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Was man über die neuen Guidelines wissen muss

Kardiovaskuläre Prävention – neue ESC-Guidelines, um Millionen Leben zu retten

Kardiovaskuläre Erkrankungen sind in Europa jährlich für etwa vier Millionen Todesfälle und etwa 30% der vorzeitig verlorenen Lebensjahre verantwortlich. Die neuen Guidelines zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) treten daher mit dem Anspruch auf, durch eine optimale Risikostratifizierung, die Förderung eines gesunden Lebensstils und ein aggressives Risikofaktorenmanagement Millionen von Leben zu retten.

Keypoints

  • Der neue SCORE2 erweitert und verfeinert die Risikostratifizierung bezüglich kardiovaskulärer Erkrankungen.

  • Die neuen Präventionsguidelines schlagen ein individualisiertes und stufenweises Risikomanagement für ein breites Spektrum an Patienten vor.

  • Die ultimativen Therapieziele bleiben, entsprechend den Guidelines zu Hypertonie, Dyslipidämie und Diabetes, gleich.

Einleitung

Speziell zwei Publikationen der ESC zeigen heuer, wie aktuell das Thema Prävention im Jahr 2022 ist. Erstens unterstreicht die Statistik der ESC zu den kardiovaskulären Erkrankungen, aus der Gruppe um Adam Timmis, anhand von über 100 erhobenen Variablen aus 57 ESC-Ländern, wie hoch die epidemiologische Last an kardiovaskulären Erkrankungen in Europa immer noch ist.1 Diese führt nicht nur zu hohen sozioökonomischen Kosten (ca. 200 Milliarden Euro pro Jahr in den EU-Ländern), sondern auch zu konkreten individuellen Schicksalen, die wir als Ärzte zu verhindern suchen. Diese beiden Aspekte der kardiovaskulären Erkrankungen – die individuelle Ebene als auch der Bereich Public Health – werden als Ziele von Interventionen in den neuen ESC-Guidelines zur kardiovaskulären Prävention ins Auge gefasst.2

Mit einem Umfang von 111 Seiten und mit 64 neuen Empfehlungen sind sie, auf den ersten Blick, sehr umfangreich und wesentlich komplexer geworden. Dies liegt an dem sehr hohen akademischen Anspruch, möglichst ein großes Patientenkollektiv sehr detailliert abzubilden. Die folgende Übersicht zeigt an konkreten Patientenfällen, wie sie sich dennoch pragmatisch – anhand einfacher Prämissen – in unseren Praxisalltag integrieren lassen:

  1. Es erfolgt eine Unterteilung der Patienten in bisher gesunde Patienten, Patienten mit speziellen Risikofaktoren – wie einem bestehenden Diabetes mellitus, einer chronischen Niereninsuffizenz oder einer familiären Hypercholesterinämie – sowie Patienten mit bereits etablierter atherosklerostischer Erkrankung (Tab. 1).

  2. Der neue SCORE2 löst den bekannten SCORE der ESC bei bisher gesunden Patienten ab.

  3. Ein schrittweises Management führt von der Risikostratifizierung über Minimal- zu ultimativen Therapiezielen (Abb. 1), die im Wesentlichen auf den jeweiligen bekannten Guidelines, z.B. zu Hypertonie, Dyslipidämien und Diabetes mellitus, basieren (Tab. 2).

Tab. 1: Unterteilung in bisher gesunde Patienten sowie Patienten mit speziellen Risikofaktoren und deren Risikoklasse

Abb. 1: Schrittweises Management von der Risikostratifizierung über Minimalziele hin zu den ultimativen Therapiezielen

Tab. 2: Zusammengefasste Guideline-Ziele nach Risikogruppen

Der neue SCORE2

DIE wesentliche Neuerung in den Guidelines ist die Einführung des neuen SCORE2. Er basiert auf neu generierten Daten von 45 Kohorten aus 13 Ländern mit mehr als 700000 Patientendaten.3 Der SCORE2 verfeinert die Risikostratifizierung insofern, als dass nun der europäische Raum in vier Risikoregionen unterteilt werden kann, auch Patienten mit höherem Alter (>70 Jahre) abgebildet werden („older population“, SCORE2-OP) und dass eine Anpassung der Risikoklassifizierung nach Alter („competing risk models“) erfolgt. Die Berechnung erfolgt zwar nach wie vor basierend auf dem Geschlecht der Patienten, dem Nikotinstatus, den systolischen Blutdruckwerten sowie dem Non-HDL-Cholesterin.

Im Unterschied zum SCORE, der ausschließlich das Risiko für tödliche Ereignisse angab, wird durch den SCORE2 nun das 10-Jahres-Risiko für tödliche und nicht tödliche kardiovaskuläre Ereignisse angegeben. Die Prädiktion des kardiovaskulären Risikos wird dadurch im Bereich lebensqualitätsrelevanter Ereignisse, wie etwa eines Myokardinfarkts oder eines Apoplex, genauer. Die Prozentsätze liegen im SCORE2 im Vergleich nun etwas höher.

