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Anästhesie beim älteren Patienten: postoperative kognitive Störungen
Jatros
Autor:
Prim. Univ.-Doz. Dr. Gabriele Kühbacher
Abteilung Anästhesie – Intensivmedizin<br> Ärztliche Direktion LKH Hall<br> Hall in Tirol<br> E-Mail: gabriele.kuehbacher@tirol-kliniken.at
30
Min. Lesezeit
09.03.2017
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<p class="article-intro">Postoperative kognitive Störungen beim älteren Patienten imponieren als passageres postoperatives Delir (POD) oder als lang anhaltende postoperative kognitive Dysfunktion (POCD). Für die perioperative anästhesiologische Betreuung dieser Patientenpopulation besteht die Herausforderung neben den Behandlungen der Komorbiditäten auch in der Risikominimierung dieser postoperativen Störungen. POD und POCD stellen einen wichtigen Outcomeparameter für ältere Patienten dar.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Alter per se ist kein limitierender Faktor für eine Operation/ Anästhesie.</li> <li>Vorübergehende kognitive Störungen im postoperativen Verlauf bei alten Patienten werden häufig beobachtet (postoperatives Delir, kognitive Dysfunktion).</li> <li>Regionalanästhesieverfahren senken die unmittelbare postoperative Morbidität.</li> <li>Es gibt noch keine gesicherte Evidenz, dass die Wahl des Anästhesieverfahrens (Allgemein- oder Regionalanästhesie) das kognitive Langzeit- Outcome beeinflusst.</li> <li>Peri- und postoperative Observanz (intraoperatives zerebrales Monitoring, Stabilisierung, rasche Mobilisation, Frührehabilitation) können die Inzidenz von postoperativem Delir und kognitiven Störungen deutlich minimieren.</li> </ul> </div> <p>Der demografischen Entwicklung der gesteigerten Lebenserwartung unserer Bevölkerung entsprechend, müssen sich immer mehr Menschen bis ins hohe Alter einer Operation und Anästhesie unterziehen. Neben zahlreichen altersbedingt vorbestehenden Organerkrankungen (Herz, Lunge, Niere, Stoffwechsel) stellt die Beeinflussung der kognitiven Fähigkeiten nach einer Operation eine große Herausforderung dar und ist ein wesentlicher Faktor, weshalb alte Patienten vermehrt Angst vor einer Narkose haben.<br /><br /> Physiologische Altersprozesse betreffen die funktionellen Reserven vieler Organsysteme, was den alten Patienten in seiner eingeschränkten Reservekapazität vergleichbar macht mit sehr jungen Patienten, bei denen die limitierte Stressanpassung durch die Unreife der Organsysteme bedingt ist. Altersbedingte Veränderungen in der Neuroanatomie und Neurophysiologie machen verständlich, weshalb betagte Patienten einen bis zu 50 % geringeren Anästhetikabedarf aufweisen als junge Patienten.<sup>1</sup><br /><br /> Im postoperativen Verlauf werden häufig vorübergehende kognitive Beeinträchtigungen beobachtet, einerseits als kurzfristige delirante Zustände (POD – postoperatives Delir), die 48 bis 72 Stunden andauern können, andererseits jedoch auch kognitive Dysfunktionen (POCD – postoperative kognitive Dysfunktion), die Wochen bis Monate bestehen bleiben können und vereinzelt auch irreversibel sein können. Dementsprechend beeinflussen postoperative kognitive Störungen auch das Outcome der Patienten und stellen einen wesentlichen Kostenfaktor durch längere Aufenthaltsdauer und Pflegebedürftigkeit dar. Die Kosten werden im europäischen Raum auf über 1.000 Euro pro Patient geschätzt. Darüber hinaus erhöht ein postoperatives Delir die Mortalitätswahrscheinlichkeit um 30 % .</p> <h2>Definitionen der kognitiven Störungen</h2> <p>Das postoperative Delir (POD) ist gekennzeichnet durch eine transiente, fluktuierende Bewusstseinslage mit gestörter Wahrnehmung, Orientierung, Aufmerksamkeit und Einschränkungen im Gedächtnis. Neben den häufigeren hyperaktiven Formen, bei denen Patienten sehr unruhig bis aggressiv reagieren können, sind vor allem die hypoaktiven Formen problematisch, da sie häufig unterschätzt oder übersehen werden, weil sich der Patient antriebslos bis apathisch präsentiert.<br /><br /> Postoperative kognitive Dysfunktion (POCD) imponiert in einer lang anhaltenden verminderten kognitiven Leistungsfähigkeit bis hin zu Symptomen einer ausgeprägten Demenz. Genaue pathophysiologische Ursachen sind noch hypothetisch, jedoch kommt es zu einer Störung der cholinergen Übertragung und zu einer Imbalance im Neurotransmittersystem, was sich auch bei ZNS-Biomarkern wie Amyloid-ß manifestiert. So konnte gezeigt werden, dass ein präoperativ erniedrigtes ZNS-Amyloid-ß mit dem Auftreten einer POCD korreliert, auch ohne klinische Vorzeichen einer Alzheimererkrankung.<sup>2</sup> Eine direkte neurotoxische Schädigung durch Anästhetika oder gar ein kausaler Zusammenhang für die Entstehung einer Demenz konnte bis heute nicht nachgewiesen werden. Tierexperimentelle Daten, die Neuroapoptosen durch den Einfluss von Anästhetika auf das unreife und vulnerable Gehirn vermuten ließen, können derzeit nicht auf das menschliche Gehirn extrapoliert werden.