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Das Vienna Bone and Growth Center

Multidisziplinäre Betreuung von seltenen Knochenerkrankungen aus Sicht der Orthopädie

Seltene Knochenerkrankungen zeichnen sich häufig durch komplexe klinische Verläufe und eine enorme Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen aus. Multidisziplinarität ist auch für die betreuende Orthopädie entscheidend, um eine bestmögliche Behandlung zu erzielen.

Keypoints

  • Multidisziplinarität ist entscheidend, um der Komplexität von seltenen Knochenerkrankungen gerecht zu werden.

  • Der Übergang der Betreuung vom Kindes- ins Jugend- und Erwachsenenalter (= Transition) ist eine Herausforderung für viele Zentren und bedarf eines gut funktionierenden, fächerübergreifenden Netzwerks.

  • Bei seltenen Erkrankungen mit Beteiligung des Knochenstoffwechsels sollte geplanten orthopädischen operativen Eingriffen eine knochenspezifische endokrinologische Freigabe („bone clearance“) vorangehen.

  • Chirurgisch ist bei seltenen Erkrankungen auch mit seltenen Komplikationen zu rechnen.

Seltene Knochenkrankheiten rücken international zunehmend in den Fokus. Dazu beigetragen haben natürlich auch die Entwicklung neuer Medikamente und das damit einhergehende neu entfachte wissenschaftliche Interesse. Einerseits ist die Anzahl an Publikationen im Bereich der seltenen Knochenerkrankungen in den letzten Jahren stark gestiegen, andererseits sind es aber auch Top-Journals wie Nature und Lancet, die ihren Beitrag dazu leisten, indem sie über neue Erkenntnisse z.B. zu Achondroplasie oder XLH („X-linked hypophosphatemia“) berichten.

Mit neuen Erkenntnissen zur Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen müssen Guidelines regelmäßiger aktualisiert werden. Das Bewahren des Überblicks über Neuerungen in den verschiedenen Fachrichtungen und die Umsetzung im multidisziplinären Setting sind eigene Herausforderungen.

Dieser Artikel soll die multidisziplinäre Versorgung von Patient:innen mit seltenen Knochenerkrankungen beschreiben. Dabei wollen wir die für eine „State of the art“-Behandlung notwendigen Begriffe der Multidisziplinarität, Transition und „bone clearance“ näher erörtern und anhand orthopädischer Beispiele veranschaulichen.

Multidisziplinarität

Die enorme Spezialisierung der einzelnen medizinischen Fachrichtungen, aber auch die Komplexität der betreffenden Erkrankungen (Krankheitsverlauf und -schwere) bedingen die Notwendigkeit der multidisziplinären Vernetzung.

Letzteres ergibt sich aus den unterschiedlichen Verläufen einer bestimmten Grunderkrankung, insbesondere aus dem Ausmaß der Fehlstellungen, aber auch aufgrund der extremen Seltenheit und der damit einhergehenden geringen Erfahrungswerte. Chirurgisch ist bei seltenen Erkrankungen auch mit seltenen Komplikationen zu rechnen.

Der Aufbau multidisziplinärer Zentren zur Versorgung seltener Knochenerkrankungen stellt Teams und Krankenhäuser international vor etliche Probleme. Während manche internationale Zentren die multidisziplinäre Kapazität an einem Ort bündeln, zeigt das Vienna Bone and Growth Center (VBGC), wie die klinische Betreuung dieser Patient:innen auch an mehreren Zentren unterschiedlicher Lokalisation erfolgreich sein kann. Diese Art der Zentrumsvernetzung könnte auch für andere Fachkliniken eine Möglichkeit zum Ausbau der Multidisziplinarität darstellen.

Transition

Der Übergang der Betreuung vom Kindes- in das Erwachsenenalter (Transition) ist generell eine herausfordernde Zeit. Umso schwerwiegender kann sich dies im Bereich der seltenen Erkrankungen auswirken. Die Pubertät ist durch hormonelle Auswirkungen auf den Körper (z.B. Wachstum), aber auch durch ihre psychosozialen Konsequenzen (Compliance, mentale Gesundheit) eine besondere Herausforderung für die Patient:innen, die Familien und die betreuenden Ärzt:innen. Neben der engmaschigen Betreuung und Observanz in dieser Zeit (z.B. Skoliose- oder Beinachsenentwicklung) gilt es des Weiteren, die darauffolgende Betreuung im Erwachsenenalter vorzubereiten, die Selbstständigkeit zu fördern und eine Awareness bzgl. der eigenen Erkrankung (und der möglichen Vererbbarkeit) zu schaffen.

