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Aufsuchende Angebote als Chance

Die Psychiatrie auf Stör

Niederschwellige aufsuchende Angebote können die Versorgung psychisch schwerstbeeinträchtigter Menschen deutlich verbessern. Die Patientinnen und Patienten bewahren ihre Autonomie und gleichzeitig können Behandlungen gegen den Willen sowie Zwangsmassnahmen vermindert werden.

Keypoints

  • Aufsuchende Behandlungsangebote in der Psychiatrie sind wirksam, von den Betroffenen erwünscht und können sogar Zwangsmassnahmen verhindern.

  • Laut internationalen Leitlinien sollen sie Teil der Grundversorgung sein. Gleichzeitig muss die Finanzierung dieser Angebote gesichert sein.

Die Stör bezeichnet die Arbeit eines Handwerkers im Haus des Kunden. Begriffe wie Störköchin oder Störschneider stehen entsprechend für Köchinnen oder Schneider, die am Wohnort des Kunden tätig sind. Analog holen aufsuchende psychiatrische Angebote die Betroffenen dort ab, wo sie sich gerade befinden. Aufsuchende psychiatrische Behandlungen finden typischerweise im häuslichen Umfeld der Patientinnen und Patienten statt, womit sie die klassischen Behandlungspfade und -settings (wie Klinikstationen oder ambulante Einrichtungen) gewissermassen «stören». Im Sinne einer gemeindenahen Versorgung ist diese Störung jedoch positiver Art, denn wohnortnäher als bei den Patientinnen und Patienten zu Hause kann die Behandlung nicht erfolgen.

In den S3-Leitlinien der DGPPN zu psychosozialen Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen werden flexible aufsuchende Angebote als Teil der intermediären Versorgung empfohlen.1 Auch der Grossteil der Betroffenen wünscht sich eine Behandlung im ambulanten Rahmen oder durch aufsuchende Angebote.2 Intermediäre Angebote stellen den Zwischenraum zwischen stationärer Vollversorgung und ambulanter Behandlung bei niedergelassenen Ärzt:innen oder Psycholog:innen dar. Dazu zählen psychiatrische Ambulatorien, Tageskliniken und aufsuchende Angebote wie Home Treatment und intensives Case Management.3 Mit diesen Angeboten, die näher am direkten Lebensumfeld der Betroffenen sind, kann nicht nur die psychiatrische Versorgung insgesamt verbessert werden, es können auch bestimmte Themen, wie z.B. Verminderung der Behandlungen gegen den Willen, Verkürzung der Aufenthaltsdauern oder Verminderung der stationären Wiedereintritte, bedient werden. Obwohl «ambulant vor stationär» auch in der Schweiz immer wieder gefordert wird, gestaltet sich die Finanzierung intensiver ambulanter und aufsuchender Leistungen nach wie vor sehr schwierig. Diese muss zusätzlich über kantonale Subventionen gewährleistet werden, deren Nachhaltigkeit oftmals nicht sichergestellt ist und die unternehmerische Planbarkeit entsprechend erschwert.

Aufsuchende Angebote in der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (ipw)

Die ipw ist eine Grundversorgungsklinik im Kanton Zürich in der Schweiz mit einem Einzugsgebiet von ca. 480 000 Einwohnenden und traditionell gut ausgebauten sozialpsychiatrischen Ambulatorien und Tageskliniken. Die ipw entwickelte und implementierte in letzter Zeit verschiedene aufsuchende Behandlungsangebote, wie ein Spezialisiertes Aus- und Übertrittsmanagement (SAUM) für die frühe poststationäre Phase, ein Home Treatment für Erwachsene (HTE) und eine Intensiv Aufsuchende Behandlung (IAB) für Menschen mit erhöhtem Zwangsmassnahmerisiko. Das HTE ist ein noch relativ junges Angebot, das erst Mitte 2022 startete. Das SAUM wurde 2019 eingeführt und per Ende 2023 wiedereingestellt. Angesichts der bereits sehr kurzen stationären Aufenthaltsdauern in der ipw liess sich für das SAUM keine überzeugende Wirksamkeit im Sinne einer weiteren Reduktion der stationären Verweildauern oder der Rehospitalisationsraten zeigen. Entsprechend wurde auch die auslaufende Sonderfinanzierung durch den Kanton nicht verlängert. Die IAB soll in diesem Beitrag als spezialisiertes aufsuchendes Angebot für Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen näher dargestellt werden.

