
Artifizielle Wunden
Autorinnen:
cand.med. Corinna Solochin
PD Dr.med. Cornelia Erfurt-Berge
Medizinisches Wundcentrum ICW/DDG
Hautklinik
Uniklinikum Erlangen
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Im Bereich der Dermatologie wirft die Diagnose artifizieller Wunden ein faszinierendes Licht auf komplexe psychosoziale Dynamiken. Diese ungewöhnlichen Hautläsionen fordern nicht nur die diagnostischen Fähigkeiten heraus, sondern bilden auch eine Schnittstelle zwischen modernem Wundmanagement und Psychodermatologie.
Keypoints
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Artifizielle Wunden entstehen durch das Erzeugen oder Verschlechtern von Wunden.
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Sie befinden sich oft an leicht zugänglichen Lokalisationen, meist ist die nichtdominante Extremität betroffen.
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Besonders bei Widersprüchen zwischen der Symptomatik und den Untersuchungsergebnissen sollte daran gedacht werden.
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Der erfolgreiche Umgang damit erfordert einen einfühlsamen Beziehungsaufbau und Empathie seitens des medizinischen Personals, um den Patienten zur Offenheit gegenüber einer notwendigen psychotherapeutischen Behandlung zu bewegen.
Artifizielle Wunden zeichnen sich durch das absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen Symptomen aus. Betroffene neigen dazu, heimlich oder unbewusst Manipulationen an vorhandenen Wunden vorzunehmen oder tiefe Verletzungen der Haut zu verursachen. Die Motivation für dieses Verhalten kann vielfältig sein. Einige übernehmen gezielt die Krankenrolle, um Zuneigung zu erhalten. Andere nutzen die Selbstverletzung als Bewältigungsmechanismus für stressige Lebensereignisse.1 Verschiedene Faktoren begünstigen das Auftreten, darunter das weibliche Geschlecht, eine Beschäftigung im Gesundheitswesen und unverheiratet zu sein.2 Gerade bei unklarer Diagnose einer chronischen Wunde müssen artifizielle Störung differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
Im Folgenden werden einige zugrunde liegenden Störungen näher besprochen.
Dermatitis artefacta
Dermatitis artefacta stellt eine Störung dar, bei der die Patient:innen Läsionen an Haut, Haaren, Nägeln oder Schleimhäuten selbst erzeugen. Das Motiv dieser Handlungen ist oft unterbewusst und dient u.a. der Zufriedenstellung eines inneren Drangs oder der Erregung von Aufmerksamkeit.3 Das selbstverletzende Verhalten findet dabei im Verborgenen statt und wird vor den Behandlern strikt verheimlicht. Die Läsionen, die im Rahmen der Dermatitis artefacta auftreten, manifestieren sich in unterschiedlichen Formen, darunter Erosionen, Exkoriationen, erythematöse Papeln, Ulzerationen, einschließlich nicht heilender postoperativer Wunden. Diese Hauterscheinungen zeigen sich an gut zugänglichen Hautarealen wie dem Gesicht, den unteren Extremitäten und Händen, wobei die nichtdominante Extremität häufig betroffen ist. Verdachtsmomente ergeben sich aus Hautläsionen mit bizarr wirkender Konfiguration,4 wobei die Ulzerationen polymorph, zirkulär, linear oder gewinkelt sein können.