Die Betreuung von erwachsenen Patient:innen mit seltenen Erkrankungen ist häufig ein Schwachpunkt der medizinischen Versorgung. Ein optimales multidisziplinäres Setting sollte die Versorgung sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen mit seltenen Knochenerkrankungen ermöglichen und ab dem 14. Lebensjahr eine Transition gut organisiert vorbereiten.

„Bone Clearance“

In unserem Zentrum haben sich in den letzten Jahren der Begriff und das Konzept der „bone clearance“ durchgesetzt. Geplante orthopädische Eingriffe werden nur noch in Rücksprache mit dem multidisziplinären Team, vor allem mit dem endokrinologischen Team, durchgeführt. Dies ist besonders hilfreich für die Einschätzung des optimalen Operationszeitpunktes bei rachitischen Veränderungen (z.B. präoperative Optimierung des Knochenstoffwechsels), Knochenstabilität und Heilung (z.B. Anpassung des Bisphosphonatschemas bei Glasknochenerkrankungen, Planung von osteotomiefreien Operationen) und die Einschätzung des Restwachstums bzw. des Wachstumspotenzials (z.B. bei der Planung von wachstumslenkenden Operationen bei seltenen Knochenerkrankungen).

Natürlich muss auch die spezifische multidisziplinäre Operationsfreigabe erfolgen. Begleiterkrankungen und deren Nachbehandlungsschemata (z.B. Optikusgliom bei Neurofibromatose mit notwendigen MRT-Kontrollen im Verlauf) und krankheitsspezifische Risiken (z.B. HWS-Instabilität bei unterschiedlichen Skelettdysplasien) müssen beachtet werden.

Orthopädische Beispiele für multidisziplinäre Betreuung

Achondroplasie

Die kinderorthopädische Versorgung bei Achondroplasie legt den Fokus auf Wirbelsäulen- und Beinachsenentwicklung, Gelenksstabilität, Alltagsfunktion der Extremitäten und Lebensqualität. Durch die Entwicklung neuer medikamentöser Therapieformen (CNP-Analoga als Injektionstherapie), welche das Wachstum fördern, müssen orthopädische Eingriffe multidisziplinär diskutiert werden. Die fehlende Datenlage zur Kombination von medikamentösen und chirurgischen Methoden macht eine individuelle, multidisziplinäre Herangehensweise notwendig.

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Das VBGC bietet ein multidisziplinäres Setting zur Betreuung und Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit seltenen Knochenerkrankungen. Das Zentrum ist sowohl auf nationaler (NAPSE) als auch auf europäischer Ebene (ERN BOND) ein designiertes Zentrum für die Behandlung seltener Knochenerkrankungen

Phosphatdiabetes (XLH)

FGF23-Antikörper haben zu ausgeprägten Paradigmenwechsel in der Behandlung dieser Erkrankung geführt. Die neue medikamentöse Therapie verbessert vor allem die rachitische Komponente bei Kindern und die Pseudofrakturheilung bei Erwachsenen mit XLH. Während die chirurgische Pseudofrakturversorgung in den nächsten Jahren bei gutem Ansprechen auf die Therapie möglicherweise obsolet werden könnte, wird das Thema der Beinachsenfehlstellungen mit komplexen Deformitäten wohl auch trotz der neuen Therapie präsent bleiben.

Glasknochenerkrankung und kindliche Osteopenie

Die Unfallchirurgie und die Orthopädie sind häufig erste Anlaufstelle und zugleich die Initiatoren für eine frühe Abklärung einer auffälligen Frakturanamnese. Die Betreuung und individuelle Entscheidung für operative Eingriffe erfolgen multidisziplinär. Medikamentöse Therapien und orthopädische Interventionen müssen zwingend abgesprochen und gut geplant werden. Auch hier werden neue Therapien in den nächsten Jahren möglicherweise zu Änderungen der orthopädischen Guidelines führen.

