© 3DSculptor iStockphoto

Schrittmacher, Klappenerkrankungen und kardiovaskuläre Prävention

Was ist neu in den neuen ESC-Guidelines?

In ihren Practice Guidelines verarbeitet die European Society of Cardiology (ESC) die aktuell verfügbare Evidenz zu verschiedenen kardiologischen Krankheitsbildern in Empfehlungen für den klinischen Alltag. Die Guidelines werden regelmäßig überarbeitet. Im Rahmen des virtuellen ESC-Kongresses 2021 wurden gleich vier aktualisierte Leitlinien vorgestellt, unter anderem zu Schrittmachern, Klappenerkrankungen und kardiovaskulärer Prävention.

Keypoints

  • In der Guideline zur kardiovaskulären Prävention gab es wichtige Änderungen hinsichtlich der Primärprävention, aber auch in Bezug auf Patienten mit bereits bestehender kardiovaskulärer Erkrankung sowie verschiedenen häufigen Grunderkrankungen wie Diabetes mellitus oder familiärer Hypercholesterinämie.

  • In der Guideline zur Schrittmachertherapie und Resynchronisation sind mehrere Empfehlungen hinzugekommen, wie zum Beispiel für den Einsatz eines Schrittmachers, aber auch zur Indikationsstellung für eine kardiale Resynchronisationstherapie.

  • Die Guideline zum Klappenersatz betont u. a., dass sowohl Diagnostik als auch Interventionen im Heart Team besprochen und an einem spezialisierten Zentrum erfolgen sollen; entscheidend ist die Performance eines Zentrums. In den einzelnen Indikationen wurden zahlreiche Guidelineänderungen durchgeführt.

ESC-Guideline 2021 zur kardiovaskuläre Prävention

Neue Empfehlungen gibt es für das kardiovaskuläre Risikomanagement in der klinischen Praxis. Die Leitlinie richtet sich gleichermaßen an den niedergelassenen Bereich wie an Krankenhäuser und soll ein möglichst breites Spektrum klinischer Situationen umfassen. Daher wird in einzelnen Kapiteln nicht nur auf die Primärprävention in der gesunden Allgemeinbevölkerung, sondern auch auf Patienten mit bereits bestehender kardiovaskulärer Erkrankung sowie verschiedenen häufigen Grunderkrankungen wie Diabetes mellitus oder familiärer Hypercholesterinämie eingegangen. „Individualisierte Entscheidungen beruhend auf Risikoabschätzung anhand der Scores und ein schrittweiser Zugang zur Therapie sind komplexer als ein Vorgehen nach dem Motto ‚One size fits all‘, entsprechen aber besser der Diversität der Patientenpopulation in der klinischen Praxis“, kommentiert der Leiter der Guidelines Task Force, Prof. Dr. Frank Visseren vom University Medical Centre Utrecht in den Niederlanden.

Minimal- und individuelle Ziele in der Prävention

Als absolute Mindestziele für alle Personen- und Altersgruppen legt die Guideline Nikotin-Stopp, einen gesunden Lebensstil und einen systolischen Blutdruck unter 160mmHg fest. Davon ausgehend werden aber für die meisten Personengruppen, abhängig von Risikofaktoren, ambitioniertere Ziele gefordert. Diese Ziele sollen ebenso wie die individuelle Risikoabschätzung mit den Patienten besprochen werden. Die dafür empfohlenen Risiko-Charts inkludieren nun auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen Europas, wobei generell ein West-Ost-Gefälle mit geringerem Risiko im Westen beobachtet wird. Risikoabschätzung und Präventionsziele werden auch nach Altersgruppen differenziert. Generell gelte der Grundsatz, bei Personen ohne bekannte Grunderkrankungen bei niedrigem und moderatem Risiko nicht zu behandeln und in der Primärprävention bei betagten Patienten zurückhaltend zu sein, so Prof. Dr. Yvo Smulders von der Vrije Universiteit Amsterdam. Im Gegensatz dazu soll bei jüngeren Patienten mit sehr hohem Risiko dringend interveniert werden. Smulders: „Grundsätzlich empfehlen wir, darüber nachzudenken, bevor man Menschen für ihr restliches Leben eine medikamentöse Therapie verordnet.“

Bewegung wird generell empfohlen. Angestrebt sollen mindestens 150−300 Minuten aerobes Training von moderater Intensität pro Woche oder 75−150 Minuten von hoher Intensität werden. Als erster Schritt wird eine Intensivierung der Aktivitäten im Alltag empfohlen. Ein guter Weg dazu sind Schrittzähler und andere Devices, die Bewegung aufzeichnen. Betont wird, dass besonders Aktivitäten, die Freude bereiten, in den Alltag aufgenommen werden sollten, da solche Routinen auch langfristig besser durchgehalten werden.