Die Anamnese zur Entstehung der Ulzerationen ist oft unklar und häufig erfunden. Dabei wird angegeben, dass die Wunden plötzlich und vollständig ausgebildet auftreten, wobei der Fokus eher auf der Beschreibung der Komplikationen und des Ausbleibens der Heilung liegt. In Bezug auf den Affekt zeigen die Patienten eine eher passive Haltung und sind teilweise überraschend unbeteiligt.5
Skin-Picking-Syndrom
Das Skin-Picking-Syndrom ist eine Form der Zwangsstörung, die durch wiederholtes Kratzen, Reiben und Manipulieren der Haut gekennzeichnet ist (siehe Abb. 1). Dieses Verhalten resultiert aus vermeintlichen Missempfindungen, etwa einem Gefühl von Unebenheit oder einem kribbelnden Jucken der Haut. Patienten investieren häufig Stunden am Tag, um ihre Haut zu manipulieren,6 was erhebliche Auswirkungen auf das Sozial- und Berufsleben und das Selbstwertgefühl haben kann. Auslöser dieser Erkrankung können vor allem Stress, Angst und Langeweile sein.7 Die Erkrankung geht mit starken Schamgefühlen und Vermeidungsverhalten einher. Das Schamgefühl führt dazu, dass Patient:innen keine Hilfe suchen, da sie ihre Erkrankung als „schlechte Angewohnheit“ oder als unbehandelbar ansehen.
Abb. 1: Patientin mit V.a. Skin-Picking-Syndrom. Oberflächlich ulzerierende, teils schon narbig abgeheilte Läsionen isoliert im Kinn- und Unterkieferbereich
In Bezug auf die Diagnose sind Scham und das Gefühl, nicht aufhören zu können, wichtige Hinweise. Bei gezielter Nachfrage wird die Handlung in der Regel nicht abgestritten.
Münchhausen-Syndrom
Das Münchhausen-Syndrom ist eine klinische Form selbstverletzender Verhaltensweisen, bei der Betroffene Krankheitssymptome künstlich erzeugen, um den Anschein eines „kranken Patienten“ zu erwecken. Dies kann verschiedene Formen von Manipulationen, einschließlich der Erzeugung von Wunden, umfassen. Traumatische Kindheitserlebnisse, der Tod eines geliebten Menschen in jungen Jahren und das Gefühl des Verlassenseins werden als mögliche Einflussfaktoren diskutiert.8 Das vorherrschende Motiv hinter diesem Verhalten liegt meist in dem Bedürfnis nach Zuwendung. Zu den Hinweisen auf das Vorliegen eines Münchhausensyndroms gehören häufige Arzt- und Krankenhauswechsel, eine extrem hohe Toleranz für Prozeduren, ein schlechtes Ansprechen auf Standardtherapien sowie die Verweigerung der Einsicht in frühere Krankenakten.9,10 Zudem zeigen sich ein ungewöhnlicher Krankheitsverlauf, den der Patient bzw. die Patientin oftmals vorhersagen kann, sowie das erneute Auftreten bzw. die Verschlimmerung von Symptomen, wenn die Entlassung unmittelbar bevorsteht. Die Patienten zeigen sich fordernd und aggressiv, sobald ihren Wünschen nicht entsprochen wird. Allerdings präsentieren sie sich als „Musterpatient“ bzw. „Musterpatientin“, solange ihre Vorstellungen und Erwartungen erfüllt werden.
Weitere mögliche Ursachen für artifizielle Wunden
Die Ursachen artifizieller Störungen umfassen ein breites Spektrum. Bei Vorliegen psychiatrischer Grunderkrankungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung führen die Betroffenen auffällig gleichförmige, parallel verlaufende und oberflächliche Verletzungen der Haut durch. Diese Handlungen dienen dem Lösen eines hohen Anspannungslevels, wobei der Impulskontrollverlust eine wichtige Rolle einnimmt.
Beim Wahn, speziell dem Dermatozoenwahn, haben Betroffene die Vorstellung, dass sich Lebewesen, insbesondere Insekten, Würmer oder Milben, unter der Haut befinden. Dies kann mit haptischen Halluzinationen einhergehen. Die durch Reinigungsversuche und intensives Kratzen resultierenden Hautschäden führen zu einem erheblichen Leidensdruck und einer starken Einschränkung der Lebensqualität. Ähnliches ist bei Zwangsstörungen zu beobachten. Bei Diskrepanzen zwischen den angegebenen Symptomen und den objektiven Labor- sowie körperlichen Untersuchungsergebnissen sollte auch an Simulation gedacht werden. Die Motivation hierzu umfasst externe Anreize im Zusammenhang mit dem Aufrechterhalten einer Wunde, wie Rentenbegehren, finanzielle Vorteile oder Rechtsstreitigkeiten.
