
Der medizinische Einsatz von Cannabis – was wissen wir?
Bericht:
Dr. Norbert Hasenöhrl
Für die beiden wichtigsten Inhaltsstoffe von Cannabis – THC und CBD – gibt es zwar eine Vielzahl anekdotischer Berichte, aber eigentlich nur wenige gesicherte Indikationen. Die psychotrope Wirkung von THC führt häufig zu einer Diskrepanz zwischen subjektiver Akzeptanz durch den Patienten und objektiver Wirksamkeit, wie der Pharmakologe Prof. Dr. Hans-Günther Knaus berichtete.
Keypoints
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Gesicherte Wirkungen liegen für CBD bei bestimmten kindlichen Epilepsien und bei MS vor, weiters in der Behandlung der THC-Abhängigkeit.
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Für THC ist die Datenlage gut bei chronischem Schmerz, sehr viel schlechter bei anderen Indikationen.
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Im Allgemeinen ist, oft diskrepant zu den Studienergebnissen, die Akzeptanz von Cannabis-Präparaten bei den Patienten sehr hoch.
Cannabis ist der Gattungsname einer Reihe von Hanfpflanzen, zu denen etwa Cannabis sativa oder Cannabis indica gehören. Diese Pflanzen enthalten mehr als 500 Inhaltsstoffe, von denen bisher 85 im Detail in ihrer Struktur aufgeklärt sind. Aus medizinischer Sicht sind aber zwei dieser Inhaltsstoffe, die aus der weiblichen Hanfpflanze gewonnen werden, von besonderer Bedeutung: ∆9-Tetrahydrocannabinol (zumeist einfach als THC bezeichnet) und Cannabidiol (CBD). Für die psychotrope Wirkung ist ausschließlich THC verantwortlich, das daher in Österreich, Deutschland und anderen Ländern dem Suchtmittelgesetz unterliegt. „Hier sieht man also schon eine der Schwierigkeiten im Umgang mit Cannabis – wir wissen über viele der zusätzlichen Inhaltsstoffe von Cannabis noch zu wenig“, erklärte Univ.-Prof. Dr. Hans-Günther Knaus, Institut für Molekulare und Zelluläre Pharmakologie, Medizinische Universität Innsbruck, bei einem Vortrag. Traditionelle Cannabis-Zubereitungsformen sind Marihuana, das aus Blättern und Blüten hergestellt wird und zwischen 0,5% und 10% THC enthält, Haschisch (das Harz der blühenden weiblichen Hanfpflanze) mit 2% bis 30% THC, Haschischöl mit bis zu 70% THC und Skunk (stark riechende Cannabishybride), das ein unterschiedliches Verhältnis von CBD zu THC haben kann, zumeist aber eine hohe THC-Konzentration aufweist.
Verschreibungsmöglichkeiten
Sowohl THC als auch CBD sind schlecht wasserlöslich und werden daher in Öl gelöst (sei es als Lösung oder in Kapseln). Zu unterscheiden sind reine THC-Präparate, reine CBD-Präparate sowie Mischpräparate. Reines THC ist als Dronabinol® (Kapseln oder ölige Lösung) sowie als Canemes® (Nabilon, ein synthetisches THC-Analogon, das relativ teuer ist) verschreibbar. „Das ist die in Österreich medizinisch am häufigsten verwendete Darreichungsform von THC“, ergänzte Knaus. „Nabilon ist ungefähr zehnmal so wirksam wie THC.“ Ein Mischpräparat aus 52% THC und 48% CBD ist als Oromukosalspray (Sativex®) verschreibbar (ebenfalls sehr teuer). CBD in pharmakologischer Reinstqualität ist als Epidiolex® rezeptierbar, jedoch extrem teuer.