Hinsichtlich der Ernährung wird eine mediterrane (oder ähnliche) Diät empfohlen, mit Schwerpunkt auf pflanzlicher Kost inklusive Vollkornprodukten, Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen, sowie mindestens einmal pro Woche (vorzugsweise fetter) Fisch. Fleisch und insbesondere verarbeitetes Fleisch sollen reduziert werden, Alkohol soll auf 100g pro Woche (entspricht 2,5l Bier bzw. 1,25l Wein) beschränkt werden.

Erstmals bezieht die Leitlinie auch psychiatrische Erkrankungen wie Angststörungen ein, die erheblich zum kardiovaskulären Risiko beitragen können. Lebensstiländerungen und die medikamentöse Therapie dieser Erkrankungen sollen unterstützt werden. Unter Stress stehende Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung sollen psychotherapeutisches Stressmanagement erhalten.

Nicht zuletzt empfiehlt die Leitlinie auch Maßnahmen auf der Populationsebene, die von der Reduktion von Luftverschmutzung bis zu Beschränkungen der Werbung für ungesundes Essen und E-Zigaretten reichen.

ESC-Guideline 2021 zu Schrittmachern und Resynchronisation

Ebenfalls gründlich überarbeitet wurde die erstmals seit 2013 adaptierte Leitlinie zu Schrittmachern und kardialer Resynchronisationstherapie. Seit dieser Zeit haben sich sowohl die Schrittmachertechnologie als auch die Indikationsstellung zur Schrittmacherimplantation verändert. Neu hinzugekommen ist ein eigenes Kapitel zu Bradykardie und Reizleitungsstörungen.

Bei bradykarden Patienten wird zunächst eine sorgfältige Abklärung inklusive kardialer Bildgebung empfohlen, die auf eine behandelbare kardiologische oder andere Erkrankung hinweisen kann. Auch iatrogene Bradykardie ist nicht selten und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Medikamente assoziiert. Im Rahmen der Anamnese muss eine entsprechende Medikamenteneinnahme abgeklärt werden. Auch eine Abklärung auf Schlafapnoesyndrom und unter Umständen eine hereditäre Ursache ist indiziert. In vielen Fällen kann jedoch keine Diagnose gestellt werden. Dann besteht eine Indikation für ambulantes elektrophysiologisches Monitoring, um Arrhythmien und Symptome besser korrelieren zu können.

Auch im allgemeinen Teil der Guideline sind mehrere Empfehlungen hinzugekommen, wie zum Beispiel für den Einsatz eines Schrittmachers bei Patienten mit Vorhofflimmern und permanentem oder paroxysmalem dritt- oder höhergradigem AV-Block unabhängig von etwaigen Symptomen. Ebenfall modifiziert wurde die Indikationsstellung zur kardialen Resynchronisationstherapie bei Patienten mit Herzinsuffizienz. Auch zur möglichen Notwendigkeit einer Schrittmacherimplantation nach TAVI mit folgender Herz-OP gibt es eigenes Kapitel, ebenso zu gendermedizinischen Aspekten, da sich in den letzten Jahren Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich Schrittmacherindikation und Komplikationen gezeigt haben. Die Leitlinie gibt detaillierte diagnostische Algorithmen vor sowie Empfehlungen zum Einsatz von genetischen Tests, Biomarkern und Bildgebung.

ESC-Guideline 2021 zum Klappenersatz

Gemeinsam mit der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) hat die ESC ihre aktualisierte Leitlinie für das Management von Klappenerkrankungen präsentiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Aortenklappe, der Mitralklappe und der Trikuspidalklappe bzw. dem Management von Stenose und/oder Insuffizienz dieser Klappen. Da Klappenerkrankungen sowohl häufig als auch häufig unerkannt sind, legt die Leitlinie als ersten Schritt in der Diagnostik die klinische Untersuchung fest. Dabei ist nicht-invasiven Methoden Vorrang zu geben, so der Vorsitzende des Leitlinien-Komitees, Prof. Dr. Alec Vahanian von der Universität Paris. Am erster Stelle in der Diagnostik stehen daher der Ultraschall und bei Bedarf andere Imaging-Techniken, der Katheter sollte für Fälle reserviert bleiben, in denen die Bildgebung inkonklusiv ist.

