlende Wachstum auf den meisten Routinemedien im Labor erschwert.<sup>1</sup> Diese Vermutung wird auch durch die Resultate einer Studie gestützt, in der serologische Untersuchungen hinsichtlich F. tularensis in Leutkirch (DE, Bodenseeregion) eine Seroprävalenz in der Bevölkerung von 2,3 % zeigten.<sup>8</sup><br /> Die Übertragung auf den Menschen erfolgt durch direkten Kontakt mit erkrankten Tieren, kontaminierte Tierprodukte, Zeckenbisse (v.a. Zecken der Gattung Dermacentor und Amblyomma), Stiche anderer Insekten oder seltener durch Tierbisse, Konsum von ungenügend erhitztem Fleisch, Kontakt mit kontaminiertem Wasser/Erdreich oder durch Inhalation von Aerosolen. Bisher wurden keine Übertragungen von Mensch zu Mensch dokumentiert.<sup>1, 4</sup><br /> Die Tularämie wird durch F. tularensis, ein aerobes, gramnegatives Bakterium, verursacht. Am häufigsten treten die zwei Subspezies F. tularensis tularensis und holarctica auf, wobei Erstere virulenter ist.<sup>1, 2</sup> F. tularensis ist ein hochvirulenter Erreger, sodass bereits 10–50 Keime für eine Infektion ausreichen.<sup>1, 5, 6</sup> Die Inkubationszeit beträgt durchschnittlich 3–5 Tage, wobei Fälle mit einer Inkubationszeit bis zu 30 Tagen beschrieben sind. Am Anfang stehen akut einsetzende unspezifische Symptome wie Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, allgemeines Unwohlsein, Appetitlosigkeit sowie persistierend hohes Fieber.<sup>4</sup><br /> Je nach Virulenz der verursachenden Subspezies, der Eintrittspforte und der Immunitätslage des Patienten können 6 verschiedene klinische Manifestationsformen unterschieden werden (Tab. 2).<sup>1, 2, 6, 7</sup><br /> Die Differenzialdiagnose ist breit und reicht von den häufigen Infektionen mit Staphylococcus aureus und Streptococcus sp. über die Katzenkratzkrankheit (Bartonella henselae), Rattenbissfieber (Spirillum minus, Streptobacillus moniliformis), Mykobakteriose, Syphilis, Lymphogranuloma venereum, Toxoplasmose, Sporotrichose, Histoplasmose, Blastomykose, Coccidioidomykose, Anthrax und Pest bis hin zu Neoplasien.<sup>1</sup><br /> Die häufigsten Komplikationen umfassen Lymphknotenabszedierung, Sepsis mit diffuser intravasaler Gerinnung, Nierenversagen, Rhabdomyolyse, Hepatitis und in seltenen Fällen Meningoenzephalitis, Perikarditis, Peritonitis, Osteomyelitis und Milzruptur. Bei der typhoidalen Form kann die Letalität unbehandelt bis zu 30 % betragen.<sup>1, 6, 10, 11</sup><br /> Bei Wachstum von F. tularensis in der Kultur (Blut, Pleuraflüssigkeit, Hautbiopsie, Lymphknoten, Sputum, Pharyngealabstrich) ist die Diagnose bestätigt. Die Standardkulturen verbleiben jedoch häufig negativ, da zur Kultur ein spezielles Nährmedium nötig ist und die Kulturen länger als üblich bebrütet werden müssen.<sup>1, 7</sup> Aus diesem Grund und aufgrund der potenziellen Infektion des Laborpersonals durch Aerosole muss bei Verdacht auf F. tularensis unbedingt auf die Verdachtsdiagnose hingewiesen werden.<sup>1, 9</sup> Die Diagnostik kann auch aufgrund serologischer Tests erfolgen, wobei Antikörper frühestens 2 Wochen nach der Infektion positiv werden und anschliessend für Jahre erhöht sein können. Ein mindestens 4-facher Titeranstieg wird als Bestätigung der Diagnose gewertet.<sup>1</sup> Ein schnellerer Nachweis ist mittels PCR aus Wundflüssigkeit, Lymphknotenbiopsaten, Sputum oder Blut möglich. 1, 7 Die Sensitivität der PCR beträgt 78,3 % , die Spezifität liegt bei 96 % .<sup>6</sup><br /> Die in Tabelle 3 gezeigten Therapien haben sich bewährt, auch wenn bisher noch keine prospektiven randomisiertkontrollierten Studien die verschiedenen Antibiotika und die unterschiedliche Therapiedauer untersucht haben.<br /> Es gibt aktuell keine Impfung gegen die Tularämie. Präventiv werden Massnahmen zum Schutz vor Insekten- und Zeckenstichen, Handschuhe im Umgang mit wilden Nagetieren, Atemschutzmassnahmen bei staubbildenden Feldarbeiten und das ausreichende Erhitzen von Fleisch vor dem Verzehr empfohlen.<sup>1, 5, 6</sup><br /> Wegen der hohen Virulenz und der Stabilität in der Umwelt (F. tularensis überlebt in Tierkadavern, Schlamm oder Wasser mehrere Wochen) gehört die Tularämie zu den meldepflichtigen Krankheiten.<sup>4, 5</sup> Aufgrund der Möglichkeit der Aerosolübertragung mit pneumonischer Verlaufsform besteht das Risiko, dass F. tularensis als als biologische Waffe eingesetzt wird.<sup>1, 4</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s47_tab1.jpg" alt="" width="2151" height="217" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s47_tab2.jpg" alt="" width="2151" height="1021" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s47_tab3.jpg" alt="" width="2151" height="845" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Penn RL: Francisella tularensis (tularemia). In: Mandell GL, Bennett JE, Dolin R (eds): Principles and Practice of Infectious Diseases. 8<sup>th</sup> ed. Philadelphia: Churchill Livingstone, 2015. S. 2590ff <strong>2</strong> Lyko C, Chuard C: Rev Med Suisse 2013; 9: 1816-20 <strong>3</strong> Francis E : JAMA 1925; 84: 1243-50 <strong>4</strong> Bundesamt für Gesundheit (BAG): Zahlen zu Infektionskrankheiten. www.bag.admin.ch <strong>5</strong> Bloch C et al.: Internist 2013; 54(4): 491-7 <strong>6</strong> Longo MV et al.: Hindawi Publishing Corporation, Case Reports in Medicine, vol. 2015, Article ID 191406, 4 Pages <strong>7</strong> Splettstoesser WD et al.: Epidemiol Infect 2009; 137: 736-43 <strong>8</strong> Bloch-Infanger C et al.: Infection 2016; 44(4): 539-41 <strong>9</strong> Evans ME et al.: Medicine (Baltimore) 1985; 64(4): 251 <strong>10</strong> Penn RL, Kinasewitz GT: Arch Intern Med 1987; 147: 265 <strong>11</strong> Bennett JE et al.: Mandell, Douglas, and Bennett’s Principles and Practice of Infectious Diseases. 8<sup>th</sup> Edition. Oxford: Elsevier, 2014. Figure 229-4; Figure 229-2</p>
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