Patient 1: bisher gesund und asymptomatisch

Das erste konkrete Beispiel aus der alltäglichen Praxis ist eine 52 Jahre alte, bisher gesunde und asymptomatische Raucherin mit einem normalen Blutdruck und einem LDL-Cholesterin (LDL-C) von 152mg/dl. Sie hat keine etablierte Atherosklerose, keine Niereninsuffizienz und keinen Diabetes.

Bei diesen Patienten sollte der SCORE2 berechnet werden, um Therapieziele zu definieren und Empfehlungen abzugeben (Tab. 1). Für Österreich verwenden wir den SCORE2 für Länder mit einem moderaten kardiovaskulären Risiko. Für unsere Patientin ergibt sich ein Risiko von 4% über die nächsten 10 Jahre. Das entspricht einem moderaten Risiko. Daraus ergeben sich dann die Therapieziele (Tab. 2).

First Line empfiehlt die ESC bei Patienten mit niedrigem bis moderatem Risiko keine pharmakologische Therapie der Risikofaktoren, sondern generelle Lebensstilmodifikationen. Im konkreten Fall wären das 150–300 Minuten pro Woche moderater Sport, ein Body-Mass-Index (BMI) von 20 bis 25 und ein Rauchstopp. Zusätzlich besteht ein LDL-C-Ziel von <100mg/dl (Klasse IIa). Wird dieses durch eine Lebemsstilmodifikation nicht erreicht, sollte man mit der Patientin über die Einleitung einer Statintherapie sprechen. Bereits mit einer moderat-intensiven Statintherapie kann eine LDL-C-Reduktion von 30% erwartet werden.4

Neu ist in den Präventionsguidelines auch, dass aus Tabellen abgelesen werden kann, um wie viele Jahre das Auftreten eines harten kardiovaskulären Ereignisses verschoben werden kann, wenn man seine Therapieziele erreicht. Im Fall unserer Patientin wären das zusätzliche 5 Jahre, welche die Patientin ohne einen Myokardinfarkt oder Schlaganfall verbringen kann.

Patient 2: Typ-2-Diabetiker

Der zweite Fall ist ein 59 Jahre alter Mann mit 95kg (BMI 29kg/m2), welcher eine unkontrollierte Hypertonie (RR in der Praxismessung 155/90mmHg) sowie unter 20mg Atorvastatin ein LDL-C von 103mg/dl und unter Metformin einen HbA1c von 7,5% aufweist. Noch besteht keine bekannte atherosklerotische Erkrankung oder eine Niereninsuffizienz und der Patient ist kardial asymptomatisch.

Dieser Patient fällt bereits in die Hochrisikogruppe mit einem 10-Jahres-Risiko von 5–10% (Tab. 1).

Sein Blutdruckziel liegt bei <130mmHg und trotz der Effektivität von Lebensstilmodifikationen (bis minus 40mmHg!)5 wird ab einer Grad-1-Hypertonie bei dieser Risikogruppe zum unmittelbaren Beginn einer medikamentösen Therapie geraten. Als erste Wahl empfehlen sich ACE-Hemmer eventuell in Kombination mit einem Kalziumantagonisten.6

Sein LDL-C-Ziel liegt bei <70mg/dl und kann durch Steigerung der Statindosis und Zugabe von Ezetimib erreicht werden.

Sein HbA1c-Ziel liegt bei <7,0%. Als Add-on würden sich hier SGLT2-Inhibitoren empfehlen.7 Aus den Daten der EMPA-REG-8 und DECLARE-TIMI-58-Studie9 können wir hiermit eine Reduktion des HbA1c von absolut ca. 0,8 –1% erwarten.

Schlussendlich wird sich uns bei diesem Patienten noch die Frage stellen, ob eine thrombozytenhemmende Therapie begonnen werden sollte. Aus rezenten Metaanalysen von randomisierten Studien an über 160000 Patienten wissen wir, dass wir bei diesem Patienten zwar die kardiovaskulären Ereignisse, jedoch nicht die Gesamtmortalität reduzieren werden. Dafür müssen wir einen signifikanten Anstieg an klinisch relevanten, vor allem gastrointestinalen Blutungen in Kauf nehmen.10 Als potenzieller Risikomodifikator bietet sich in diesem Setting nach wie vor der Karotisultraschall sowie der Kalziumscore in der Computertomografie (Ca-Score, CT) an. Daten aus der MESA-Studie belegen, dass bei Patienten mit einem Ca-Score >100 in der Primäprävention die „number needed to treat“ (NNT) für Aspirin geringer ist als die „number needed to harm“ (NNH).11 Wichtig ist hierbei anzumerken, dass der Ca-Score rein die Rolle als Risikomodifikator einnimmt, jedoch nicht als Diagnostikum für ein chronisches Koronarsyndrom.

