
Familiäre Hypercholesterinämie: neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten
Autor*innen:
Kristina Krasieva
Prof. Dr. med. David Nanchen
Consultation de prévention cardiovasculaire – cholestérol et style de vie
Département promotion de la santé et préventions
Unisanté Lausanne
E-Mail: david.nanchen@unisante.ch
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Die familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist eine häufige, aber unterdiagnostizierte und untertherapierte Erkrankung, insbesondere bei jungen Erwachsenen. Die kumulative Exposition gegenüber LDL-Cholesterin im Laufe des Lebens erhöht insbesondere das kardiovaskuläre Risiko der Patienten mit FH. Der «Memory»-Effekt lipidsenkender Therapien, d.h. ihr anhaltender kardiovaskulärer Nutzen auch bei Abbruch der Behandlung, zeigt, wie wichtig es ist, im Falle einer FH den LDL-Cholesterinspiegel frühzeitig zu senken. Mithilfe der genetischen Diagnostik lassen sich Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko besser identifizieren und die Prävention kann damit optimiert werden. Das familiäre genetische Kaskadenscreening ist ebenfalls ein ganz wesentlicher Vorteil der genetischen Untersuchung. Nicht zuletzt stellt die Kombination lipidsenkender Therapien mit neuen Lipidsenkern einen wesentlichen Fortschritt dar, der dazu beiträgt, das kardiovaskuläre Risiko von Patienten mit FH zu reduzieren.
Keypoints
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Die klinische Diagnostik der FH ist wichtig, damit die Kosten der neuen Kombinationen lipidsenkender Therapien erstattet werden können.
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Mithilfe der genetischen Untersuchung auf FH kann das kardiovaskuläre Risiko besser beurteilt werden.
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Ein familiäres genetisches Screening wird empfohlen, wenn eine pathogene Variante der FH nachgewiesen wurde.
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Die neuen Kombinationen lipidsenkender Therapien ermöglichen im Fall einer FH eine wirksame Senkung des LDL-C.
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Zum Angebot der spezialisierten Zentren gehört es auch, Ärzte bei versicherungstechnischen Aspekten der genetischen Diagnostik und der neuen Kombinationen lipidsenkender Therapien zu unterstützen.
Die familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist eine autosomal-dominante genetische Erkrankung mit einer Prävalenz von 1/200 bis 1/300 in europäischen Ländern.1 Sie ist bisher unterdiagnostiziert und untertherapiert, insbesondere bei jungen Menschen, was eine erhebliche Morbidität und hohe Kosten für die Gesellschaft zur Folge hat. Deshalb ist es wichtig, Patienten mit FH besser zu identifizieren, denn das mit der Erkrankung einhergehende kardiovaskuläre Risiko kann durch präventive Empfehlungen und eine frühzeitig eingeleitete medikamentöse Therapie mit Lipidsenkern deutlich reduziert werden. Massgeblich verantwortlich für das erhöhte kardiovaskuläre Risiko ist die kumulative Exposition gegenüber LDL-Cholesterin (LDL-C) im Laufe des Lebens. Angesichts der Sicherheit von Statinen in der Langzeitanwendung wird aktuell empfohlen, im Fall einer bestätigten Diagnose bereits in jungen Jahren über den Beginn einer medikamentösen Therapie mit Lipidsenkern zu sprechen.