Allgemeines Vorgehen
Die Diagnosestellung in der Praxis gestaltet sich als herausfordernd, weshalb die Diagnostik auf klinische Anzeichen und anamnestische Verdachtsmomente ausgerichtet wird. Ein grundlegender Schwerpunkt liegt auf dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung,2 auch um ein Ärztehopping zu vermeiden. In Bezug auf die Therapie ist die psychiatrische Anbindung anzustreben, auch wenn dies oft nicht unmittelbar erfolgreich ist, da Betroffene ihr psychisches Leiden häufig verleugnen. Daher sollte der Arzt eine akzeptierende, einfühlsame und nicht wertende Haltung einnehmen und offene Konfrontationen vermeiden. Neben psychotherapeutischen Maßnahmen kann der Einsatz von Psychopharmaka hilfreich sein. Hierbei können Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, niedrig dosierte atypische Antipsychotika und andere Sedativa auch durch den erfahrenen Dermatologen erwogen werden. Es ist wichtig, Komplikationen zu vermeiden und unnötige Diagnostik zu unterlassen. Empathie und regelmäßige Gesprächsangebote tragen zusätzlich zum Therapieerfolg bei. Die Regeln einer modernen Wundversorgung mit hydroaktiven Wundauflagen sollten dabei wie bei jeder anderen chronischen Wunde eingehalten werden. Artifizielle Störungen sind Langzeiterkrankungen, weshalb Patient:innen regelmäßig von einem interdisziplinären Team, einschließlich Dermatolog:innen und Psychiater:innen, betreut werden sollen.11
Fazit
Bei unklaren und bizarr konfigurierten Wunden sollte auch an artifizielle Störungen gedacht werden. Es gibt einige Verdachtsmomente, die darauf hinweisen können (siehe Tab.1). Bei der Anamnese und Untersuchung sollte besonders auf das Vorliegen psychosozialer Belastungen geachtet werden. Ein fundamentaler Aspekt ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.
Literatur:
1 Carnahan KT, Jha A: Factitious disorder. In: StatPearls Publishing LCC 2023 2 Krahn LE et al.: Patients who strive to be ill: factitious disorder with physical symptoms. Am J Psychiatry 2003; 160(6): 1163-8 3 Chandran V, Kurien G: Dermatitis artifacta. In: StatPearls Publishing LCC 2023 4 Verraes-Derancourt S et al.: [Dermatitis artefacta: retrospective study in 31 patients]. Ann Dermatol Venereol 2006; 133(3): 235-8 5 Tittelbach J et al.: Histopathological patterns in dermatitis artefacta. J Dtsch Dermatol Ges 2018; 16(5): 559-64 6 Torales J et al.: Psychodermatology of skin picking (excoriation disorder): A comprehensive review. Dermatol Ther 2020; 33(4): e13661 7 Schumer MC et al.: Systematic review of pharmacological and behavioral treatments for skin picking disorder. J Clin Psychopharmacol 2016; 36(2): 147-52 8 Weber B et al. (Ed.): Munchhausen Syndrome. In: StatPearls Publishing LCC 2023 9 Noeker M, Franke I: [Interviewing children in cases of suspected child endangerment: pitfalls and quality assurance]. Bundesgesundheitsblatt Geundheitsforschung Gesundheitsschutz 2018; 61(12): 1579-86 10 Abeln B, Love R: An overview of Munchausen syndrome and Munchausen syndrome by proxy. Nurs Clin North Am 2018; 53(3): 375-84 11 Bass C, Halligan P: Factitious disorders and malingering: challenges for clinical assessment and management. Lancet 2014; 383(9926): 1422-32