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Kardiovaskuläre Risikoreduktion

Patientenadhärenz steigern mit Information und flexibler, einfacher Medikation

Der klinische Fortschritt beschränkt sich keineswegs auf die Entwicklung neuer Medikamente und Therapien. Mehrere im Rahmen des diesjährigen ESC-Kongresses vorgestellte große, klinische Studien untersuchten relevante Fragen zum optimalen Einsatz von gut verfügbaren und breit eingesetzten Substanzen.

Statintherapie: kaum Grund für Muskelprobleme

Die kardiovaskulären Vorteile einer Statintherapie überwiegen die Risiken muskulärer Nebenwirkungen deutlich. Zu diesem Ergebnis gelangte die von der British Heart Foundation, vom UK Medical Research Council und vom Australian National Health and Medical Research Council finanzierte und damit industrieunabhängige Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists’ (CTT) Collaboration zu den muskulären Effekten von Statinen.1 Anlässlich der Präsentation der Daten betonte Prof. Dr. Colin Baigent, Universität Oxford, dass sich auf Basis von Daten aus nicht randomisierten Studien eine problematische Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses zu Statinen gäbe. Vor diesem Hintergrund führte die CTT-Collaboration eine Metaanalyse durch, die auf einem neuen Verfahren der Datensammlung auf Ebene individueller Patienten, Validierung und Analyse beruht und ausschließlich Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien einbezog. Der Aufwand war mit der Auswertung von 38 Millionen Einzeldaten und 840 Datasets und einer Bearbeitungszeit von sieben Jahren enorm. Insgesamt gingen Daten aus 23 Studien (19 placebokontrolliert, 4 aktiv kontrolliert) mit mindestens zwei Jahren Laufzeit und mehr als 155000 Patienten in die Analyse ein.

Die Auswertung zeigte lediglich ein minimal gehäuftes Auftreten von Muskelschmerzen oder -schwäche unter Statintherapie im Vergleich zu Placebo. Im ersten Behandlungsjahr wurde unter Statintherapie eine um 7% erhöhte Inzidenz von Muskelschmerzen oder -schwäche beobachtet (RR 1,07; 95% CI: 1,04–1,10), was einer zusätzlichen Inzidenz von elf Fällen pro 1000 Patientenjahre entspricht.

Die leichte Häufung tritt ausschließlich im ersten Jahr der Statintherapie auf, danach besteht kein Unterschied mehr zwischen Statin und Placebo. Auffällig ist die in der Placebogruppe relativ hohe Inzidenz muskulärer Symptome. So traten im ersten Behandlungsjahr Muskelschmerzen oder -schwäche unter Placebo mit einer Inzidenz von 155 auf 1000 Patientenjahre auf – im Vergleich zu 166 unter Statintherapie. Dies zeige, so Baigent, dass unter Statintherapie auftretende Muskelbeschwerden zu mehr als 90% nicht vom Statin verursacht werden. Ferner müsse man das Nutzen-Risiko-Verhältnis im Auge behalten, denn man könne davon ausgehen, dass bei 1000 kardiovaskulär Vorerkrankten die Einnahme eines moderat wirksamen Statins über fünf Jahre 50 schwere vaskuläre Ereignisse verhindert. In den vier Studien, in denen eine intensivere Statintherapie mit einer weniger intensiven verglichen wurde (Atorvastatin 40 gegen 80mg/d oder Rosuvastatin 20 gegen 40mg/d), waren Muskelbeschwerden unter der intensiveren Therapie häufiger 1,08 ( 95% CI: 1,04–1,13) bzw. 1,02 (95% CI: 1,00–1,05).