Wichtig zu erwähnen ist, dass der Kanton Zürich schweizweit eine Spitzenposition in Bezug auf unfreiwillige Einweisungen in Psychiatrien per fürsorgerische Unterbringungen (FU) einnimmt, wobei die Gründe dafür nicht einfach zu eruieren sind.4 In der ipw beträgt der Anteil an Menschen, die gegen ihren Willen auf eine der Akutstationen für Erwachsene eingewiesen werden, bis zu 50%. Patientinnen und Patienten, die per FU psychiatrisch hospitalisiert werden, erleben auch häufiger die Anwendung von Zwangsmassnahmen (ZM), wie z.B. Zwangsmedikationen oder Isolationen. Weiter zeigte eine hausinterne Analyse, dass ein Grossteil der ZM zulasten einiger weniger Patienten geht. So entfiel während eines zweijährigen Beobachtungszeitraums gut ein Drittel (rund 900) der insgesamt ca. 2300 ZM auf lediglich 38 (von insgesamt gut 3300 stationär behandelten) Patient:innen. Diagnostisch waren es am häufigsten Patient:innen mit schizophrenen Erkrankungen oder bipolaren Störungen.

Vor diesem Hintergrund will die ipw FU und ZM im Sinne der integrierten Versorgung mit dem Angebot der IAB nicht nur im Kontext der stationären Behandlung angehen, sondern Patientinnen und Patienten mit hohem Risiko für ZM bereits frühzeitig identifizieren und ihre Zahl durch aufsuchende Behandlungen ZM weiter reduzieren. So können psychische Dekompensationen, z.B. aufgrund von mangelnder Adharence (z.B. Absetzen der Medikation), frühzeitig erkannt werden und Einweisungen per FU sollen wenn möglich verhindert werden. Notwendige stationäre Behandlungen können so idealerweise im Sinne von Kriseninterventionen frühzeitig und auf freiwilliger Basis erfolgen, was auch die Patientenautonomie stärkt.5 Mit der IAB will die ipw Patientinnen und Patienten erreichen, die sonst aufgrund der Schwere ihrer psychiatrischen Erkrankung und der häufigen Behandlungsabbrüche meist nicht im klassischen Ambulatorium, in der psychiatrischen Praxis oder Tagesklinik angegliedert werden können. Oft sind diese Menschen auch von Obdachlosigkeit bedroht oder bereits betroffen. Die Idee ist eine Verbesserung der Beziehung und dadurch Erhöhung des gegenseitigen Vertrauens. Somit könnten die betroffenen Personen ausserhalb der Klinik im Rahmen von regelmässigen Kontakten, trotz mangelnder Anbindung an sonstige Angebote, eine sozialpsychiatrische Begleitung erleben.

Im Herbst 2021 startete die IAB mit einem kleinen interprofessionellen Team aus Pflegefachpersonen, Sozialarbeiter:innen und Ärzt:innen. Ebenfalls sind Peer-Mitarbeitende ein Teil des Konzepts, wie es auch in der Literatur empfohlen wird.6 Für die Pflegefachpersonen sollte der Caseload rund 8–12 (im Mittel 10) Patient:innen pro 100% betragen. Die Patient:innen werden vom IAB-Team intensiv in ihrem häuslichen oder sonstigen Umfeld begleitet (wobei Obdachlosigkeit kein Ausschlusskriterium darstellt).7, 8

Der Aufbau einer langfristigen, nachhaltigen und vertrauensvollen Beziehung ist das Kernelement der IAB. Gerade bei fehlender Erreichbarkeit aufgrund von sozialer Isolation, Obdachlosigkeit etc. ist der stationäre Aufenthalt oft die einzige Möglichkeit einer verbindlicheren Kontaktaufnahme. In einem strukturierten und sicheren Rahmen können die ersten Schritte im Beziehungsaufbau unternommen werden. Dabei sind kurze, aber höher frequentierte Kontakte möglich. Das Recht auf Autonomie der Betroffenen sollte dabei genauso berücksichtigt werden wie auch das Grundbedürfnis nach menschlicher Nähe. Aufgrund von negativen (Zwangs-)Erfahrungen während Voraufenthalten in der Klinik besteht oft ein Misstrauen gegenüber dem Personal. Gerade bei Menschen im psychotischen Zustand müssen dabei grosse Hürden überwunden werden, was ein behutsames Vorgehen erfordert. Wahninhalte werden aufgrund von Ängsten vor Sanktionierungen oder davor, nicht ernst genommen zu werden, zurückgehalten. Gerade bei erneuten Hospitalisationen haben die Team-Mitglieder der IAB, die den Patienten idealerweise bereits länger kennen und ambulant begleiten, die Möglichkeit, zwischen Betroffenen und Klinikpersonal zu vermitteln und Übersetzungsleistungen zu erbringen, um Missverständnisse bestenfalls gar nicht erst entstehen zu lassen. Dadurch kann der Kontakt mit dem Klinikpersonal anders erlebt werden und die Beziehung zur Institution der Klinik verbessert werden. Die Investition in den Beziehungsaufbau bereits während des stationären Aufenthaltes, aber vor allem auch in Phasen ausserhalb der Klinik lohnt sich also. Nicht zuletzt können die Mitarbeitenden der IAB und des (psychiatrischen) Helfernetzes erleben, dass selbst im psychotischen Zustand eine tragfähige Beziehung erhalten bleiben kann. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der IAB lassen sich dabei von kurzen Beziehungsabbrüchen nicht entmutigen und versuchen jeweils den Kontakt wiederaufzunehmen – unabhängig davon, wie erfolgreich sie beim letzten Anlauf waren. Dies impliziert allerdings, dass sich Mitarbeitende der IAB in Geduld üben und auch bereits kleinste Teilschritte erkennen müssen.

