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Zahl der ADHS-Diagnosen steigt

„Wir sind auditiv schnell überfordert!“

Immer mehr Kinder, aber auch Erwachsene erhalten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Psychotherapeut Mag. Christoph Sindelar erzählt in unserem Gespräch, wann eine Diagnostik Sinn macht, was ADHS für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet, auf welche Warnzeichen man in der frühen Kindheit achten sollte und ob die Diagnose verhindert werden kann.

In welchen Fällen ist eine pharmakologische Behandlung von ADHS ausreichend?

C. Sindelar: Meiner Erfahrung nach ist eine rein medikamentöse Therapie nur ganz selten sinnvoll und auf lange Sicht nicht zielführend. ADHS ist eine symptomorientierte Diagnose. Das heißt, dass eine Medikation immer „nur“ die Symptome behandelt und daher „nur“ symptomorientiert wirken kann. Vor allem Eltern verstehen das oft falsch. In den meisten Fällen behebt die Medikation das Symptom, aber häufig stand schon vor dem Symptom etwas, bis es zur Entwicklung des Symptoms kam, und das gilt es anzuschauen.

Woran man auch denken muss, ist die sekundäre Neurotisierung. Kinder und Jugendliche mit ADHS tun sich mit der Sozialisierung schwer. Sie gelten oft als Klassenkasper und das macht sekundär natürlich auch etwas mit ihnen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass die ADHS-Diagnose oder die ADHS-Behandlung per se unbedingt eine therapeutische Intervention braucht, aber vor allem hinsichtlich der sekundären Neurotisierung ist es ganz wichtig, den Selbstwert der Kinder und Jugendlichen wieder zu steigern und zu stärken.

Und was man auch nicht vergessen darf: Wenn die Medikation wirkt und greift, dann beginne ich mich und die Welt anders wahrzunehmen. Und das ist etwas, das häufig übersehen wird. Das ist vergleichbar mit einer kurzsichtigen Person, die das erste Mal eine korrekte Brille trägt. Auch sie wird zuerst erstaunt sein, was sie alles sieht und wahrnehmen kann. Kinder und Jugendliche sind von diesem neuen Fokus, den sie durch die Medikation bekommen, ebenfalls zuerst fast überfordert und müssen sich erst daran gewöhnen. Daher ist es generell wichtig, diese neue Sicht der Welt zumindest ein paar Stunden psychotherapeutisch zu unterstützen.

Wann ist eine Diagnosestellung sinnvoll und wann erfolgt diese in der Regel?

C. Sindelar: Das erste Mal fallen die klassischen ADHS-Kinder in der späten Kindergarten- und in der frühen Schulzeit auf.

Kindergartenkinder sind oft noch flippig, umtriebig und müssen sich erst an Strukturen gewöhnen. Sie können nicht still sitzen oder fokussieren. Das entspricht auch nicht ihrem Entwicklungsstatus. Deshalb ist eine Diagnosestellung in diesem Alter schwierig und nicht sinnvoll – vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass ADHS eine symptomorientierte Diagnose auf Basis von Fragebögen ist.

Spannend zu beobachten ist der aktuelle Boom in der Erwachsenendiagnostik. Viele Erwachsene haben das Gefühl, in ihrer Kindheit übersehen worden zu sein, und stellen sich jetzt in kinderorientierten Zentren vor, wo ein ADHS diagnostiziert wird.

Welche Symptome oder psychologischen Auswirkungen von ADHS sind für Betroffene am belastendsten?

C. Sindelar: Die Leistungsanforderung, die mit dem Schuleintritt einhergeht, ist oft das Hauptproblem. Betroffene Kinder und Jugendliche berichten über das Gefühl, in der Schule zu versagen. In weiterer Folge wirkt sich das auch negativ auf ihren Selbstwert aus. Im Kindergarten gibt es kaum Leistungsanforderungen, wodurch sich die Problematik meist erst im Schulalter zum ersten Mal zeigt.

Wie können Kinder und Jugendliche hinsichtlich dieses Leistungsdrucks in der Schule am besten unterstützt werden?

C. Sindelar: Das Wichtigste ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem ein Kind wohlwollend aufwachsen kann, auch wenn es in der Schule vielleicht nicht klappt. Wenn ich als Kind schon irgendwo das Gefühl bekomme, ein Versager oder eine Versagerin zu sein, dann muss ich auch irgendwo eine Alternativwelt haben, in der ich das nicht bin. Daher ist es essenziell, nicht nur das betroffene Kind zu behandeln, sondern sein Umfeld und das System miteinzubeziehen. Denn es gibt keine geglückte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, ohne die Eltern mitzunehmen! Daher ist auch bei ADHS die Aufklärung der Eltern unersetzlich. Das beinhaltet vor allem viel psychoedukative Arbeit. Was bedeutet es, ADHS zu haben? Grundsätzlich kann ein ADHS auch wieder vergehen. Das heißt, wenn es ordentlich medikamentös oder nicht medikamentös oder kombiniert behandelt wird, dann kann man es in den Griff bekommen. Diese Awareness zu schaffen, dass die Diagnose nicht der Stempel auf der Stirn ist, ist wichtig. Wie alle anderen symptomorientierten Diagnosen auch, gehört ADHS behandelt. Leider ist die Diagnose im mitteleuropäischen Raum aber oft noch stigmatisierend.