Darüber hinaus gibt es – vor allem in den letzten Jahren – in Österreich eine Reihe von CBD-Präparationen, die nicht als Medikamente, sondern als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen sind. „Hier hat die Europäische Kommission zunächst den Standpunkt vertreten, dass es sich dabei um ein Suchtmittel handle. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs sind diese Präparate jedoch als Lebensmittel wieder handelbar, sofern sie einen gewissen THC-Gehalt nicht überschreiten“, berichtete der Pharmakologe.
„Derzeit sind aber medizinische THC-Präparate in Österreich nicht generell erstattungsfähig, viele Patienten bezahlen sie selbst“, fuhr Knaus fort. Eine Kostenübernahme kann nur auf Antrag an den entsprechenden Sozialversicherungsträger erfolgen und hängt von Bundesland und Sozialversicherung ab. „Derzeit gibt es in Österreich weniger als 10000 Patienten, die zumindest ein erstattetes Rezept für so ein Präparat bekommen haben“, schätzte Knaus. Dies gilt genauso für CBD- und Mischpräparate.
In vielen europäischen Ländern, wie z.B. Niederlande, Großbritannien, Tschechien, Deutschland, Italien, Skandinavien oder Polen, aber auch außerhalb Europas gibt es medizinische Cannabis-Programme, die in Österreich fehlen. „Hier wird pflanzliches Cannabis medizinisch verschrieben“, so Knaus. Bisherige Versuche, ein solches Programm in Österreich zu etablieren, sind gescheitert.
Medizinische Indikationen
„Wenn man kleine Studien und anekdotische Berichte beiseitelässt, so stellt man fest, dass die Datenlage zu Cannabis-Präparaten doch deutlich dürftiger ist als zu vielen anderen Medikamentengruppen“, schränkte Knaus ein. So gab es z.B. Mitte März 2021 zu CBD 400 Studien, von denen 190 abgeschlossen wurden; zu THC waren es 168, davon 79 abgeschlossene. „Das hat zur Folge, dass in vielen Indikationsgebieten keine sicheren Aussagen möglich sind“, folgerte Knaus.
Dies gilt z.B. für die Indikation „Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie“. Zwar wird THC in dieser Indikation seit den Siebzigerjahren verwendet, aber die vorhandenen Studien verglichen THC zumeist mit Antiemetika, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts verwendet wurden. Es gibt statistische Tendenzen für eine bessere Wirkung von THC gegenüber diesen Antiemetika, die statistische Signifikanz ist jedoch gering. „THC wird allerdings von den Patienten zumeist bevorzugt, was nicht zuletzt auch an der psychotropen Wirkung liegen kann. Genau die macht aber auch kontrollierte Studien so schwierig, weil der Patient natürlich sofort merkt, was er bekommt. Eine sichere Aussage ist jedenfalls zu dieser Indikation nicht möglich“, so Knaus. Auch zur Aids-assoziierten Anorexie (die heute kaum mehr ein Thema ist) und zu anderen Formen der Anorexie gibt es keine konklusive Datenlage.
Solider ist die Datenlage für THC bei chronischen Schmerzzuständen. Laut einem Positionspapier der Österreichischen Schmerzgesellschaft gibt es folgende Indikationen: Tumorschmerztherapie (als Add-on zu Opioiden, nicht aber als Ersatz), MS mit spastikassoziierten Schmerzen (als Add-on zu Muskelrelaxanzien) sowie chronische nozizeptive und neuropathische Schmerzen (als Add-on in der zweiten oder dritten Linie). „Gerade neuropathische Schmerzen, für die wir sonst ja wenig Therapieoptionen haben, scheinen doch in einem gewissen Ausmaß auf hoch dosiertes THC anzusprechen“, erklärte der Pharmakologe.
