
Dysphagie bei Multipler Sklerose: ein unterschätztes Symptom?
Autorin:
Carolin Eckardt
Klinische Linguistin, MA
Kölner Dysphagiezentrum
Reha&Wissen KDZ
E-Mail: c.eckardt@dysphagiezentrum.de
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Bei Multipler Sklerose (MS) ist die Dysphagie ein häufiges Symptom. Die Prävalenz wird heterogen, aber stetig hoch angegeben. Daher sollten alle beteiligten Fachgruppen, aber auch die Patienten selbst, bei MS stets an das mögliche Vorhandensein einer Schluckstörung denken.
Keypoints
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Dysphagien bei MS sind häufig.
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Hohe Prävalenzen plädieren für eine Ausschlussdiagnose der Dysphagie.
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Aufklärung für die medizinischen Versorger betreiben und Patienten informieren – Awareness für Betroffene und Behandler schaffen ist von enormer Wichtigkeit.
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Therapeutisch ist ein symptomorientiertes und interdisziplinäres Arbeiten essenziell.
Schätzungen zufolge sind in Europa 700000 Menschen an Multipler Sklerose (MS) erkrankt.1 2020 wurden in Deutschland 252000 MS-Erkrankte durch die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) registriert.2 Das bedeutet, dass einer von 300 Menschen betroffen ist. Die MS gehört zu den neurodegenerativen Erkrankungen. Eine fehlregulierte Immunantwort führt zu Entzündungen, Demyelinisierungen und damit früh zu neuronalen axonalen Schädigungen. Läsionen können daher prinzipiell überall im zentralen Nervensystem auftreten.
Die MS-assoziierte Dysphagie
Neben sensiblen, motorischen, vegetativen und neuropsychologischen Funktionsstörungen ist die Dysphagie ein hochrelevantes und bis jetzt noch nicht genügend beachtetes Symptom der MS. Dabei liegt der Zusammenhang eigentlich nahe, denn sowohl motorische als auch sensible sowie psychische oder kognitive Funktionsstörungen können eine Dysphagie verursachen.3 In den sich aktuell in der Überarbeitung befindenden Leitlinien zur MS wird die Dysphagie nur kurz unter «symptomatischer Therapie» genannt. Dabei wird vermerkt, dass die Dysphagie eine Behandlung erforderlich machen kann – weitere Ausführungen zur Häufigkeit und zu Symptomen fehlen.4
Die Anzahl der zu behandelnden MS-Patienten in unserem Dysphagiezentrum steigt stetig. Laut Umfragen des Deutschen MS-Registers5 im Jahr 2018 (veröffentlicht in der Mitgliederzeitung «aktiv!» der DMSG) geben nur 2,9% der Befragten an, an einer Schluckstörung zu leiden. Von diesen sind wiederum 29,2% in einer nicht medikamentösen, also schluck- bzw. sprachtherapeutischen Behandlung. 1,6% werden medikamentös behandelt. Somit bleiben fast 70% der an einer Schluckstörung leidenden Menschen mit MS unbehandelt. Diese Punktprävalenzen decken sich nicht mit unseren Erfahrungen aus der Praxis.

Tab. 1: Prävalenzen von Dysphagien bei MS unter der Angabe der Erhebungsmethode bei objektiven Messmethoden
Methodik
Für die Literaturrecherche wurde eine PubMed-Suche für den Zeitraum 01/2000 bis 01/2020 durchgeführt, um Veröffentlichungen zu finden, die Erwachsene mit Multipler Sklerose und Schluckstörungen untersuchten. Mit den Suchbegriffen «multiple sclerosis», «dysphagia» und «swallowing disorder» wurden insgesamt 246 Treffer erzielt. Darüber hinaus haben wir dasEinverständnis der aktuell von uns behandelten MS-Patienten eingeholt, ihre Daten und Therapiedokumentation zu nutzen.
Ergebnisse
Die Dysphagie bei Multipler Sklerose ist weitaus häufiger, als in der Praxis angenommen wird. Die aktuelle Forschung zeigt dazu allerdings eine enorme Variation – bedingt durch die unterschiedlichen Verlaufsformen der MS, die grosse Vielfalt der dysphagischen Symptome und das Fehlen eines einheitlichen diagnostischen Vorgehens. Zudem variieren die Angaben zu den Prävalenzen deutlich in Abhängigkeit von der eingesetzten Methode zur Untersuchung der Dysphagie.