Patient 3: etablierte atherosklerotische Erkrankung?

Der dritte Patient ist ein 67 Jahre alter Mann, der aufgrund einer atypischen Angina pectoris und eines pathologischen Koronar-CT zu einer Herzkatheteruntersuchung zugewiesen wurde. In der Angiografie zeigt sich eine 50%-Stenose der LAD („left anterior descending“), welche entsprechend den Guidelines mittels Druckdrahtmessung (FFR) ausgemessen wurde. Es ergab sich ein FFR-Wert von 0,92, womit keine hämodynamische Signifikanz der Stenose besteht. Entscheidend für die weitere Risikostratifizierung betreffend den Patienten ist die Frage, ob somit eine etablierte atherosklerotische Erkrankung besteht oder nicht.

Die Definition einer atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankung in den Guidelines beruht einerseits auf harten kardiovaskulären Ereignissen wie einem Zustand nach Myokardinfarkt, TIA oder Revaskularisierung. Andererseits genügt auch der „eindeutige Nachweis eines Plaques“ in der Karotissonografie, der CT oder der Koronarangiografie.2

So würde unser Patient in die Gruppe mit sehr hohem Risiko fallen (Tab. 1) und damit auch sehr strengen Therapiezielen unterliegen, die wir eigentlich nur aus der Sekundärprävention kennen (Tab. 2).

Daten aus der SCOT-HEART-Studie haben gezeigt, dass Patienten über 5 Jahre ein signifikant besseres Outcome haben, wenn sie in der Abklärung bezüglich eines chronischen Koronarsyndroms mittels Koronar-CT geführt werden.12 Dies wurde darauf zurückgeführt, dass im Studienprotokoll zu einem sehr aggressiven Risikomanagement geraten wurde. Bereits ab einer Stenose >10% wurde primärpräventiv mit Aspirin und einem Statin begonnen. In der CT-Gruppe wurden die Patienten 3,5-mal häufiger auf diese Therapien neu eingestellt als jene in der Kontrollgruppe.

Aktuell besteht meistens der Konsens, dass Patienten ab einer Stenose von >50% in einem Koronargefäß in die Gruppe mit sehr hohem Risiko klassifiziert werden sollten. Dass dies gerade auch für die Festlegung von LDL-C-Zielen sinnvoll ist, hat rezent eine Analyse von 20000 Patienten aus einem dänischen Register gezeigt. Ab Vorliegen einer >50%igen Stenose in der CT (CAD-RADS 3) betrug, für eine Statintherapie mit einem Ziel-LDL-C <55mg/dl, die NNT weniger als 30.13 Man könnte damit in diesem Kollektiv bis zu 36% aller kardiovaskulären Ereignisse über 6 Jahre verhindern. Und damit, wie von Mark Nicholls in seinem „Global Spotlight“ in der Februarausgabe des „European Heart Journal“ formuliert, tatsächlich durch Prävention in Europa „Millionen Leben retten“.3

Zusammenfassung

Bei kardial asymptomatischen Patienten ohne atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes oder einer Niereninsuffizienz sollte ab dem 40. Lebensjahr eine Risikostratifizerung mittels SCORE2 durchgeführt werden. Bei Patienten mit niedrigem oder moderatem Risiko sollten primär Lebensstilempfehlungen gegeben werden. Die Bildgebung kann bei ausgewählten Patienten einen Risikomodifikator darstellen und Therapieentscheidungen, wie die Einleitung einer primärpräventiven Aspirintherapie, unterstützen. Ab einer 50%igen Koronarstenose sollten sehr strenge Präventionsziele, ähnlich wie in der Sekundärprävention nach hartem kardiovaskulärem Ereignis, gelten.

1 Timmis A et al.: Eur Heart Journal 2022; 43: 716-99 2 Visseren FLJ et al.: Eur Heart Journal 2021; 42: 3227-337 3 Nicholls M: Eur Heart Journal 2022; 43: 706-7 4 Mach F et al.: Eur Heart Journal 2020; 41: 111-88 5 Arnett DK et al.: Circulation 2019; 140: e596-e646 6 Williams B et al.: Eur Heart Journal 2018; 39: 3021-104 7 Cosentino F et al.: Eur Heart Journal 2020; 41: 255-323 8 Zinman B et al.: NEJM 2015; 373: 2117-28 9 Wiviott SD et al.: NEJM 2019; 380: 347-57 10 Zhen SL et al.: JAMA 2019; 321: 277-87 11 Cainzos-Achirica M et al.: Circulation 2020; 141: 1541-53 12 Newby DE et al.: NEJM 2018; 379: 924-33 13 Mortensen MB et al.: JACC CVI 2020; 13: 1961-72

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