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Myasthenia gravis

Therapeutischer Zangenangriff zwischen Konvention und Progression

Die richtigen Medikamente sind vorhanden, sie müssen nur richtig eingesetzt werden – was bislang noch nicht ausreichend geschieht, besagt der konservative Ansatz. Das ist richtig, dennoch wird in naher Zukunft die nächste Generation an Wirkstoffen wie C5-Komplement-Inhibitoren und FcRn-Hemmern ebenfalls eine wesentliche Rolle in der Behandlung der Betroffenen spielen – erwidert die progressive Herangehensweise.

„Überhaupt nichts“ müsse an der derzeitigen Behandlung der Myasthenia gravis (MG) verändert werden, „für so gut wie alle Betroffenen ist die übliche Standardtherapie für den Erfolg ausreichend: Thymektomie, Immunsuppression, intravenöse Immunglobuline, Plasmapherese und Immunapherese sowie natürlich die symptomatische Behandlung mit Pyridostigmin und Amifampridin“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Benedikt Schoser von der Neurologischen Klinik an der Ludwig-Maximilians-Universität München seinen Ansatz aus der, wie er sagt, „konventionellen, konservativen Ecke“.

Das Problem sieht der Experte eher in der Tatsache, dass die Behandlung derzeit noch nicht ausreichend dort ankommt, wo sie benötigt wird. Prof. Schoser zitiert diesbezüglich eine Untersuchung der deutschen AOK-Krankenkasse zur Epidemiologie der Myasthenia gravis (MG), wonach etwa 32% der Neudiagnostizierten im ersten Jahr keine Behandlung erhalten; auch ein wesentlicher Teil anderer Patientengruppen ist unbehandelt.1 „Das ist eigentlich unglaublich, aber es sind die Real-World-Daten“, kommentiert Prof. Schoser.

Update der Guidelines

Was sagen die Expert:innen zur Behandlung der MG? Die Guidelines von 2016 wurden 2020 aktualisiert.2,3 Neu ist nun, dass bei nicht Thymom-assoziierter generalisierter MG mit AChR-Antikörpern (AK) bei Betroffenen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren die Thymektomie bereits „frühzeitig“ erwogen werden sollte. Denn dies führt zu besseren klinischen Outcomes und kann zudem den Bedarf an Immuntherapie und Hospitalisierungen aufgrund von Exazerbationen senken. „Die Thymektomie ist also jetzt definitiv ein Standard der Behandlung“, so Benedikt Schoser.

Ebenfalls neu: Rituximab ist nun als frühe Option zu erwägen bei MuSk-AK+ MG mit unzureichendem Ansprechen auf die initiale Immuntherapie. Hingegen ist bei refraktärerer AChR-AK+ MG die Effektivität von Rituximab noch ungeklärt, es gilt aber als Option, wenn andere Immunsuppressiva nicht verträglich sind. Weiters kann – trotz fehlender Evidenz aus randomisiert-kontrollierten Trials – Methotrexat per os als steroidsparender Wirkstoff bei Patient:innen mit generalisierter MG erwogen werden, wenn diese auf andere steroidsparende Wirkstoffe nicht ausreichend ansprechen oder sie nicht vertragen. Und: Erstmals erwähnt wird in den Leitlinien von 2020 der Komplement-Inhibitor Eculizumab, der bei schwerer, refraktärer, AChR-AK+ generalisierter MG erwogen werden sollte.

Als „guten neuen Punkt“ bezeichnet Prof. Schoser zudem die Änderungen zur frühen Immunsuppression bei okulärer MG, die „mit einer wirklich starken Belastung“ der Betroffenen verbunden ist. 80% konvertieren nach zwei Jahren zu einer generalisierten Erkrankung, „trotzdem ist die okuläre MG quasi unser Waisenkind, die in neuen Studien nicht ausreichend berücksichtigt wird“. Bei okulärer MG sollten initial Kortikosteroide eingesetzt werden, „sie wirken normalerweise viel besser als Anticholinergika alleine“; bei unzureichendem Ansprechen, Kontraindikation oder fehlender Verträglichkeit sind steroidsparende Immunsuppressiva eine Alternative. Als letzte Option kann eine Thymektomie angeboten werden. Neben diesen Therapeutika verweist Prof. Schoser – auch aus konservativer Sicht – auf „viele Wirkstoffe, die sich derzeit in klinischen Trials befinden. Das Gute ist hier, dass sie völlig verschiedene Teile des Immunsystems ansprechen“.

Der gezielte Ansatz: C5 und FcRn

Neue Wirkstoffe sind nicht nur eine gute Ergänzung, sondern „dringend notwendig: Trotz unbestreitbarer Verbesserungen in der Betreuung haben immer noch rund 25% eine wesentliche Krankheitsbelastung“, erklärt wiederum Univ.-Prof. Dr. Renato Mantegazza von der Abteilung für Neuroimmunologie und Neuromuskuläre Erkrankungen am Neurologischen Institut Carlo Besta in Mailand.4 C5-Komplementinhibitoren und FcRn-Inhibitoren sind zwei dieser neuen Optionen.