Es ergeben sich zwei Botschaften, so Baigent, die Patienten bei Beginn einer Statintherapie kommuniziert werden sollten: „Muskelbeschwerden kommen bei Einnahme von Statinen zwar vor, treten jedoch nur minimal häufiger auf als unter Placebo. Kommt es unter Statintherapie zu Muskelbeschwerden, so kann man davon ausgehen, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90% das Statin nicht die Ursache ist.“

Polypille: einfach und daher besser wirksam

Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko und modifizierbaren Risikofaktoren sind in der Regel mit einer größeren Zahl zumindest einmal täglich einzunehmender Medikamente konfrontiert. Einen Ausweg bieten sogenannte Polypillen, die unterschiedliche Wirkstoffe als Fixkombination enthalten. Ob sich durch die Verschreibung solcher Kombinationen das Risiko der Patienten besser kontrollieren lässt als durch die Einzelsubstanzen, wurde in der Studie SECURE untersucht.5

In die Studie wurde 2499 Patienten nach einem Herzinfarkt eingeschlossen. Sie erhielten randomisiert entweder eine Polypille, mit Aspirin (100mg), dem ACE-Hemmer Ramipril (2,5, 5 oder 10 mg) und Atorvastatin (20 oder 40mg), oder eine Standardtherapie nach Entscheidung des behandelnden Arztes. Primärer Endpunkt der Studie war ein Komposit aus kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Myokardinfarkt, Schlaganfall oder Notfall-Revaskularisierung. Die Adhärenz wurde mittels Morisky Medication Adherence Scale als niedrig, mittel oder hoch eingestuft. Untersucht wurde ein multimorbides Patientenkollektiv mit einem Durchschnittsalter von 76 Jahren. Hypertonie (77,9%), Diabetes (51,3%) und Nikotinkonsum in der Anamnese waren häufig.

Über ein medianes Follow-up von drei Jahren erwies sich die Polypille als überlegene. Der primäre Endpunkt trat bei 118 (9,5%) Patienten, die die Polypille nahmen, ein. Im Vergleich zu 156 (12,7%) in der Kontrollgruppe. Daraus ergibt sich eine Reduktion des Risikos um 24% (HR: 0,76; 95% CI: 0,60–0,96; p<0,001 für Nichtunterlegenheit, p=0,02 für Überlegenheit; Abb. 1). Alle vier Komponenten des primären Endpunkts trugen zu diesem Ergebnis bei, den größten Einfluss hatte der kardiovaskuläre Tod, der in der Polypillengruppe bei 48 (3,9%) der Patienten sowie bei 71 (5,8%) in der konventionell behandelten Gruppe eintrat, was einer Risikoreduktion um ein Drittel entspricht (HR: 0,67; 95% CI: 0,47–0,97; p=0,03). Das Ergebnis war über alle Subgruppen (Land, Alter, Diabetes, Nierenerkrankung und Revaskularisierung in der Anamnese) konstant. Deutlich reduziert wurde auch der sekundäre Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Myokardinfarkt und Schlaganfall (HR: 0,70; 95% CI: 0,54–0,90; p=0,005). Die Gesamtsterblichkeit war in beiden Armen vergleichbar. Patienten, die die Polypille einnahmen, zeigten ein höheres Adhärenzniveau.

Abb. 1: Primärer Endpunkt SECURE-Studie: Polypille reduziert Komposit aus kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Myokardinfarkt, Schlaganfall oder Notfall-Revaskularisierung

„Mit unserer Studie wurde erstmals in einem kontrollierten Setting gezeigt, dass die Einnahme einer Polypille zu klinisch relevanten Reduktionen kardiovaskulärer Ereignisse bei Patienten nach Herzinfarkt führen kann“, so Dr. Valentin Fuster vom Centro Nacional de Investigaciones Cardiovasculares (CNIC) in Madrid über die Ergebnisse von SECURE. „Nach einem Myokardinfarkt werden den Betroffenen unterschiedliche Medikamente wie Plättcheninhibitoren, Lipidsenker und Antihypertensiva verschrieben. Wir wissen aber“, so Fuster, „dass weniger als 50% dieser Patienten regelmäßig alle verschriebenen Medikamente einnehmen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass eine Vereinfachung der Therapie die Adhärenz verbessert und das Potenzial hat, bei Hochrisikopatienten kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren.“