Neurofibromatose (NF)

Die Neurofibromatose ist eine komplexe genetische Erkrankung, die auch muskuloskelettale Symptome beinhalten kann. Neben der Skoliose können auch Beinlängendifferenzen und vor allem die kongenitale Unterschenkelpseudarthrose zu schweren Einschränkungen des Bewegungsapparats führen. Die multidisziplinäre Betreuung von Patient:innen mit NF ist besonders wichtig, um den individuellen Verlauf je nach Schweregrad im Blick zu behalten.

Viele weitere Erkrankungen, wie Hemihypertrophie-Syndrome, Skelettdysplasien und andere seltene und ultraseltene Knochenerkrankungen, bedürfen eines multidisziplinären Austausches, um eine bestmögliche orthopädische Versorgung zu ermöglichen.

Das Vienna Bone and Growth Center (VBGC)

Das Orthopädische Spital Speising, Wien, ist einer von 4 Standorten des VBGC, neben dem AKH Wien (Team der pädiatrischen Endokrinologie/Osteologie, Genetik, Orthopädie, Physiotherapie, Radiodiagnostik etc., Leitung: Prof. Dr. Gabriele Hartmann, Leiterin des VBGC), dem Hanusch-Krankenhaus Wien (Standort-Leitung: Prof. Dr. Roland Kocijan) und dem Ludwig Boltzmann Institut für Osteologie, Wien (Standort-Leitung: Priv-Doz. Dr. Nadja Fratzl-Zelman). Der Speisinger VBGC-Standort hat neben dem kinderorthopädischen Kernteam (Dr. Gabriel Mindler, Dr. Alexandra Stauffer, Prim. Prof. Dr. Catharina Chiari) Unterstützung durch die gesamte kinderorthopädische Abteilung sowie ein multidisziplinäres perioperatives Setting (Kinderanästhesie, Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie etc.). Derzeit wird der Ausbau der orthopädischen Transition vorangetrieben, die vor allem in der endoprothetischen Versorgung (Priv.-Doz. Dr. Jochen Hofstätter) bereits auf hohem Niveau gegeben ist.

Patient:innen werden kinderorthopädisch und orthopädisch im Orthopädischen Spital Speising von Geburt an bis ins Erwachsenenalter betreut. Zusätzlich wird eine patient:innenorientierte Betreuung durch gezielte Kleingruppen-Kinder-Reha-Aufenthalte (Kokon Reha Bad Erlach, Leitung: Prim. Prof. Dr. Jutta Falger) ermöglicht. Das multidisziplinäre Netzwerk des VBGC umfasst die unterschiedlichsten Fachrichtungen, wie Zahnmedizin, Kinderradiologie, Genetik, Physiotherapie, Ergotherapie, Psychologie, Sozialarbeit etc.

Ergänzend findet die fachliche und wissenschaftliche Vernetzung auch auf internationaler Ebene statt: mit Patient:innenvertretungen, aber auch in den spezifischen Fachgesellschaften, wie der VKO (Vereinigung für Kinderorthopädie), EPOS (Europäische Vereinigung für Kinderorthopädie) oder auch der ISCBH (International Society for Children‘s Bone Health).Mit dem Projekt einer multidisziplinären Tele-Ambulanz im Orthopädischen Spital Speising versuchen wir derzeit die Betreuung weiter zu optimieren. Zusätzlich wird im Orthopädischen Spital Speising derzeit an telemedizinischen Beratungsmöglichkeiten für Betroffene mit seltenen Erkrankungen gearbeitet.

Ausblick

Noch nie hat sich auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen so viel Behandlungsrelevantes getan. Trotz verbesserter Versorgung vieler seltener Knochenerkrankungen zeichnen sich diese weiterhin durch eine enorme Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen aus. Der weitere Ausbau der Multidisziplinarität sowie der Behandlung im Erwachsenenbereich, gut (multidisziplinär) geplante operative Eingriffe und die Vernetzung in Fachkreisen und mit Patient:innenvertretungen sind die Säulen für eine optimale Versorgung von Patient:innen mit diesen seltenen Erkrankungen.

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