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Die konservative Behandlung der Oberarmkopffraktur: Welche Evidenz gibt es?

Die proximale Humerusfraktur ist eine der häufigsten Frakturen des Menschen. Nach den Schenkelhals- und distalen Radiusfrakturen ist sie die dritthäufigste Fraktur bei Osteoporose, deren Inzidenz hat sich in den letzten 10 Jahren nahezu verdoppelt. Etwa 80% der Patienten sind über 60 Jahre alt. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wird diese Verletzung immer mehr an sozioökonomischer Bedeutung gewinnen.

Die Arbeitsgruppe um Razaeian und Krettek aus Hannover fasst in einer Arbeit von 2022 zusammen, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Rate der operativen Versorgung proximaler Humerusfrakturen zwischen 2007 und 2016 um 38,8% gestiegen ist, ungeachtet dessen, dass eine Reihe von randomisierten Studien und Metaanalysen bisher keine Überlegenheit der operativen gegenüber einer konservativen Therapie bei geriatrischen Patienten, der am häufigsten betroffenen Gruppe, belegen konnte.1

Die aktuelle S1-Leitlinie „Oberarmkopffraktur“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hält zwar fest, dass ein Großteil aller Frakturen konservativ behandelt werden kann.2 Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich jene konservative Therapie genau gestalten lässt.

Indikation

Neben vielen anderen Klassifikationen hat sich die Neer-Klassifikation etabliert, mit der die Frakturen nach Anzahl und Lokalisation der dislozierten Fragmentblöcke eingeteilt werden. Eine Fragmentverschiebung von mehr als 1cm und/oder eine Achsabweichung von mehr als 45° werden als disloziert eingestuft. Frakturen, bei denen der Grad geringer ist, gelten als minimal disloziert, unverschobene Frakturen als undisloziert. Gemäß der aktuellen Literatur sind etwa 80% der Frakturen wenig oder nicht disloziert.

Therapieempfehlungen auf Basis der kontrovers diskutierten Definition von wenig disloziert (<1cm, <45°) und disloziert (>1cm, >45°) müssen ggf. auf Basis neuer Studien vor allem beim jungen Patienten kritisch überdacht werden. Beim jungen Patienten ist die Toleranz für Fehlstellungen geringer als beim älteren Patienten. Bis heute ist wenig klar, bis zu welchem Ausmaß Fehlstellungen toleriert werden.

Im Vergleich zum jüngeren Patienten ist die Indikationsstellung beim geriatrischen Patienten deutlich mehr durch Komorbiditäten, insbesondere den mentalen Zustand sowie den funktionellen Anspruch des Patienten, beeinflusst. Im Vordergrund steht beim alten Patienten die Funktionalität vor der anatomischen Rekonstruktion. Das vorrangige Ziel in der Alterstraumatologie ist die Schmerzminderung bzw. -freiheit.

Beim älteren Patienten sollten unter Kenntnis der neueren prospektiv-randomisierten Studien die konservative Behandlung oder die inverse Prothese in Betracht gezogen werden.

Als zwingende OP-Indikationen werden in der aktuellen Literatur in allen Altersstufen Luxations- und manche Headsplit-Frakturen, offene Frakturen, Frakturen mit einer Gefäß-Nerven-Beteiligung bzw. mit einem drohenden Weichteilschaden, die meisten pathologischen Frakturen und die nicht reponierbaren Schaftdislokationen >50% Schaftbreite definiert.

Ergebnisse der konservativen im Vergleich zur operativen Behandlung

In der multizentrischen, randomisierten PROFHER-Studie wurden 250 Patienten mit operativer und konservativer Therapie verglichen und 2 Jahre nachuntersucht.3 Die Ergebnisse wurden anhand von Oxford-Shoulder-Score, SF12 und Komplikationsraten ausgewertet. In allen Bereichen fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen konservativer und operativer Therapie, sodass die Autoren schlussfolgerten, dass der Trend zur operativen Stabilisierung dislozierter proximaler Humerusfrakturen nicht gerechtfertigt sei. Ähnliche Ergebnisse wurden in einer Studie von Brouwer et al. gezeigt, ebenfalls bei einer vergleichbaren Anzahl an Patienten.4 Hier konnte bei einer sehr langen Follow-up-Zeit von 10 Jahren ebenfalls kein Vorteil zugunsten einer operativen Versorgung bei 3- und 4-Part-Frakturen gezeigt werden.