Psychiatrische und neurologische Indikationen
Was psychiatrische Indikationen angeht, so ist THC als psychotrope Substanz im Allgemeinen kontraindiziert, weil es psychotisches Erleben auslösen kann. Für CBD werden einige Indikationen genannt. Dazu gehören Schizophrenie (bei akuten Formen, aber auch als Zusatztherapie bei behandlungsrefraktärer Schizophrenie) und Angsterkrankungen. „Doch auch hier ist die Datenlage leider nicht konklusiv“, bestätigte Knaus. „Es gibt gewisse Hinweise auf eine Wirksamkeit bei Schizophrenie, aber derzeit keine generelle Empfehlung für CBD. Das gilt auch für Angsterkrankungen.“ Eine weitere mögliche Indikation für CBD ist die Therapie der THC-Abhängigkeit.
Mit Abstand am besten ist die Datenlage für Cannabis-Präparate jedoch in der Neurologie. So gibt es gute Evidenz für eine signifikante Wirkung von CBD- oder auch Mischpräparaten bei Multipler Sklerose. Dies betrifft sowohl neuropathische Schmerzen als auch Schlafstörungen und Spastizität. „Hier hat sich in den letzten zehn Jahren vor allem das Mischpräparat Sativex® aus 52% THC und 48% CBD, das als Mundspray angewendet wird, bewährt“, berichtete Knaus. „Auch hier ist das Cannabis-Präparat allerdings als Add-on zu betrachten, das aber sehr gut funktioniert. Die Kosten sind jedoch ein Problem.“
Anders ist die Situation bei Migräne. Hier gibt es anekdotische Berichte und Fallserien zu einer Wirkung von CBD, aber es fehlen kontrollierte Studien. In einer kleinen Studie war CBD besser wirksam als Ibuprofen bei medikamenteninduziertem Kopfschmerz. „Eine sichere Aussage ist beim Kopfschmerz also nicht möglich“, sagte Knaus.
Die absolut beste Datenlage für medizinisches CBD gibt es für zwei distinkte Formen der Epilepsie bei Kindern, nämlich das Dravet-Syndrom und das Lennox-GastautSyndrom. Für beide Indikationen wurde Epidiolex® Anfang 2018 zugelassen. „Die Datenlage dazu ist sehr solid“, lobte der Pharmakologe. Für jede der beiden Epilepsieformen gibt es CBD-Studien der PhaseIII mit mehreren tausend Patienten. „Diese Kinder waren sonst oft von Anfang an nicht gehfähig und sind oft vor der Pubertät gestorben“, schilderte Knaus. „Andere Antiepileptika wirken hier kaum.“ Die Phase-III-Studien wurden vorzeitig beendet, weil der Erfolg von CBD so durchschlagend war, dass eine Fortsetzung ethisch nicht gerechtfertigt erschien. „Diese Kinder sind unter CBD fast beschwerdefrei, das ist wirklich eindrucksvoll“, fuhr der Pharmakologe fort. Die Schattenseite sind die Kosten, die hier bei mehreren zehntausend Euro pro Monat liegen.
Dann gibt es noch eine Reihe weiterer neurologischer Indikationen, in denen CBD erprobt wurde. Dies sind z.B. das Tourette-Syndrom, die Chorea Huntington und der Morbus Parkinson. „In diesen Indikationen widersprechen klinische Studien leider den multiplen, positiven, anekdotischen Berichten – letztlich ist dazu keine sichere Aussage möglich.“ Allerdings wird, zumindest für die Chorea Huntington, aus der klinischen Praxis sehr wohl ein gutes Ansprechen auf Nabilon berichtet, das sich nur in den Studien nicht reproduzieren ließ. „Wir haben das auch in einer Innsbrucker Parkinsonstudie gesehen“, so Knaus abschließend. „Die Patienten sind sehr zufrieden, obwohl wir objektiv wenig Wirkung nachweisen konnten.“
Quelle:
„Cannabis – Fluch oder Segen?“, Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Hans-Günther Knaus, Institut für Molekulare und Zelluläre Pharmakologie, Medizinische Universität Innsbruck, im Rahmen der „Woche des Gehirns“, 15. März 2021
Literatur:
beim Vortragenden