Die Entscheidung über Notwendigkeit, Zeitpunkt und Art der Therapie sollte von einem Heart Team, bestehend aus klinischen und interventionellen Kardiologen, Herzchirurgen, Radiologen, Anästhesisten und spezialisierten Pflegekräften, gemeinsam getroffen werden.

Sowohl Diagnostik als auch Interventionen sollten an einem spezialisierten Zentrum erfolgen, so Prof. Dr. Victoria Delgado von der Universität Leiden. Die Definition eines spezialisierten Zentrums wird allerdings nicht präzisiert. Die Guideline hält fest, dass ein gewisses Volumen an Eingriffen erforderlich ist, um die Qualität zu halten, nennt jedoch keine Zahlen, da Vergleiche zwischen ärmeren und reicheren Ländern problematisch wären. „Die Performance eines Zentrums ist nicht ausschließlich eine Frage des Volumens“, kommentiert Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf von der Universität Freiburg, der Vorsitzende der Leitlinienkommission vonseiten der EACTS. Wichtig sei, dass die Zentren interne Qualitätssicherung betreiben und Daten zu Prozeduren und Outcomes dokumentieren und auswerten.

Die Behandlungsmöglichkeiten reichen von konservativem, medikamentösem Management von Symptomen und Risiko über interventionelle Therapien bis zum chirurgischen Klappenersatz. In die Entscheidungsfindung sollen neben der klinischen und anatomischen Situation auch Komorbiditäten und Patientenpräferenzen einbezogen werden. Beyersdorf betont die Einbindung des Patienten in die Entscheidungsfindung. Dies komme besonders dann zum Tragen, wenn von einer Intervention in erster Linie symptomatische Verbesserungen zu erwarten sind.

Besser früh als zu spät intervenieren

Grundsätzlich sind perkutane oder chirurgische Interventionen indiziert, wenn Symptome bestehen und ein Benefit durch die Intervention zu erwarten ist. Generell empfiehlt die Leitlinie den früheren und breiteren Einsatz sowohl von Chirurgie als auch von perkutanen Interventionen auch bei asymptomatischen Patienten.

Bestehen keine Symptome, muss das Risiko der Intervention gegen den zu erwartenden natürlichen Verlauf der Erkrankung abgewogen werden. Ist rasche Progression zu erwarten und das Risiko des Eingriffs gering, so ist dieser indiziert. Bei älteren Patienten sollte der erwartete Effekt auf die Lebenserwartung und Lebensqualität einbezogen werden. Delgado warnt vor zu späten Eingriffen, da bei langer Verzögerung die Gefahr bestehe, dass die Patienten nicht mehr von der Intervention profitieren. Im Vergleich zur Version der Leitlinie von 2017 wurden die Parameter für die Indikationsstellung zur chirurgischen Intervention bei asymptomatischen Patienten angepasst.

Die Entscheidungsfindung in Bezug auf den Ersatz der Aortenklappe wegen Insuffizienz erfolgt anhand der linksventrikulären Auswurffraktion (maximal 50%) in Verbindung mit dem endsystolischen Durchmesser des Ventrikels. Bei geringem OP-Risiko besteht auch bereits bei einer LVEF unter 55% die Indikation zur Intervention. Damit wurden zwei Empfehlungen der Leitlinie von 2017 zu einer Klasse-I-Empfehlung zusammengefasst.

Ebenso besteht nun neu in den Empfehlungen die Indikation zum Klappenersatz bei Patienten mit Klappenerkrankungen, die unter Belastung symptomatisch werden. Bei einer Stenose der Aortenklappe besteht nun die Indikation zur Intervention, wenn eine linksventrikuläre Dysfunktion mit einer LVEF von maximal 50% vorliegt. Und auch im Falle einer Stenose besteht nun eine Indikation zur Intervention, wenn unter Belastung Symptome auftreten. Bei einer LVEF unter 55% kann ein Klappenersatz erwogen werden.