In der Zeit zwischen Oktober 2021 und Dezember 2023 wurden im Rahmen der IAB insgesamt 58 Patientinnen und Patienten behandelt. Dabei handelte es sich vor allem um Männer (67,2%), die im Durchschnitt 40,7 Jahre alt waren und zumeist an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis (72,4%), einer affektiven, meist bipolaren (13,8%) Erkrankung oder Suchterkrankung (8,6%) litten. Sie waren im Vorfeld mehrfach, oft gegen den eigenen Willen in der ipw hospitalisiert worden und hatten häufig Zwangsmassnahmen erlebt. Bei einer Untergruppe von insgesamt 31 Patientinnen und Patienten, die bereits seit mindestens 6 Monaten mit IAB betreut wurden und in dieser Zeit mindestens 5 ambulante Konsultationen erlebt hattn, zeigte sich im Vergleich zu dem Halbjahr vor Beginn der IAB eine deutliche Abnahme der stationären Aufnahmen per FU (Abb. 1A), der ZM (Abb. 1B) und der stationären Aufnahmen (Abb. 1C) sowie der Behandlungstage insgesamt (Abb. 1D).

© Natalija Gavrilovic

Abb. 1: Eine intensiv aufsuchende Behandlung führt zu einer deutlichen Abnahme von fürsorgerischer Unterbringung (A), der Zwangsmassnahmen (B) und stationären Aufnahmen (C) sowie der Behandlungstage insgesamt (D)

Fazit

Auch wenn es sich um vorläufige Resultate aus einer kleinen Stichprobe (n=31) und mit einer relativ kurzen Beobachtungsphase handelt, ist das Ergebnis doch richtungsweisend. Durch das flexibel angepasste und niederschwellige Angebot der IAB waren die stationären Aufenthalte gegen den Willen und die Anwendungen von ZM deutlich rückläufig. Das Beispiel zeigt, dass es sich lohnt, niederschwellige, flexiblere, den Bedürfnissen der Betroffenen angepasste Angebote zu entwickeln, um die psychiatrische Versorgung zu verbessern. Letztendlich gelingt es so eher, die Beziehung zu den betroffenen Menschen zu intensivieren und die negativen Aspekte wie ZM, die der Psychiatrie immer noch anhängen, zu vermindern. Gleichzeitig ist eine einheitliche und sichere Finanzierung dieser intensiven Angebote als wichtige Grundvoraussetzung unabdingbar.

1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin: Springer, 2018 2 Farrelly S et al.: What service users with psychotic disorders want in a mental health crisis or relapse: thematic analysis of joint crisis plans. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2014; 49(10): 1609-17 3 Hepp U: Ambulant und intermediär vor stationär. In: Mahler L, Jarchov-Jadi I, Jäger M, editors. Praxishandbuch Akutpsychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag, 2023. 84-9 4 Schuler D et al.: Fürsorgerische Unterbringung in Schweizer Psychiatrien (Obsan Bulletin 2/2018). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2018 5 Steinert T: Patientenautonomie ernst nehmen – eine Herausforderung. Psychiatr Prax 2017; 44(3): 122-4 6 Amering M, Schmolke M: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2007 7 Briner D et al.: Psychische Krankheit und subjektive Gesundheit bei Wohnungslosen in Zürich. Psychiatr Prax 2017; 44(6): 339-47 8 Jaeger M et al.: Psychosocial functioning of individuals with schizophrenia in community housing facilities and the psychiatric hospital in Zurich. Psychiatry Res 2015; 230(2): 413-8

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