Eine ADHS-Diagnose trifft und betrifft in der Regel die gesamte Familie. Nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister sind oft mit schwierigen Alltagssituationen konfrontiert. Welche Maßnahmen können das Zusammenleben mit Betroffenen erleichtern?

C. Sindelar: Ein Aufmerksamkeitsdefizit sorgt dafür, dass einem sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, und das ist oft für Geschwisterkinder ganz schwierig. Daher sehen wir häufig „sekundäre“ ADHS-Kinder. Das sind jene Kinder, die per se in der Diagnostik eigentlich nichts hätten, wenn sie nicht dieselbe Aufmerksamkeit haben wollen würden wie ihre Geschwister. Sie erkennen, dass die Eltern gar nicht anders können, als sich um das ADHS-Kind zu kümmern. Dem wollen sie nacheifern, denn gerade in der heutigen Zeit ist die Aufmerksamkeit der Eltern ein sehr kostbares Gut. Da gilt es, über die Eltern zu arbeiten. Es ist wichtig, sie im innerfamiliären Kreis zu motivieren und die Geschwister miteinzubeziehen. Aufgrund der genetischen Vulnerabilität empfiehlt sich auch für Geschwisterkinder eine basale diagnostische Abklärung hinsichtlich ADHS, denn häufig werden leichte Formen von ADHS übersehen. Diagnostisch unauffällige Kinder gilt es wahrzunehmen und sie gleichzeitig dabei zu unterstützen, auf die betroffene Schwester oder den betroffenen Bruder Rücksicht zu nehmen. Das ist eine unglaublich heikle Sache. Da muss man die Eltern wirklich an der Hand nehmen! Die meisten Eltern sind demütig, weil viele Eltern heutzutage überfordert und zerrissen sind und nicht wissen, was sie tun sollen. Es braucht dieses Stützen der elterlichen Arbeit, um den Kindern das zukommen lassen zu können, was sie brauchen.

Wie vorhin bereits angesprochen, ist eine Diagnostik für Kinder unter drei Jahren nicht zu empfehlen. Gibt es Symptome, die allerdings bereits in diesem Alter den Verdacht auf ein ADHS nahelegen?

C. Sindelar: Wenn man bemerkt, dass Kinder in auditiven Situationen überfordert sind, also wenn sich das Kind zum Beispiel in Spielgruppen völlig anders verhält als zu Hause, dann ist das schon ein Zeichen, dass es zu einer Überforderung kommt, die dann auf Symptomebene, wenn man es diagnostizieren kann, ADHS heißt. Allgemein wäre es wünschenswert, so viel auditive Frühförderung wie möglich anzubieten. Unsere Welt ist visueller geworden. Das heißt, die Welt fördert und fordert uns Menschen auditiv weniger. Die zehn Stunden auditive Reize, die es früher, als wir noch in kleineren Häusern mit mehr Personen zusammengewohnt haben, gegeben hat, erreichen wir heute nicht mehr. Daher ist es ganz normal, dass wir auditiv schwächer werden. Ich glaube auch, dass das der Grund ist, weshalb die ADHS-Diagnosen so stark zugenommen haben: Wir sind auditiv schnell überfordert. Und je größer die Reizüberflutung ist, desto schneller zeigt sich das ADHS auf Symptomebene – in der Regel das erste Mal in einer Schulklassensituation. Davor ist es meist nicht relevant, auditiv etwas aus dem Hintergrund herauszufiltern.

Gibt es in diesem jungen Alter Möglichkeiten oder „präventive“ Maßnahmen, um eine spätere Manifestation von ADHS zu verhindern bzw. frühzeitig zu behandeln?

C. Sindelar: Bei vielen jungen Kindern mit einer ADHS-Diagnose liegt häufig eigentlich eine Teilleistungsschwäche vor.1 Partielle Entwicklungsdefizite in den basalen informationsverarbeitenden Prozessen werden auf Symptomebene oft als klassisches ADHS fehlgedeutet. Es gibt die Ebene der Figur/Grunddifferenzierung – das Heraushören und Heraussehen von etwas aus dem Hintergrund. Wenn ich in diesem Bereich ein Entwicklungsdefizit habe, dann gelingt es mir nicht so gut, in Gruppensituationen zu fokussieren. Und auf Symptomebene sieht das aus wie ein klassisches ADHS. Da muss man aufpassen. Kann man diese Teilleistungsschwächen früh genug diagnostizieren – das ist allerdings auch erst ab drei Jahren wirklich interessant –, dann bin ich der Überzeugung, dass man eine ADHS-Diagnose im Schulalter abfangen kann. Die partiellen Entwicklungsdefizite kann man früher feststellen als das ADHS auf Symptomebene. Das ist der Unterschied. Im Gegensatz zu ADHS sind partielle Entwicklungsdefizite nicht symptomorientiert, sondern liegen dahinter. Viele Entwicklungsdefizite können behandelt werden, bevor die Kinder in eine Leistungssituation eintreten, wodurch die Ausprägung eines ADHS verhindert werden kann.

Auch viele Kinder mit diagnostiziertem ADHS weisen Entwicklungsdefizite auf, die es zusätzlich zu den ADHS-Symptomen therapeutisch zu behandeln gilt.

1 Sindelar B: Diagnosis and treatment practises in the field of ADD/ADHD/HD in Europe. In: Attention deficit/hyperkinetic disorders: their diagnosis and treatment with stimulants. Strassburg: Council of Europe/Group Pompidou, 2000. S. 55-101

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