Antihypertensiva: nehmen, egal wann

Eine weitere vorgestellte Studie beantwortete eine scheinbar triviale, aber klinisch hochrelevante Frage. Nämlich die nach dem optimalen Timing für die Einnahme Blutdruck senkender Medikamente. Angesichts einer sehr deutlichen Erhöhung des Risikos für kardio- und vor allem zerebrovaskuläre Ereignisse durch nächtliche Hypertonie wurde angenommen, dass die abendliche Einnahme von Antihypertensiva den nächtlichen Blutdruck stärker senken und damit zu einer ausgeprägteren Reduktion von Ereignissen führen könnte. Studienergebnisse zu dieser Fragestellung waren allerdings zum Teil widersprüchlich und wurden vielfach kritisiert. Daraus ergab sich die Forderung nach einer großen, randomisierten, kontrollierten klinischen Studie zu dieser Fragestellung.2, 3

Nun gelang es, in die TIME-Studie 21104 Patienten einzuschließen, die über das Internet, über Inserate sowie über die medizinische Primär- und Sekundärversorgung rekrutiert worden waren. Die Registrierung für die Studie erfolgte ebenfalls digital. Die Teilnehmer wurden 1:1 in Gruppen mit morgendlicher bzw. abendlicher Medikamenteneinnahme randomisiert. TIME zeigte keinerlei Vorteil durch die abendliche Einnahme der Blutdruckmedikamente.4

Primärer Endpunkt war ein Komposit aus Hospitalisierung wegen nicht tödlichem Myokardinfarkt oder nicht tödlichem Schlaganfall sowie vaskulärem Tod in der Intention-to-Treat-Population. Informationen über klinische Ereignisse kamen entweder von den Patienten selbst, von Allgemeinmedizinern und Krankenhäusern sowie aus nationalen Datenbanken. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 65 Jahren, 58% waren Männer. Das mediane Follow-up betrug 5,2 Jahre, manche Probanden wurden jedoch über mehr als neun Jahre beobachtet. Der primäre Endpunkt trat bei 362 (3,4%) der Teilnehmer in der Abendgruppe (0,69 Ereignisse pro 100 Patientenjahre) und 390 (3,7%) in der Morgengruppe ein (0,72 Ereignisse pro 100 Patientenjahre). Damit ergibt sich ein Risikoverhältnis von 0,95 (95% CI: 0,83–1,10; p=0,53). In der grafischen Darstellung zeigt sich dies in einem beinahe exakten Überlappen der Ereigniskurven. Auch in keiner der untersuchten Subgruppen konnte ein Vorteil für die abendliche Medikamenteneinnahme gezeigt werden.

Die Arbeit zeigt auch, so Prof. Dr. Thomas MacDonald von der University of Dundee, dass die abendliche Einnahme von Antihypertensiva keine klinischen Nachteile bringt. Allerdings sei zu beachten, dass die Abendeinnahme bei manchen Patienten zu Hypotonie am Morgen führen kann. Patienten sollten also ihre Medikamente dann einnehmen, wenn es gut zu ihrem Tagesablauf passt und es sich nicht ungünstig auf die Lebensqualität auswirkt.

ESC-Kongress 2022, 26.–29. August 2022, Barcelona

1 Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration. Effect of statin therapy on muscle symptoms: an individual participant data meta-analysis of large-scale, randomised, double-blind trials. Lancet, published online August 29, 2022 2 Hermida RC et al.: Eur Heart J 2020; 41: 4565-76 3 Ho CLB et al.: J Hum Hypertens 2021; 35: 308-14 4 TIME - the treatment in morning versus evening study. Presented by Thomas MacDonald at ESC 2022, Hotline 1, August 26 5 A polypill strategy in secondary prevention: results of the SECURE trial. Presented by Valentin Fuster at ESC 2022, Hotline 1, August 26

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