C5-Inhibitoren verhindern die Bildung von C5b-9 und damit den Aufbau des Membranangriffskomplexes („membrane attack complex“, MAC), der letztendlich zur Destruktion der Endplatte führt. Die signifikante Wirkung aller drei verfügbaren C5-Inhibitoren wurde in randomisiert-kontrollierten Trials laut p-Wert nachgewiesen, berichtet Prof. Mantegazza: Eculizumab in REGAIN, Ravulizumab in CHAMPION und Zilucoplan in RAISE.5–7 „Es ist wichtig und ermutigend, dass in klinischen Studien sehr gute Ergebnisse erreicht wurden.“

Unter Eculizumab waren zudem in verschiedenen Muskeldomänen (okulär, bulbär, Extremitäten, respiratorisch) Verbesserungen zu beobachten.8 Und: Diese Wirkstoffe sind in der Lage, den natürlichen Krankheitsverlauf zu beeinflussen beziehungsweise die Exazerbations- und Hospitalisierungsrate zu reduzieren, wie eine offene Verlängerungsstudie von REGAIN ergab.9

„Echte Verbesserung“ der Krankheit unter FcRn-Hemmer

Der neonatale Fc-Rezeptor wiederum (FcRn) ist ein Schlüsselmolekül für die Verlängerung der Serum-Halbwertszeit von IgG und „damit wesentlich für den Erhalt der richtigen Konzentration von IgG im Blut“, erklärt Prof. Mantegazza. Efgartigimod ist der erste FcRn-Inhibitor und wurde zudem erstmals bei MG eingesetzt; der Wirkstoff erlaubt die zielgerichtete Reduktion aller IgG-Subtypen ohne Einfluss auf IgM oder IgA. In Studien waren sowohl Efgartigimod als auch der zweite FcRn-Inhibitor Rozanolixizumab signifikant effektiv vs. Placebo hinsichtlich Verbesserungen auf der MG-ADL-Skala („activities of daily life“).10,11 In der ADAPT-Studie zu Efgartigimod erreichten zudem 40% der Verum-Patient:innen vs. 11% unter Placebo eine „minimal symptom expression“ (MSE); das „spiegelt eine echte Verbesserung bei dieser Krankheit wider“, so der Kommentar des italienischen Neurologen. Die Sicherheitsprofile der neuen therapeutischen Optionen sind „recht konsistent“ und umfassen am häufigsten Kopfschmerzen oder Diarrhö; die Zusammenhänge mit dem Wirkmechanismus der Medikamente sind dabei noch nicht vollständig geklärt. Auch zum Vorgehen in der zukünftigen Betreuung von MG-Patient:innen gibt es derzeit noch viele ungeklärte Fragen. So könnte sich der derzeitige pharmakologische Ansatz „umdrehen“, etwa indem zuerst FcRn-Inhibitoren zum Einsatz kommen und erst nachher Kortikosteroide oder Immunsuppressiva; vielleicht sei es aber auch „realistischer“, jeweils FcRn-Hemmer beziehungsweise Komplement-Inhibitoren zusammen mit Steroiden oder Immunsuppressiva zu verabreichen – oder sogar alle neuen Therapien zusammen, also Komplement- und FcRn-Hemmerzusammen mit der (in diesem Vortrag nicht behandelten) B-Zellmodulation, schließt Prof. Mantegazza.

Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Benedikt Schoser, 9. Kongress der European Academy of Neurology (EAN), 2. Juli 2023, Budapest

1 Mevius A et al.: Neuromuscular Disorders 2023; 33(4): 324-33 2 Sanders DB et al.: Neurology 2016; 87(4): 419-25 3 Narayanaswami P et al.: Neurology 2021; 96(3): 114-22 4 Grob D et al.: Lifetime course of myasthenia gravis. Muscle Nerve 2008; 37(2): 141-9 5 Howard JF et al.: Lancet Neurol 2017; 6(12): 976-86 6 Vu T et al.: NEJM Evid 2022; 1(5): doi: 10.1056/EVIDoa2100066 7 Howard JF et al.: Lancet Neurol 2023; 22(5): 395-406 8 Mantegazza R et al.: Ann Clin Transl Neurol 2020; 7(8): 13271339 9 Muppidi S et al.: Long-term safety and efficacy of eculizumab in generalized myasthenia gravis. Muscle Nerve 2019; 60(1): 14-24 10 Howard JF et al.: Lancet Neurol 2021; 20(7): 526-36 11 Bril V et al.: Lancet Neurol 2023; 22(5): 383-94

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