Neue diagnostische Möglichkeiten
Klinische Diagnostik
Die klinische Diagnostik der FH stützt sich hauptsächlich auf die LDL-C-Werte und die persönliche und familiäre Anamnese. Der klinische Verdacht auf die Erkrankung ergibt sich ab einem LDL-C >5mmol/l im Erwachsenenalter. Klinische Zeichen wie Xanthelasmen und Xanthome fehlen häufig. Das am häufigsten zur klinischen Diagnostik eingesetzte Instrument ist der Score des Dutch Lipid Clinic Network, der auf der Seite der AGLA (www.agla.ch) berechnet werden kann. Wird klinisch eine mögliche FH diagnostiziert, kann der Patient in die Kategorie der Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko eingestuft werden. Ferner wird eine Lipoprotein(a)-Bestimmung empfohlen, um Patienten mit sehr hohem Risiko zu identifizieren, welches im Fall von Werten >200nmol/l besteht.2
Genetische Diagnostik
Bei starkem klinischem Verdacht, d.h. einem Dutch Lipid Clinic Network Score ≥6 Punkte oder einem LDL-C >6,5mmol/l, sollte mit dem Patienten über die Möglichkeit einer genetischen Diagnostik gesprochen werden. Das Ergebnis des Gentests liefert prognostische Informationen, die Einfluss auf die Behandlung haben können. Bei gleichem LDL-C-Spiegel haben Patienten mit einer pathogenen Genvariante der FH ein 2- bis 3-mal höheres Risiko, eine koronare Herzkrankheit zu entwickeln, als Patienten ohne eine solche pathogene Variante.3 Nach den vorläufigen Ergebnissen der CATCH-Studie beträgt die Wahrscheinlichkeit, eine pathogene Variante der Gene LDLR, APOB oder PCSK9 nachzuweisen, in der Schweiz circa 40%, wenn das LDL-C bei >6,5mmol/l liegt.4
Familiäres genetisches Kaskadenscreening
Vom Nachweis einer pathogenen Variante bei einem Patienten hat auch dessen Familie einen Mehrwert. Familiäre genetische Screeningprogramme haben gezeigt, dass in mehr als der Hälfte der Fälle mindestens ein weiterer Elternteil der Familieals Träger einer pathogenen Variante der FH identifiziert werden konnte.5 Die Ergebnisse der Schweizer Studie CATCH, deren Veröffentlichung 2024 erwartet wird, werden zeigen, ob durch ein solches familiäres genetisches Screening in den untersuchten Familien eine bessere Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren erreicht werden kann.6
Versicherungstechnische Limitationen
Die genetische Diagnostik bzw. das familiäre genetische Kaskadenscreening werden von der Grundversicherung aktuell nicht systematisch übernommen. Die 2024 erwarteten Ergebnisse der CATCH-Studie könnten die Gesundheitspolitiker in den kommenden Jahren dazu bewegen, die systematische Erstattung des Gentests nach definierten Kriterien zu bewilligen. Wenn ein Patient aktuell – trotz fehlender Garantie einer Kostenerstattung – einen Gentest wünscht, wird empfohlen, ihn an eine spezialisierte Lipidsprechstunde oder ein spezialisiertes Zentrum für kardiovaskuläre Prävention zu verweisen. Eine nicht vollständige Liste solcher spezialisierten Zentren in der Schweiz ist in Abbildung 1 zu finden. Diese Zentren können dem Antrag auf Erstattung der Kosten des Gentests bei den Krankenkassen Nachdruck verleihen und bei der Organisation des familiären genetischen Screenings helfen.
Abb. 1: Unvollständige Liste klinischer Zentren in der Schweiz, die auf die Diagnostik und Therapie der familiären Hypercholesterinämie spezialisiert sind
Neue therapeutische Möglichkeiten
Nach klinischer Diagnose einer FH kommt eine Kombination verschiedener Lipidsenker in Betracht, u.a. auch eine Kombination mit den neuen PCSK9-Hemmern, bei denen es sich um monoklonale Antikörper oder «interfering RNA» handeln kann, oder mit Bempedoinsäure (Tab.1). Diese neuen lipidsenkenden Therapien sind in Kombination mit einem niedrig dosierten Statin oder Ezetimib sehr wirksam und können eine intensivere Senkung des LDL-C-Spiegels herbeiführen.7 In der Praxis werden sie häufig als Ersatz für andere Lipidsenker angewendet, wenn eine vollständige Unverträglichkeit gegenüber Statinen besteht oder Statine oder Ezetimib keine Wirkung zeigen.
Behandlungsprozess bei Anwendung der neuen Lipidsenker
Abbildung 2 zeigt beispielhaft, wie der Behandlungsprozess zwischen behandelndem Arzt und Spezialisten bei FH aussehen kann. Der behandelnde Arzt befindet sich in der besten Position, um das FH-Screening und die Diagnostik anhand des LDL-C-Werts und der Familienanamnese durchzuführen. Falls eine Bestätigung der Diagnose durch eine genetische Untersuchung oder die Anwendung neuer Lipidsenker gewünscht wird, beispielsweise nachdem mit mehreren Statinen Probleme dokumentiert worden sind, kann der behandelnde Arzt den Patienten an einen Spezialisten überweisen. Dieser kann mit der Verordnung eines neuen Lipidsenkers beginnen und bei Bedarf Bericht an die Krankenkasse erstatten. Der Spezialist ist auch in der Lage, die Notwendigkeit einer Untersuchung auf Atherosklerose mittels Sonografie oder Koronar-CT zu beurteilen. Wenn die Behandlung 6 Monate lang mit guter Verträglichkeit und Adhärenz durchgeführt wurde, kann der behandelnde Arzt die weitere Verordnung der Therapie übernehmen, auch für Inclisiran, das alle 6 Monate in der Praxis injiziert wird.