Delgado verweist auf Studien und Register, die zeigen, dass ein Zuwarten bis zum Auftreten von Symptomen den Patienten schadet. Bei primärer Insuffizienz der Mitralklappe ist die chirurgische Reparatur der Klappe dem Klappenersatz vorzuziehen, wenn ein stabiles Ergebnis zu erwarten ist. Auch im Falle der Mitralinsuffizienz ist die linksventrikuläre Dysfunktion ausschlaggebend. Allerdings kann eine Intervention in Betracht gezogen werden, wenn die Schädigung der Mitralklappe die Folge von Vorhofflimmern oder einer pulmonalen Hypertonie ist. Ebenso kann eine signifikante Dilatation des linken Vorhofs zur Indikationsstellung für eine Klappenreparatur führen.

Die ewige Frage: TAVI oder Chirurgie?

Prof. Dr. Bernard David Prendergast vom St. Thomas´ Hospital in London betont, dass sowohl der chirurgische Ersatz der Aortenklappe als auch der perkutane Klappenersatz (TAVI) exzellente Optionen in der Behandlung von Klappenerkrankungen sind und als einander ergänzend betrachtet werden müssen.

Die TAVI habe vor allem dazu geführt, dass viele Patienten einen Klappenersatz erhalten können, die für eine Operation nicht infrage kommen. In jedem Fall muss der perkutane Klappenersatz jedoch in einem Zentrum erfolgen, in dem auch alle herzchirurgischen Optionen zur Verfügung stehen. Die Entscheidung, welche Methode im individuellen Fall zum Einsatz kommen soll, kann das Heart Team heute auf Basis einer Vielzahl von Studien in unterschiedlichen Populationen treffen. Eine wichtige Evidenzlücke schlossen die 2019 publizierten Studien PARTNER 3 und EVOLUT,1,2 die die Überlegenheit (PARTNER 3) bzw. Nichtunterlegenheit (EVOLUT) der TAVI in Populationen mit niedrigem Operationsrisiko zeigten. Allerdings müsse man in Betracht ziehen, so Prendergast, dass in diesen Studien stark selektierte Kollektive untersucht wurden und die Implantation durchwegs über den transfemoralen Zugang erfolgte. Ausgeschlossen aus diesen Studien waren unter anderem Patienten mit bikuspider Klappe, Erkrankung an mehreren Klappen, stark ausgeprägter Stenose, schwerer koronarer Herzkrankheit oder einer für die TAVI ungünstigen Anatomie. Auch fehlen noch Langzeitdaten für die TAVI, wie sie bei Patienten mit einer Lebenserwartung von 20 und mehr Jahren nach der Intervention benötigt würden.

Angesichts dieser Daten empfiehlt die Leitlinie nun die TAVI bei Patienten über 75 Jahre und/oder hohem Operationsrisiko. Eine generelle Empfehlung für die Chirurgie besteht bei Patienten unter 75 Jahren mit niedrigem OP-Risiko. In der dazwischenliegenden Grauzone muss das Heart Team in Abstimmung mit dem Patienten eine individualisierte Entscheidung treffen. Darüber hinaus kann eine Reihe weiterer Faktoren die Entscheidung beeinflussen. Prendergast nennt unter anderem Hinweise auf Myokarditis, Herzoperationen in der Anamnese oder schlechten Allgemeinzustand. Ist ein transfemoraler Zugang nicht möglich, so spricht das für ein chirurgisches Vorgehen. Ebenso kann eine Klappenoperation mit anderen herzchirurgischen Interventionen wie zum Beispiel der Bypass-Versorgung einer Mehrgefäß-Erkrankung kombiniert werden.

ESC-Kongress 2021, The Digital Experience, 27.–30.8. 2021. Die neuen Leitlinien „2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice“, „ESC/EACTS Guidelines for the management of valvular heart Disease“ und „ESC Guidelines on cardiac pacing and cardiac resynchronisation therapy (CRT)“ wurden online im European Heart Journal publiziert und sind über die Website der ESC verfügbar: www.escardio.org

1 Mack MJ et al.: Transcatheter aortic-valve replacement with a balloon-expandable valve in low-risk patients. N Engl J Med 2019; 380(18): 1695-705 2 Popma JJ et al.: Transcatheter aortic-valve replacement with a self-expanding valve in low-risk patients. N Engl J Med 2019; 380(18): 1706-15

Back to top