Court-Brown et al. haben gezeigt, dass beim älteren Patienten Alter, Dislokationsgrad und Frakturtyp die wesentlichen Prädiktoren für das funktionelle Behandlungsergebnis nach proximaler Humerusfraktur sind.5 Die Art des Behandlungsverfahrens (Osteosynthese oder nicht operative Behandlung) hatten dagegen keinen Einfluss auf das Behandlungsergebnis. Laut Literatur zeigt die konservative Behandlung in diesem speziellen Patientenkollektiv in 60–80 % der Fälle gute Ergebnisse.

In einem Übersichtsartikel über die proximale Humerusfraktur von Krettek findet sich bei Patienten über 60 Jahre kein Nachweis von Vorteilen der operativen Therapie gegenüber der konservativen Therapie.6 Das funktionelle Ergebnis war vergleichbar, es zeigten sich aber statistisch höhere Komplikationsraten in der Gruppe mit Operation (20–50%).

Die Gruppe um Krettek aus Hannover konstatierte in einem Übersichtsartikel aus 2016, dass bei hohen Komplikations- (um 30%) und Revisionsraten (um 20%) durch ein operatives Verfahren keine Verbesserung für die Patienten im Vergleich zur konservativen Therapie erreicht werden konnte.6 Die Gruppe stellte fest, dass trotz massiver Bemühungen der Industrie und trotz des Einsatzes „moderner“ Implantate mit immer noch mehr Verriegelungsmöglichkeiten für die dislozierten proximalen Humerusfrakturen bei älteren Patienten über 60 Jahre kein Nachweis von Vorteilen der operativen Therapie vorliegen würde, der die hohen Komplikations- und Revisionsraten rechtfertigen würde. Dabei muss allerdings einschränkend berücksichtigt werden, dass lediglich randomisierte Studien mit Frakturprothesen vorliegen, nicht aber mit inversen Prothesen. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurden minimalinvasive Verfahren wie Humerusblock oder augmentierende Verfahren. Die Autoren schlussfolgerten, dass die aktuell vorliegenden Daten die zurzeit äußerst großzügig gestellten Indikationen beim älteren Patienten nicht rechtfertigen würden.

Konventionelle oder inverse Prothesen sind komplexen nicht rekonstruierbaren Frakturformen vorbehalten. Auch für die dislozierte 4-Teile-Fraktur des über 60-jährigen Patienten ist der statistisch begründete Nachweis der Überlegenheit der Frakturprothese gegenüber der konservativen Behandlung in zwei prospektiv-randomisierten Studien nicht gelungen.7,8 Es bleibt abzuwarten, inwieweit inverse Prothesenkonzepte hier besser abschneiden. Derzeit gibt es keinen direkten Vergleich zwischen der inversen Prothese und der konservativen Therapie, jedoch erscheint in Anbetracht der Studienlage eine konservative Therapie eine sinnvolle Alternative zur inversen Prothese beim älteren Menschen zu sein.

Weitere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Patienten, die entweder primär endoprothetisch oder verspätet endoprothetisch mittels inverser Prothese versorgt wurden, auch nach fehlgeschlagener konservativer oder osteosynthetischer Behandlung ähnliche mittelfristige Ergebnisse aufweisen.9,10 Diese Arbeiten zeigen nur leicht bessere Ergebnisse nach der primären Implantation, die statistisch nicht signifikant waren, wobei limitierend hier nur kleine Fallzahlen zu Verfügung stehen. Die Autoren schlussfolgerten, dass die Option der konservativen Therapie stets in Betracht gezogen werden sollte, da auch das „Salvage“-Prozedere bei inversen Prothesen zu zuverlässigen und zufriedenstellenden Resultaten führt.

Zusammengefasst konnte in einer Reihe randomisierter Studien und Metaanalysen bisher keine Überlegenheit der operativen gegenüber einer konservativen Therapie bei geriatrischen Patienten, der am häufigsten betroffenen Gruppe, gezeigt werden.3,8 Zudem würde gemäß dem letzten systematischen Cochrane-Review von 2015 die Evidenz belegen, dass eine Operation mit mehr Komplikationen und höheren Folgeoperationsraten verbunden sei, wobei hier winkelstabile Plattensysteme bzw. Humerusnägel vergleichbare Ergebnisse erzielten.11

Technik der konservativen Behandlung

Die konservative Behandlung lebt von dem Verständnis der auf die Fraktur wirkenden sogenannten „deforming forces“, dem Einfluss der Gravitationskraft und dem gezielten Einsatz von Hilfsmitteln unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie.1

Bei der konservativen Therapie erfolgt nach einer möglichst kurzen Immobilisation eine frühzeitige schmerzlimitierte passive Mobilisation der Schulter, um ein Einsteifen des Gelenks zu vermeiden. Insbesondere sollte vom ersten Tag an auch bei der konservativen Therapie eine Physiotherapie der nicht fixierten Gelenken mit entsprechender Entstauungstherapie erfolgen.

