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„Niederlassungswillige Allgemeinmediziner sind Mangelware“
DAM
30
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12.07.2018
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<p class="article-intro">Dr. Christian Euler traf zwei junge Kollegen, die bei ihm ihre Lehrpraxis absolviert hatten, und sprach mit ihnen über Zukunftsperspektiven. Beide sind ambitionierte Allgemeinmediziner, beide führen noch keine eigene Praxis.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p><strong>Allgemeinmediziner mit Berufserfahrung sind an vielen Orten Österreichs gesucht. Ihr beide könntet sofort in einer allgemeinmedizinischen Kassenpraxis beginnen. Warum tut ihr es nicht?</strong></p> <p><strong>Elisabeth S.:</strong> Ich bin momentan mit meiner beruflichen Situation rundum zufrieden. Wenige Wochen nachdem ich meinen Turnus als Lehrpraktikantin beendet hatte, ging ich in Mutterschutz. Nach einigen Monaten der ausschließlichen Mutterschaft habe ich Ordinationsvertretungen gemacht, zunächst nur an Wochenenden, da war mein Mann zu Hause, später auch werktags. Ich habe von Anfang an meine Familie als Teil meines Lebensumfeldes gesehen, in das ich meine berufliche Tätigkeit einpassen will. In dieses Umfeld haben wir auch unser Haus gebaut. Die örtliche Gebundenheit ist natürlich für viele mögliche offene Stellen ein Ausschlusskriterium.</p> <p><strong>Boris H.:</strong> Mein Start war faktisch gleich, meine letzte Turnusstation waren Lehrpraxismonate, schon in dieser Zeit nahm ich an den Diensteinteilungstreffen teil und wurde als potenzieller Vertreter von den Kollegen ungeduldig erwartet. Dementsprechend rasch wurde ich in den ganz normalen Wahnsinn des Landarztalltags hineingerissen. Mein Terminkalender war voll und auch für die letzten freien Tage kamen Anfragen. Ich habe mich am Heimatort meiner Frau orientiert und vor allem Ärzte hier im Seewinkel vertreten. Auch wir wurden Eltern, die Karenzzeit meiner Frau hat eine klare Rollenzuweisung gebracht. Sie war bei unserer Tochter und ich habe faktisch ununterbrochen gearbeitet. Es war sicher nicht nur ihr bevorstehender Wiedereintritt ins Berufsleben, der meine Frau veranlasste, ernste Warnungen, meine 70 bis 80 Arbeitswochenstunden betreffend, zu deponieren. Sie war es auch, die mich auf freie Stellen bei der Wiener Polizei aufmerksam machte. So vollzog ich eine radikale Wendung zu vierzig geregelten Wochenstunden als Polizeiarzt.</p> <p><strong>Du bist ja ein sehr engagierter, kurativ tätiger Kollege gewesen. Inwiefern unterscheiden sich die Arbeitsanforderungen als Polizeiarzt von deiner früheren Tätigkeit?</strong></p> <p><strong>Boris H.:</strong> Die jetzige Tätigkeit erweitert meinen Horizont sehr. Aspekte der allgemeinen Sicherheit, gesetzliche Rahmenbedingungen, die Drogenproblematik in jedweder Form, Verkehrssicherheit, auch kurative Herausforderungen, allerdings nicht mit dem Ziel einer Patientenbegleitung, sondern einer für den Patienten vorteilhaften Weichenstellung in krisenhafter Situation zählen zu meinen Aufgaben. Außerdem mache ich berufsbegleitend den Physikatskurs, eine Ausbildung, die mir jedenfalls auch in Zukunft Sicherheit geben wird.