Bei den objektiven Messmethoden, wie der fiberendoskopischen Evaluation des Schluckaktes (FEES) oder der Videofluoroskopie (VFS), schwanken die Angaben von 34 bis 90% (Tab. 1).6–10 Dabei ist anzumerken, dass eine MS-bedingte Schluckstörung durch alle Ausprägungen und Verlaufsgruppen hindurch existiert. Terré-Boliart und Kollegen7 berichten zudem, dass über 80% der untersuchten MS-Patienten (bei komplikationsloser oraler Ernährung) in der Videofluoroskopie einen pathologischen Befund aufwiesen, und geben an, dass bei 40% der Probanden stille Aspirationen vorlagen. Bei den subjektiven Erhebungsmethoden (wie Screenings oder Fragebogenerfassungen), die in einem Review von Guan und Kollegen11 zusammengefasst werden, sind 13 Studien inkludiert, die eine Stichprobengrösse von 79–1875 aufweisen. Hier variieren die Prävalenzangaben zwischen 23 und 58%.
Die Studienlage über Behandlungseffekte bei MS-bedingter Dysphagie ist dürftig, trotzdem erlauben erste, wenn auch kleine Studien positive Behandlungseffekte auch durch traditionelle dysphagietherapeutische Verfahren.12 Besonders aufgrund der grossen Variabilität der Klinik der MS und der Dysphagie ist eine symptomspezifische Therapie mithilfe der dysphagietherapeutischen Ansätze wichtig.
Ausschlussdiagnose Dysphagie bei MS
Die aktuelle Studienlage zeigt deutlich, dass Dysphagien bei MS deutlich häufiger sind, als weitgehend angenommen wird. Dass mindestens jeder vierte Betroffene (bis zu 90%) eine Dysphagie entwickelt, sollte zu einer Hinterfragung der Grundannahme führen: Statt zu fragen, ob bei einer MS eine Dysphagie entsteht, sollte für das Patientenkollektiv vielmehr primär angenommen werden, dass jeder MS-Erkrankte im Verlauf eine Dysphagie entwickelt. Ziel der ärztlichen Anamnese und Untersuchung wäre dann die Bestätigung oder der gezielte Ausschluss dieser Hypothese.
Um von einer Schluckstörung betroffene MS-Patienten bestmöglich betreuen zu können, sind das Verständnis und der Transfer der deutlich höheren Prävalenz in die Praxis nötig. Die Diskrepanz zwischen der Erhebung des MS-Registers und den dargelegten Zahlen zeigt es deutlich. Mehr Wachheit, ein genaueres Hinsehen und ein MS-bezogenes Dysphagie-Screening können nicht nur den Betroffenen Lebensqualität zurückbringen, sondern auch in der MS-spezifischen Diagnosestellung und Planung von Therapiemassnahmen sehr wichtig sein. Nicht zuletzt können Folgeerscheinungen, wie Malnutritionen oder Aspirationspneumonien, abgewendet werden. Für das therapeutische Vorgehen sollte die Dysphagie jeweils transparent im interdisziplinären Team begleitet werden. Eine Zusammenarbeit von Neurologie, Innerer Medizin, HNO, Ernährungsberatung, Physiotherapie, Pflege und Sprach- und Schlucktherapie ist unabdinglich.