Die konservative Behandlung erfolgt in Abhängigkeit von der Dislokationsrichtung im Gilchrist-Verband mit oder ohne Hypomochlion (valgisch impaktiert) oder im Abduktionskissen (varisch). Ab der zweiten Woche werden Pendelübungen durchgeführt. Röntgen- und klinische Kontrollen erfolgen dann abhängig vom hausinternen Standard in regelmäßigem Abstand.

Bezüglich der Technik der konservativen Therapie darf auf die rezente Übersichtsarbeit von Razaeian et al. erwiesen werden.1

Diskussion

Der Großteil proximaler Humerusfrakturen kann unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur erfolgreich konservativ behandelt werden. Die konservative Behandlung lebt vom Verständnis der „deforming forces“, dem Einfluss der Gravitationskraft und dem gezielten Einsatz von Hilfsmitteln unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie.

In Zusammenschau der aktuell zu Verfügung stehenden Literatur konnte in einer Reihe randomisierter Studien und Metaanalysen bisher keine Überlegenheit der operativen gegenüber einer konservativen Therapie bei geriatrischen Patienten, der am häufigsten betroffenen Gruppe, gezeigt werden, wobei die aktuelle Evidenz belegt, dass eine Operation mit mehr Komplikationen und höheren Folgeoperationsraten verbunden ist.3,4,6–8

Bei nicht hinreichend abfallendem Schmerzgradienten und Ausbleiben der zeitgerechten Steigerung von Aktivitäten sollte mit dem Patienten eine Konversion auf eine operative Therapie diskutiert werden. Frakturmorphologie, rein radiologische Zeichen der sekundären Dislokationen wie auch klinisch gut kompensierte Deformitäten spielen hingegen bei der überwiegend geriatrischen Patientengruppe eine eher untergeordnete Rolle für die Therapieentscheidung.

Krettek fasst zusammen, dass, so wie eine erfolgreiche operative Therapie fachliche Expertise, Lernkurve und technische Ausstattung voraussetzt, auch eine konservative Therapie eine entsprechende Expertise, geschultes Fachpflegepersonal im Umgang mit Hilfsmitteln/Gipsanlagen und auch eine technische Ausstattung voraussetzt.6

Der ältere Patient ist nicht ausschließlich durch das kalendarische Alter definiert, sondern grundsätzlich müssen immer auch andere patientenbezogene Faktoren (Komorbidität, Aktivitätsanspruch, Begleitverletzungen) miteinbezogen werden. Dies ist sicherlich eine Limitation aktueller Studien und somit ist für die Therapieentscheidung eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung mit einer entsprechenden Aufklärung des Patienten über das Behandlungsziel und die notwendige Behandlungsstrategie notwendig.

1 Razaeian S et al.: Obere Extremität 2022; 17: 162-71 2 S1-Leitlinie Oberarmkopffraktur. 2017; www.awmf.org; Reg. Nr. 012-023 3 Rangan A et al.: JAMA 2015; 313(10): 1037-47 4 Brouwer ME et al.: Eur J Trauma Emerg Surg 2019; 45(1): 131-8 5 Court-Brown CM et al.: J Bone Joint Surg Br 2001; 83: 799-804 6 Krettek C et al.: OUP 2016; 5(1): 22-32 7 Boons HW et al.: Clin Orthop Relat Res 2012; 470: 3483-91 8 Olerud P et al.: J Shoulder Elbow Surg 2011; 20: 1025-33 9 Kuhlmann NA et al.: Semin Arthroplasty 2020; 30(2): 89-95 10 Weber S et al.: Eur J Orthop Surg Traumatol 2023; 33(5): 1581-9 11 Handoll HHG, Brorson S: Cochrane Database Syst Rev 2015; 11: CD00043

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