<br /><br /> Kognitive Störungen korrelieren in ihrer Inzidenz mit dem Alter, der ASA-Risikogruppe und der Belastung durch den operativen Eingriff mit großer Variationsbreite (Tab. 1). Insbesondere stellt ein massiver intraoperativer Blutverlust einen wesentlichen Parameter für die Entstehung einer postoperativen kognitiven Dysfunktion dar, der sensitiver ist als das Alter des Patienten per se.<sup>3</sup> Ein im postoperativen Verlauf später auftretendes Delir ist meist ein Frühalarmzeichen für eine somatische Komplikation (z.B. chirurgische Komplikation, Inflammation).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_s24_tab1.jpg" alt="" width="2151" height="640" /></p> <h2>Prädisponierende Faktoren für das Auftreten postoperativer kognitiver Störungen sind:</h2> <ul> <li>Alter >70 Jahre, Prämorbiditäten (ASA III, vorbestehendes kognitives Defizit, Störungen im Schlaf-wach-Rhythmus, Depression, Alkoholabhängigkeit, anticholinerge Medikamente)</li> <li>Lange OP-Dauer mit großen Volumenshifts (Herz-, Gefäß-, Unfallchirurgie)</li> <li>Schmerz, Inflammation</li> <li>Metabolische Störungen (Elektrolyte, Blutzucker, Säure-Basen-Status)</li> <li>Hypovolämie, Hämostase, Hypoxie</li> </ul> <p>In zahlreichen Studien wurde evaluiert, inwieweit die Wahl des Anästhesieverfahrens einen positiven Einfluss auf die kognitive Funktion von älteren Patienten haben könnte. Es zeigte sich, dass der unmittelbare postoperative Verlauf nach Regionalanästhesieverfahren bezogen auf die Morbidität deutlich bessere Ergebnisse erzielt als nach Allgemeinanästhesie. Dies betrifft vor allem die bessere Analgesie, eine geringere Inzidenz von respiratorischen und hämodynamischen Komplikationen,<sup>4, 5</sup> aber auch eine geringere Neigung zu postoperativem Delir. Nach derzeitiger Evidenz gilt dieser Vorteil gegenüber der Allgemeinanästhesie allerdings nur für die unmittelbare postoperative Phase. Bezogen auf das kognitive Langzeit- Outcome konnte jedoch kein signifikanter Vorteil der Regionalanästhesie gegenüber der Allgemeinanästhesie nachgewiesen werden.<sup>5, 6</sup><br /><br /> Demgegenüber stehen uns dennoch präventive Maßnahmen zur Verfügung, die nicht nur die intraoperative Anästhesieführung betreffen, sondern weitgehend auch die postoperative Betreuung geriatrischer Patienten. Während der Allgemeinanästhesie kann differenziertes zerebrales Monitoring eingesetzt werden, einerseits, um mittels kontinuierlicher EEGKontrolle (BIS-Monitoring) die Anästhesiedosierung individuell anzupassen, andererseits, um mittels „near infrared spectroscopy“ (NIRS) die zerebrale Sauerstoffsättigung kontinuierlich zu überwachen. Diese Maßnahmen unterstützen eine möglichst stabile, stressfreie intraoperative Anästhesieführung.<sup>7, 8</sup> In der postoperativen Phase sind Stressphasen durch Schmerz, Anämie, Hypovolämie und Organdekompensationen durch entsprechende Überwachung zu vermeiden. Daneben können konventionelle Vermeidungsstrategien, eine rasche Mobilisation und Wiederherstellung des Schlaf-wach- Rhythmus von entscheidender Bedeutung sein. Allein mit diesen postoperativen Maßnahmen konnten 20–50 % bessere Ergebnisse erzielt werden. Damit wird klar, dass für geriatrische Patienten nicht nur die intraoperative Anästhesieführung und Observanz, sondern im Besonderen die postoperative Stabilisierung, Überwachung und Akutrehabilitation einen Outcomeparameter darstellen. Diese zum Teil sehr personal- und zeitintensive Betreuung könnte angesichts der Altersentwicklung unserer Patienten zur Herausforderung der nächsten Jahrzehnte werden.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Brown EN: The aging brain and anesthesia. Curr Opin Anesth 2013; 26: 414-9 <strong>2</strong> Evered L: Cerebrospinal fluid biomarker for Alzheimer disease predicts postoperative cognitive dysfunction. Anesthesiology 2016; 124: 353-61 <strong>3</strong> Olin K: Postoperative delirium in elderly patients after major abdominal surgery. Br J Surg 2005; 92: 1559-64 <strong>4</strong> Rodgers A: Reduction of postoperative mortality and morbidity with epidural or spinal anaesthesia: results from overview of randomised trials. BMJ 2000; 321: 1493-7 <strong>5</strong> Hopkins KM: Does regional anaesthesia improve outcome? Br J Anaesth 2015; 115: 26-33 <strong>6</strong> Evered L: Postoperative cognitive dysfunction is independent of type of surgery and anesthetic. Anesth Analg 2011; 112: 1179-85 <strong>7</strong> Erdogan MA et al: The effects of cognitive impairment on anaesthetic requirement in the elderly. Eur J Anaesthesiol 2012; 29: 326-31 <strong>8</strong> Chan MT et al: BIS-guided anesthesia decreases postoperative delirium and cognitive decline. J Neurosurg Anesthesiol 2013; 25: 33-42</p>
</div>
</p>