„Globesity“ und das kardiometabolische Risiko
Dr. Dominic Klein
5. Medizinische Abteilung Wiener Gesundheitsverbund Klinik Favoriten, Wien
E-Mail: dominicphilipp.klein@gesundheitsverbund.at
Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Diana Bonderman
5. Medizinische Abteilung Wiener Gesundheitsverbund Klinik Favoriten, Wien
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Die steigende Prävalenz der Adipositas wirft einige Fragen auf: Wie sehen optimale Diagnostik und Therapie aus? Wie sind die Auswirkungen auf Gesundheit, Psyche, Soziales, Wirtschaft und auch auf das Gesundheitsbudget? Body-Mass-Index, Bauchumfang oder Laborchemie – was ist für wen das beste Maß? Ist die medikamentöse Therapie der Adipositas eine Modeerscheinung oder der neue Modus Operandi?
Gegenstand (nicht ganz) aktueller Debattenist der Body-Mass-Index (BMI) als singuläres Diagnosekriterium. Er ist die seitens der World Health Organization (WHO) üblichste Einteilung in Gewichtskategorien (Tab.1).1Die Diskussion beinhaltet die nur unzureichende Repräsentanz des BMI für einen krankheitsursächlichen Überschuss an Fettgewebe bzw. dessen Verteilung, da bspw. bei großer Muskelmasse das Risiko überbewertet werden kann. Diese Überlegungen berücksichtigen, dass je nach körperlicher Konstitution, Status und Funktionsniveau ein BMI ≥30kg/m2 nicht zwangsläufig mit einem Leidensdruck oder Krankheitswert vergesellschaftet sein muss.
Diagnose und Evaluation
Es ist somit die Empfehlung des aktuellsten Konsenses, neben dem BMI zusätzlich folgende anthropometrische Maße zu evaluieren (Abb.1):2
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Bauchumfang
-
„waist-to-hip ratio“ bzw. Bauch-Hüftumfang-Verhältnis
-
„waist-to-height ratio“ bzw. Bauchumfang-Körpergrößen-Quotient
Um die Diagnose Adipositas zu stellen, bedarf es erhöhter Werte bei zumindest zwei der vier angeführten Parameter. Jede Adipositas- oder Übergewichtsdiagnose sollte eine fundierte Risikoevaluation nach sich ziehen, um Zusammenhänge mit potenziellen gesundheitlichen Folgeerscheinungen herzustellen. Es gilt, eine präklinische Adipositas von einer klinischen Adipositasdiagnose zu differenzieren. Somit lässt sich ein Perspektivenwechsel von einer potenziell stigmatisierenden Diagnose zu einem klinischen Merkmal mit oder ohne Krankheitswert anregen. Mit dem Wissen um genannte und zusätzliche (z.B. ethnische) Stärken und Schwächen des BMI lässt sich dieser gut als Screeningtool verwenden. Das Stellen einer Diagnose bedarf jedoch ggf. einer differenzierteren Betrachtung.
Lage in Österreich
Einen Überblick über den österreichischen Status quo und dessen Entwicklung bieten die zuletzt 2019 erschienenen Daten der österreichischen Gesundheitsbefragungen der Statistik Austria im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.3 50,8% der Befragten gaben einen BMI ≥25kg/m2 an. Wie auch im internationalen Vergleich liegt der Prozentsatz österreichischer Männer im Erwachsenenalter sowohl hinsichtlich Übergewicht (41,4% vs. 27,4%) als auch Adipositas (17,9% vs. 15,0%) über dem der österreichischen Frauen. Summativ/gemeinschaftlich liegt der durchschnittliche BMI in Österreich im EU-Durchschnitt. Aufgeschlüsselt nach den biologischen Geschlechtern haben österreichische Frauen niedrigere BMI als der europäische Durchschnitt, die österreichischen Männer haben jedoch ebenso wie die deutschen Nachbarn höhere BMI.