Versicherungstechnische Limitationen
2023 besteht für die neuen lipidsenkenden Therapien keine Pflicht zur vorgängigen Einholung der Kostengutsprache bei der Versicherung. Allerdings sind die in Tabelle 2 aufgeführten Informationen gut in der Akte zu dokumentieren. Aus Gründen der Kostenerstattung können die Therapien selbst nicht miteinander kombiniert werden, und in den ersten sechs Monaten müssen sie von einem Arzt mit Spezialisierung im Bereich Cholesterin oder kardiovaskuläre Prävention verordnet werden. Nach sechs Monaten der Behandlung mit guter Verträglichkeit und LDL-C-Senkung kann der behandelnde Arzt die Verordnung fortführen und die langfristige Kontrolle der Therapieadhärenz übernehmen.
Tab. 2: 2023 geltende Kriterien für die Erstattung der Kosten der neuen lipidsenkenden Therapien bei familiärer Hypercholesterinämie (FH)
Fazit
Die FH ist eine häufige Erkrankung, deren Diagnose von grosser Bedeutung ist, da sich das mit der Erkrankung einhergehende kardiovaskuläre Risiko durch eine angemessene Behandlung sehr deutlich senken lässt. Der klinische Verdacht auf eine FH ergibt sich ab LDL-C-Werten >5mmol/l. Ab einem LDL-C >6,5mmol/l sollte über einen Gentest gesprochen werden, der möglicherweise ein familiäres genetisches Kaskadenscreening nach sich ziehen kann. Die neuen lipidsenkenden Therapien sind bei Patienten mit FH in Betracht zu ziehen, die mindestens zwei Statine nicht vertragen haben und bei denen der LDL-C-Spiegel nicht unter 2,6mmol/l gesenkt werden kann. Die Erstverordnung eines neuen Lipidsenkers erfolgt in einem spezialisierten Zentrum und unter Berücksichtigung der Wünsche des Patienten, etwa hinsichtlich Art und Häufigkeit der Verabreichung, der Nebenwirkungen oder der Möglichkeiten der Kombination mit anderen Lipidsenkern. Nach sechs Monaten der Behandlung mit guter Wirkung und Verträglichkeit kann die Verordnung vom behandelnden Arzt fortgeführt werden.
Interessenkonflikte:
Die Autor*innen haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keinerlei Interessenkonflikte erklärt. DN ist leitender Prüfarzt der CATCH-Studie. Die CATCH-Studie wird vollständig von der Schweizerischen Herzstiftung und der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie finanziert.
Literatur:
1 Vallejo-Vaz AJ et al.: Global perspective of familial hypercholesterolaemia: a cross-sectional study from the EAS Familial Hypercholesterolaemia Studies Collaboration (FHSC). Lancet 2021; 398: 1713-25 2 Reyes-Soffer G et al.: Lipoprotein(a): a genetically determined, causal, and prevalent risk factor for atherosclerotic cardiovascular disease: a scientific statement from the American Heart Association. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2022; 42: e48-60 3 Khera AV et al.: Diagnostic yield and clinical utility of sequencing familial hypercholesterolemia genes in patients with severe hypercholesterolemia. J Am Coll Cardiol 2016; 67: 2578-89 4 Nanchen D et al.: Comparison of severe hypercholesterolemia patients with and without pathogenic variants. Eur Heart J 2022; 43 (Suppl 2): 2362 5 Bell DA et al.: Effectiveness of genetic cascade screening for familial hypercholesterolaemia using a centrally co-ordinated clinical service: An Australian experience. Atherosclerosis 2015; 239: 93-100 6 Nanchen D et al.: Implementation of cascade genetic screening for familial hypercholesterolemia: design of the Swiss Catch Randomized Controlled Trial. Atherosclerosis 2021; 331: E184 7 Ray KK et al.: Combination lipid-lowering therapy as first-line strategy in very high-risk patients. Eur Heart J 2022; 43: 830-3
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