<br /> Ergibt sich etwas Verlockendes, werden wir es in der Familie überlegen. Ich habe mich ja schon einmal um eine Praxis im Seewinkel beworben, bin aber nicht zum Zug gekommen. Auch wir haben Hausbaupläne im Heimatort meiner Frau, auch das wird ein wichtiges Kriterium.</p> <p><strong>Wo seid ihr jetzt ansässig?</strong></p> <p><strong>Boris H.:</strong> Momentan wohnen wir in Wien, mit gutem Kinderbetreuungsangebot. Zusätzlich können wir im Seewinkel eine Wohnung im Haus der Schwiegereltern nutzen, weshalb es derzeit keinen Veränderungsdruck gibt.</p> <p><strong>Elisabeth S.:</strong> So ist es auch bei mir. Augenblicklich vertrete ich durchschnittlich zwei Wochen im Monat, der eine oder andere Einzeltag kommt noch dazu, außerdem bin ich Betriebsärztin bei der Wirtschaftskammer in Eisenstadt, was ich auch sehr flexibel gestalten kann. Meine Kinder fühlen sich im Ort in den Betreuungseinrichtungen wohl und meine Eltern, speziell meine Mutter, geben uns absolute Betreuungssicherheit. Ich weiß, dass ich deutlich mehr verdienen könnte, die stressarme Koexistenz von Kindern und Beruf ist mir aber mehr wert. Ich bin prinzipiell für Veränderungen offen, habe aber derzeit absolut kein Bedürfnis, etwas an der aktuellen Situation zu verändern.</p> <p><strong>Wie gefällt euch beiden die Tätigkeit als Landarzt? Wäre ein Versorgungszentrum in der Stadt auch eine Option für euch?</strong></p> <p><strong>Boris H.:</strong> Ich würde nur am Land Allgemeinmediziner sein wollen. Versorgungszentren werden meiner Meinung nach Ambulanzbetriebe mit deutlich eingeschränkter freier Gestaltungsmöglichkeit sein. Also aus heutiger Sicht: nein.</p> <p><strong>Elisabeth S.:</strong> Für mich käme eine Ordination ausschließlich zu zweit infrage. Ich erlebe dieses Einzelkämpfertum bei jeder Vertretung wieder. Der mehr als erholungsbedürftige Ordinationsinhaber rettet sich in ein paar Tage Urlaub, dann geht er es wieder alleine an. Keiner nimmt sich jemanden dazu, obwohl er es dadurch jeden Tag komfortabler hätte. Doch wenn ich mich umsehe, fehlen mir die potenziellen Partner für eine gemeinsame Ordination. Auch hier gilt: Niederlassungswillige Allgemeinmediziner sind Mangelware.</p> <p><strong>Was haltet ihr von dem Vorschlag, verwaiste Landpraxen von Spitalsärzten versorgen zu lassen? Denkt ihr, Spitalsärzte sind gerüstet für die allgemeinmedizinische Praxis?</strong></p> <p><strong>Elisabeth S.:</strong> Ohne Lehrpraxismonate hätte ich mir keine Vertretungstätigkeit zugetraut.</p> <p><strong>Boris H.:</strong> Auch für mich waren es die lehrreichsten Monate in „angewandter Medizin“.</p> <p><strong>Wie zufrieden seid ihr mit eurer jetzigen Berufssituation?</strong></p> <p><strong>Elisabeth S.:</strong> Meine jetzige Berufsausübung kommt meiner Vorstellung von „Ärztin sein“ sehr nahe. Es ist gut möglich, dass ich mich in einigen Jahren beruflich verändern werde, es ist aber sehr beruhigend, dass ich eine Veränderung nicht herbeisehne, im Gegenteil.</p> <p><strong>Boris H.:</strong> Auch ich bin derzeit gerne bei der Polizei und ohne Weiteres auch noch länger. Ich habe die bequeme Sicherheit, auf sich bietende Chancen reagieren zu können.</p> <p><strong>Ich wünsche euch weiterhin einen erfüllenden Berufsalltag. Möge er noch viele angenehme Überraschungen für euch bereit haben.</strong></p></p>
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