Während sich bezüglich Adipositas in Österreich (12,8% 2006/07 vs. 16,5% 2019), in Europa und weltweit ein eindrücklicher Trend nach oben zeigt, hält sich die Übergewichtskategorie weitestgehend konstant bei ca. 35%.3
Immer mehr Kinder betroffen
Übergewicht und Adipositas sind jedoch kein exklusives Erwachsenenthema. Auch bei Kindern zeichnet sich weltweit ein deutlicher Trend zu steigenden BMI ab – wie auch bei den Erwachsenen steiler für Jungen als für Mädchen.
Als Teilnehmer an der WHO „Childhood Obesity Surveillance Initiative“ (COSI) veröffentlichte Österreich 2023, dass 30% der Volksschulkinder mit Übergewicht oder Adipositas leben. Über den aktuellen Beobachtungszeitraum seit 2016 konnte – trotz weiterhin hoher Prävalenz – entgegen dem globalen Trend kein Ansteigen verzeichnet werden.1,4,5 Wenngleich sich für übliche Assoziationen mit Übergewicht und Adipositas nur schwache Zusammenhänge in den österreichischen Gesundheitsdaten herstellen lassen, zeigt sich eine hochsignifikante Beziehung zum Bildungsgrad, mit den höchsten Prävalenzen in den bildungsfernsten Gruppen.1,3
Folgen für das Gesundheitssystem
Mit jährlich 2,4 Mrd. Euro, was ca. 5% der österreichischen Gesundheitsausgaben entspricht, stellen die Folgen von Übergewicht und Adipositas auch eine nicht unwesentliche Belastung für das Gesundheitssystem dar – neben dem medizinischen resultiert also auch ein wesentlicher bildungs-, gesundheitspolitischer und gesamtgesellschaftlicher Arbeitsauftrag.6
Therapie & Allgemeines
Der folgende zweckdienliche Überblick über die Interventionsmöglichkeiten widmet sich führenden sowie aktuell diskutierten und potenziellen zukünftigen medikamentösen Optionen.
Diät und körperliche Aktivität
Sie zählen zur Basis jedes Therapieregimes. Es lassen sich initial oft gute Erfolge erzielen. Limitierend sind eine moderate Adhärenz sowie die Tatsache, dass effektive Interventionen sehr ressourcenintensiv sind. Vorteile in klinischen Studien zeigen sich in
-
der Reduktion von Diabetesendpunkten,
-
der Reduktion von kardiovaskulären Risikofaktoren,
-
den Mortalitätsendpunkten (mit widersprüchlicher Evidenz für kardiovaskuläre Endpunkte).7
Bariatrische (metabolische) Chirurgie
Als Qualifikation für einen bariatrischen Eingriff bedarf es zumeist eines BMI von >35/40kg/m2 mit (metabolischen) Komplikationen. Es lassen sich substanzielle (Langzeit-)Gewichtsreduktionen erzielen.8 Evidenzbasierte Therapieziele sind die Reduktion von:
-
kardiovaskulären Endpunkten,
-
Nierenendpunkten,
-
Diabetesendpunkten (inkl. Remission)
-
und adipositasassoziierten Tumorerkrankungen.7
Medikamentöse Therapie
Medikamentöse Therapieoptionen bieten moderate bis substanzielle Gewichtsreduktionen. Teils sind die nachfolgend vorgestellten Substanzen auch gewichtsunabhängig untersucht hinsichtlich der Reduktion von:
-
kardiovaskulären Endpunkten,
-
Diabetesendpunkten,
-
Nierenendpunkten,
-
Blutdruck und anderen Risikofaktoren.
Wirkstoffe in der Adipositastherapie
Während ältere Therapieoptionen (Orlistat, Naltrexon/Bupropion etc.) zu moderaten Gewichtsreduktionen von 5–10% führen, ermöglichen neuere Therapieoptionen – basierend auf der Modulation des Inkretinsystems – ausgeprägte Gewichtsreduktionen bis >15%.
