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Seelische Instanzen und Ärztegesundheit

Die seelischen Instanzen sind – wie uns Sigmund Freud in der Zeit vor der Novelle des Psychotherapiegesetzes erklären durfte – Es, Ich und Über-Ich.

Dabei gilt das Über-Ich als moralische Instanz und vertritt Normen, Werte und Regeln. Das Es folgt dem Lustprinzip und vertritt Wünsche, Triebe und Bedürfnisse. Das Ich folgt dem Realitätsprinzip, vermittelt zwischen Es und Über-Ich und vertritt kritischen Verstand, Triebverzicht und Aufschub.

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Aus der Sicht von Zeitabläufen betrachtet hat das Es keine Zeit und will alles sofort. Das Über-Ich hat alle Zeit der Welt und kann mit Beharrlichkeit an seiner Verwirklichung arbeiten. Das Ich hat mit der Realitätsprüfung nur beschränkte Zeitressourcen, weil sich die Umwelt ja weiterentwickelt und verändert.

Wenn man das umlegt auf das Gesundheitssystem – wie sieht das dann aus? Das Es verkörpert die Patient:innen: Wünsche, Ängste, Bedürfnisse, eine immer geringer werdende Frustrationstoleranz und das Verlangen nach sofortiger und anhaltender Befriedigung – koste es, was es wolle. Das Über-Ich verkörpern die Kassen: Sie setzen die Normen, was als Krankheit und behandlungswürdig gilt, was es kosten darf, was man trotzdem zu leisten hat und wie man sich gesundheitsbewusst zu verhalten habe. Die Ich-Funktionen bleiben der Ärzteschaft, die zu vermitteln hat: Diese sind unter anderem kognitive Funktionen (Denken, Wahrnehmen, Erinnern), Antizipation, Realitätsprüfung, Selbstregulierung, Kommunikation und Bindung. Wenn jede dieser Instanzen ihre Aufgaben wahrnimmt und diese auch miteinander kommunizieren, ist das Leben ganz gut zu bewältigen.

Schwierig wird es, wenn eine Instanz der anderen „hineinpfuscht“, wenn also z.B. das Über-Ich reglementiert, wie das Ich mit dem Es zu kommunizieren hat (z.B. dadurch, dass die Wahlärzt:innen gefälligst die Honorarnoten den Kassen elektronisch zu übermitteln haben oder dass die Kassen auch für die Bezahlung regelmäßiger Heilbehelfe wie z.B. Inkontinenzprodukte die chefärztliche Bewilligung als administrativen Zwischenschritt aufzwingen). Das kann dann zu krankhaften Zuständen führen – Freud (er durfte ja noch mit bzw. an klinisch Kranken lernen) nannte sie vor der Novelle des Psychotherapiegesetzes Neurosen.1

Die aus der Ich-Funktion der Realitätsprüfung entstehenden Wahrnehmungen werden dann vom Über-Ich nicht akzeptiert – getreu nach Palmström („und er folgert messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf“). Freud selbst postulierte als Ziel der Psychotherapie die Wiederherstellung der Arbeits- und Liebesfähigkeit.2 Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Zahl der Anmeldungen für das Medizinstudium das Zehnfache der freien Plätze beträgt, sich ein Großteil der Wiener Spitalsärzt:innen aber überfordert fühlt und mehr als die Hälfte an Kündigung denkt, ist in der Zwischenzeit irgendetwas passiert und bei den postulierten Bemühungen um Mitarbeiter:innengesundheit offenbar noch Luft nach oben.

Die moderne Fassung des hippokratischen Eides ist die Deklaration von Genf.3 Diese enthält neben anderen Gelöbnissen erstmal auch das Thema der Ärztegesundheit. Das Gelöbnis enthält unter anderem folgende Aussagen, die vor allem Ich-Funktionen, aber auch Forderungen des individuellen Über-Ich entsprechen:

  1. Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.

  2. Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.

Da darf man sich als ärztlich tätiger Mensch schon fragen: Welchem Über-Ich folge ich jetzt? Dem institutionellen, das von mir ständige Verfügbarkeit auf hohem Niveau verlangt, oder der international abgestimmten Genfer Deklaration?

Oder, um Nestroy zu zitieren: Jetzt bin ich wirklich neugierig, wer stärker ist: ich oder ich?

1 Laut Novelle zum Psychotherapiegesetz ist eine verpflichtende klinische Praxis in einer Einrichtung nicht mehr vorgeschrieben. Wie weit die entsprechenden Fachgruppen in den Gremien des Gesundheitsministeriums vertreten waren, ist fraglich. 2 Freud S: Psychoanalyse und Libidotheorie, 1922 3 https://aerztezeitung.at/2018/oaz-artikel/politik/deklaration-von-genf-hippokrates-und-das-aerztliche-geloebnis/

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