Abb. 1: Therapieverlauf dargestellt mithilfe von Biofeedback (links: Therapiebeginn, rechts: nach fünf Monaten)
Ein Fallbeispiel: jung und sozial zurückgezogen
Bei der Aufnahme einer weiblichen MS-Patientin (*1986) mit einer schubförmig remittierenden MS-Verlaufsform bestanden nach der unvollständigen Erholung nach erlittenem Schub folgende Symptome: Die Patientin zeigte eine vorwiegend spastische Lähmung der linken Körperseite, gab vorzeitige Fatigue an und zeigte Veränderungen im Sprechen und ganz akut auch im Schlucken. Symptomatisch medikamentös wurde der erhöhte Muskeltonus mit Baclofen therapiert. An dieser Stelle ist es wichtig zu beachten, dass es auch zu Medikamenten-induzierten Dysphagien kommen kann.13 Dysphagiesymptomatisch stellte sich die Patientin mit Problemen bei festen und krümeligen Konsistenzen vor, was dazu führte, dass sie nur noch alleine zu Hause ass und trank. Zudem berichtete sie über ein erschwertes Speichelschlucken im Liegen, es zeigte sich eine reduzierte Speichelschluckfrequenz. Die orale Vorbereitungsphase war prolongiert und das Abschlucken war zum Teil ineffektiv. Dysphagietherapeutisch wurde mit ihr ein- bis zweimal pro Woche symptomorientiert gearbeitet: Es wurde an einer Optimierung der Körperhaltung, aufgrund der linken beeinträchtigten Seite, gearbeitet. Da sie ein deutlich hypotones Zungenbild aufwies, wurde die Zungenmuskulatur tonisiert. Die Möglichkeit einer Dosisreduktion von Baclofen, welches zentral wirkt und auch den Zungentonus beeinträchtigen kann, wurde mit der Neurologin erörtert und letztlich auch umgesetzt. Darüber hinaus wurde die Steigerung der intraoralen Wahrnehmung fokussiert. Bei der Patientin wurde zusätzlich ein Biofeedbackverfahren eingesetzt (RehaIngest), welches den Schluckverlauf durch Elektromyografie und Bioimpedanz misst, um der Betroffenen aufzuzeigen, was ein effektiver Schluck ist und wie sich dieser anfühlt. Durch ein einfaches Ampelsystem (grün = Normbereich) gibt das System nach einem gemessenen Schluck Informationen über die schluckrelevanten Parameter Geschwindigkeit, Larynxhebung und Schluckdauer (Abb. 1). Nach einer Therapiedauer von etwa sechs Monaten zeigten die Ergebnisse im Biofeedback eine deutliche Steigerung der Wahrnehmung für ein effektives Schlucken.
Literatur:
1 Montalban X et al.: ECTRIMS/EAN Guideline on the pharmacological treatment of people with multiple sclerosis. Mult Scler J 2018; 24: 96-120 2 Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband: Wie häufig ist die MS? www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/faq/wie-haeufig-ist-die-ms/ ; zuletzt aufgerufen am 29.4.2021 3 Eckardt C et al.: Dysphagie bei Multipler Sklerose – ein unterschätztes Symptom?! Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(4): 168-77 4Deutsche Gesellschaft für Neurologie: S2-Leitlinie: Multiple Sklerose: Diagnostik und Therapie. 2014; 1-52 5 Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V.: aktiv! (DMSG Bundesverband e.V.) 2018; 261: 22-3 6 Wiesner W et al.: Swallowing abnormalities in multiple sclerosis: correlation between videofluoroscopy and subjective symptoms. Eur Radiol 2002; 12: 789-92 7Terré-Boliart R et al.: Oropharyngeal dysphagia in patients with multiple sclerosis. Rev Neurol 2004; 39: 707-10 8 Fernandes AMF et al.: Oropharyngeal dysphagia in patients with multiple sclerosis: Do the disease classification scales reflect dysphagia severity? Braz J Otorhinolaryngol 2013; 79: 460-5 9Brown G, Yule G: Teaching the spoken language. Cambridge University Press 1983; http://books.google.de/books?id=81HDYlZ-f_UC ; zuletzt aufgerufen am 29.4.2021 10 Calcagno P et al.: Dysphagia in multiple sclerosis - prevalence and prognostic factors. Acta Neurol Scand 2002; 105: 40-3 11 Guan XL et al.: Prevalence of dysphagia in multiple sclerosis: a systematic review and meta-analysis. Neurol Sci 2015; 36: 671-81 12Tarameshlu M et al.: The effect of traditional dysphagia therapy on the swallowing function in patients with multiple sclerosis: a pilot double-blinded randomized controlled trial. J Bodyw Mov Ther 2019; 23: 171-6 13 Schwemmle C et al.: Medikamenteninduzierte Dysphagien. HNO 2015; 63: 504-10
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