Liraglutid
Liraglutid ist der in Österreich am längsten verfügbare Vertreter der „Glucagon-like peptide-1“-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) und ist unter den Namen Victoza® für die Behandlung von Typ-2-Diabetes und unter Saxenda® für die Behandlung von Übergewicht und Adipositas (BMI ≥30kg/m2 bzw. ≥ 27 kg/m2 mit gewichtsassoziierter Komorbidität) zugelassen.9,10 Die Erstattung durch die österreichischen Sozialversicherungsträger ist als Drittlinientherapie für Patienten mit Typ-2-Diabetes und Adipositas vorgesehen.11 Liraglutid und die anderen vorgestellten Substanzen unterscheiden sich in ihren Effektgrößen (Tab.2).
Semaglutid und Dulaglutid
Als deutlich effektiverer GLP-1-RA ist Semaglutid für die Behandlung des Typ-2-Diabetes (Ozempic®) und von Übergewicht bzw. Adipositas (BMI ≥30kg/m2 bzw. ≥27kg/m2 mit gewichtsassoziierter Komorbidität) unter dem Markennamen Wegovy® zugelassen.12,13 Die Erstattung ist in Österreich für Patienten mit Typ-2-Diabetes als Drittlinientherapie nach Metformin und SGLT2-Inhibitoren vorgesehen, wenn zumindest eine der folgenden Komorbiditäten vorliegt:11
-
BMI ≥30kg/m2,
-
atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung,
-
chronische albuminurische Nierenerkrankung.
Dulaglutid als weiterer Vertreter der (reinen) GLP-1-RA ist als Antidiabetikum zugelassen, nicht jedoch in der Indikation Gewichtsreduktion.14
Tirzepatid
Tirzepatid ist ein dualer Agonist der Inkretine GLP-1 und ein Glukose-abhängiges insulinotropes Polypeptid (GIP). Durch den bidirektionalen Wirkmechanismus lassen sich noch ambitioniertere Therapieziele anstreben. Es ist unter dem Markennamen Mounjaro® in der EU zur Behandlung sowohl des Typ-2-Diabetes als auch in der Indikation Übergewicht/Adipositas zugelassen.15 Eine groß angelegte Endpunktstudie zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos wird noch 2025 erwartet (NCT04255433). Aktuell ist Tirzepatid durch die österreichischen Sozialversicherungsträger nicht zur Erstattung gelistet.
Retatrutid
Retatrutid ist eine trivalente Substanz und aktiviert zuzüglich zu GLP-1- und GIP-Rezeptoren auch direkt den Glukagonrezeptor. Anhand der bisher publizierten Phase-II-Studien lässt sich Retatrutid als aktuell potenteste Substanz der GLP-1-RA-Familie einschätzen.7 Retatrutid ist durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) noch nicht zugelassen. Eine Erstattung durch die österreichischen Sozialversicherungsträger ist demnach aktuell nicht vorgesehen.
Triglyzeridstoffwechsel
Als kardiovaskuläres Risikosurrogat lässt sich die Triglyzerid(TG)- oder gemischte Lipidstoffwechselstörung bei Übergewicht und Adipositas beleuchten. Erhöhte TG-Werte, insbesondere in Kombination mit niedrigen HDL-Cholesterin-Konzentrationen, korrelieren mit dem kardiovaskulären Risiko.16 Jedoch zeigte die Senkung der TG im Sinne der Reduktion des kardiovaskulären Risikos, z.B. durch Fibrate, keinen therapeutischen Mehrwert.17 Bemerkenswert ist jedoch, dass sich im Gegenzug dazu für alle Gewichtsinterventionen mit positiven kardiovaskulären Effekten eine Verbesserung des atherogenen Lipidprofils zeigt (Tab.2). Daraus lässt sich als wichtigster Eckpfeiler für das Management der Hypertriglyzeridämie (neben der Pankreatitisprophylaxe) die Suche nach sekundären Ursachen ableiten – darunter die häufigsten: Übergewicht bzw. Adipositas mit oder ohne Hyperalimentation und Diabetes mellitus. Infolgedessen lässt sich oft mit einem anders verorteten metabolischen Arbeitsauftrag die Verbesserung des Herz-Kreislauf-Risikos mit dem Nebeneffekt der Kontrolle der TG-Stoffwechselstörung abdecken.
Menschliches
Bewusst und/oder unbewusst werden Menschen mit Übergewicht oder Adipositas alltäglich durch Mitmenschen, Medien, Werbung und nicht zuletzt auch medizinisches Personal mit einem arbiträren Wertebild konfrontiert. Wenn auch unter dem Deckmantel der guten Intention, formieren sich multidimensionale Teufelskreise aus Stigma, Angst, Bias, Schuld, Identitäts-(Verlust) und Wertvorstellungen als Hindernis für Therapieüberzeugung und -treue. Der Vergleich von über 20 Jahre alten Daten mit rezenten Daten zeigt: Trotz weitreichender Bekanntheit des Problems gibt es nur wenig Tendenz zu einem wertfreieren Zugang zu medizinischer Versorgung.2,7 Auch aus der Perspektive der medizinischen Professionen zeigen Umfragen, dass die Behandlung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas als frustrierend und weniger fruchtbar wahrgenommen wird.
Zusammengefasst ist in der Betreuung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas das bewusste Verständnis bzw. das bewusste Wahrnehmen von „Krankheits“-spezifischem Stigma, Bias, kurz „Menschlichem“, ebenso wichtig (und evidenzbasiert) wie die Kenntnis der „hard skills“ – zum Schutz des für uns höchsten Gutes, des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Mensch.
Literatur:
1 World Health Organization (WHO): Obesity and overweight. www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/obesity-and-overweight ; zuletzt aufgerufen am 15.10.2025 2 Rubino F et al.: Definition and diagnostic criteria of clinical obesity. Lancet Diabetes Endocrinol 2025; 13(3): 221-62 3 Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK): Österreichische Gesundheitsbefragung 2019. www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gesundheit/gesundheitsverhalten/uebergewicht-und-adipositas ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 4 Abarca-Gómez L et al.: Worldwide trends in body-mass index, underweight, overweight, and obesity from 1975 to 2016: a pooled analysis of 2416 population-based measurement studies in 128·9 million children, adolescents, and adults. Lancet 2017; 390(10113): 2627-42 5 Felder-Puig R, Teufl LB: Childhood Obesity Surveillance Initiative (COSI). Ergebnisbericht Österreich 2023; https://jasmin.goeg.at/id/eprint/3844/1/2023%20COSI-Bericht%20Austria_bf.pdf ; zuletzt aufgerufen am 29. 4. 2025 6 Reitzinger S, Czypionka T: Low-, moderate-, and high-risk obesity in association with cost drivers, costs over the lifecycle, and life expectancy. BMC Public Health 2024; 24(1): 2069 7 Lingvay I et al.: Obesity in adults. Lancet 2024; 404(10456): 972-87 8 Österreichische Gesellschaft für Adipositas- und Metabolische Chirurgie: Informationen. www.adipositaschirurgie-ges.at/informationen ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 9 European Medicines Agency (EMA): Victoza. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/victoza ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 10 European Medicines Agency (EMA): Saxenda. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/saxenda ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 11 Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Erstattungskodex, EKO, Stand 1. 1. 2025. https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/load?contentid=10008.792924&version=1737369921 ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 12 European Medicines Agency (EMA): Ozempic. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/ozempic ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 13 European Medicines Agency (EMA): Wegovy. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/wegovy ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 14 European Medicines Agency (EMA): Trulicity. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/trulicity ; zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2025 15 European Medicines Agency (EMA): Mounjaro. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/mounjaro ; zuletzt aufgerufen am 29. 04. 2025 16 Mach F et al.: 2019 ESC/EAS guidelines for the management of dyslipidaemias: Lipid modification to reduce cardiovascular risk. Atherosclerosis 2019; 290: 140-205 17 Pradhan A et al.: Triglyceride lowering with pemafibrate to reduce cardiovascular risk. N Engl J Med 2022; 387(21): 1923-34
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