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Konservative Inkontinenztherapie bei der Frau: Was wirkt?
DAM
Autor:
Dr. Michael Zellner
Chefarzt der Abteilung für Urologie | Neuro-Urologie<br> Johannesbad Fachklinik, Bad Füssing<br> E-Mail: urologie@johannesbad.de
30
Min. Lesezeit
14.07.2016
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<p class="article-intro">Im Lauf der letzten Jahre ist die Prävalenz von Kontinenzstörungen in der weiblichen Bevölkerung kontinuierlich angestiegen und beträgt aktuell etwa ab dem 50. Lebensjahr gut 30 % .<sup>1–3</sup> Aufgrund des demografischen gesellschaftlichen Wandels in Deutschland bedeutet dies jedoch eine weitere deutliche absolute Steigerung der Anzahl betroffener Frauen auf etwa 6 Mio. Für institutionalisierte Frauen (stationäre Behandlung, Pflegeheime) wird die Prävalenz der Harninkontinenz mit ca. 56 % angegeben.<sup>4</sup></p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Unter den verschiedenen Formen der Harninkontinenz finden sich am häufigsten Belastungs- (ca. 45 % ), Drang- (ca. 11 % ) und Mischinkontinenz (ca. 35 % ).<sup>1</sup> Trotz der Implementierung zahlreicher zertifizierter Beckenbodenzentren scheint eine Entspannung der Situation nicht in Sicht. Ein Grund könnte möglicherweise in der nahezu überwiegend oder ausschließlich operativen Ausrichtung zu finden sein, obwohl die Therapie der ersten Wahl bei Harninkontinenz gemäß aktuellen Leitlinien konservativ erfolgen sollte. Wegen der primär operativen Ausrichtung nehmen adäquate Diagnostik und konservativ physiotherapeutische und multimodale Ausrichtung allenfalls einen geringen Stellenwert ein. Möglicherweise wird in diesen Institutionen der Akquise zur Auslastung der operativen Kapazitäten mehr Bedeutung beigemessen?</p> <h2>Biofeedback als Therapieprinzip</h2> <p>Grundlage jeder qualifizierten konservativen Behandlung sind die etablierten Prinzipien des Biofeedback­trainings. Biofeedback nutzt als Therapiemethode die zeitgleiche Rückmeldung normalerweise nicht bewusster körperlicher Funktionen, um dadurch die bewusste Kontrolle dieser Funktionen zu generieren. Dabei gilt es, die regulären physiologischen Afferenzen aus Muskel-, Sehnen- und Gelenkspindeln durch zusätzliche (taktile, optische, akustische) Afferenzen zu verstärken. Auf diese Weise werden die derart trainierten Muskeln stärker wahrgenommen, neuronale Regelkreise ver­bessert und die zentralnervöse Kontrolle wird optimiert.<sup>5</sup></p> <h2>Erforderlicher Wandel: von der Beckenbodengymnastik zu multimodalem Kontinenztraining</h2> <p>Ursächlich für eine Belastungsharninkontinenz ist überwiegend eine Insuffizienz des Blasenverschlussapparates (muskulärer und „bindegewebiger“ Beckenboden).<sup>6</sup> Daneben hemmt ein kompetenter Beckenbodendetrusor aktivierende Impulse.<sup>7</sup> Dabei gilt es zunächst, durch ein von qualifizierten Therapeuten angeleitetes Training den oft nicht willkürlich beeinflussbaren Beckenbodenmuskel durch rektale und/oder vaginale Tastung (Feedback) der Patientin überhaupt erst bewusst zu machen. In Belastungssituationen und bei plötzlich auftretendem, imperativem Harndrang kann durch koordinierten und isolierten Einsatz der Beckenbodenmuskulatur Kontrolle über den Harnverlust erreicht werden. Für ausreichende Kontinenz in Alltagssituationen ist in der Folge jedoch der Aufbau ausreichender Ausdauer und Kraft der Beckenbodenmuskulatur durch adäquates Training unter Alltagsbedingungen erforderlich. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, den Beckenboden in Belastungssituationen isoliert, d.h. ohne den gleichzeitigen Einsatz von nicht effektiver Hilfsmuskulatur (vor allem Oberschenkel-, Gesäß- oder Bauchmuskulatur) zu aktivieren und kontraproduktives „faulty feedback“ zu vermeiden. Nachdem die Intensität des propriozeptiv vermittelten Feedbacks von der relativen Stärke einer Muskelkontraktion abhängt, führt eine ungenügende Willkürkontrolle der Beckenbodenmuskulatur bei gleichzeitig „kompensatorischer“ Kontraktion von Skelettmuskulatur (Abdominal-, Gluteal-, Oberschenkelmuskulatur) zu einer Maskierung der ohnehin schwachen sensorischen Beckenbodensignale. Im ZNS kommt es zwangsläufig zu einer Kontraktionsverstärkung der artifiziellen Muskulatur („faulty feedback“). Daher sind z.B. Kneifübungen („Kneifen der Gesäßbacken, bis ein Geldstück seine Prägung verliert“) zu unterlassen, da es hierbei zu einer kontraproduktiven und nicht zielführenden zentralen Verstärkung der Hilfsmuskulatur kommt.<sup>5, 8</sup></p> <h2>Ergänzendes apparatives Kontinenztraining</h2> <p>Ergänzend eingesetzt werden können bei entsprechender Indikation und Beachtung von Kontraindikationen apparative Trainingsverfahren, z.B. Elektrostimulationstechniken mit Oberflächen- oder Plug-Elektroden zur rektalen oder vaginalen Stimulation zur (frequenzabhängigen) Behandlung von Belastungs- und Drangsymptomen. Für die Behandlung der Dranginkontinenz bewährt haben sich zusätzlich die afferente Nervenstimulation (z.B. Stimulation des N. tibialis posterior) und die intravesikale anticholinerge oder eine Glukosaminoglykanschicht-regenerie­rende Pharmakoinstillation, ggf. in Kombination mit Iontophorese (EMDA = „electromotive drug administration“). Wegen der vordergründig einfachen Anwendbarkeit werden antimuskarinerge Medikamente häufig als Therapie der ersten Wahl bei Drangbeschwerden gesehen, obwohl ihnen in einer umfassenden systematischen Übersicht lediglich ein begrenzter therapeutischer Nutzen attestiert wird.9 Bekannt ist bei ihrer Anwendung auch eine schlechte Therapieadhärenz (ca. 50 % Therapieabbruch nach wenigen Wochen bis Monaten, unabhängig von der Wirksamkeit).<sup>10</sup> Durch antimuskarine Medikation und häufige Multimedikation mit potenziell anticholinergem Wirkungsprofil dürfen mitunter bedeutende Einschränkungen der Kognition und Schlafhygiene mit konsekutiver Reduktion der Tagesleistungsfähigkeit (Chronodisruption) und gesteigertem Unfallrisiko nicht unbeachtet bleiben.<sup>11, 12</sup><br /> <br /> Auch für das apparative Biofeedbacktraining haben sich rektale und/oder vaginale Sonden zur Druck- oder EMG-Registrierung bewährt. Grundsätzlich sollten zur Ver­meidung eines nicht zielführenden „faulty feedback“ zweikanalige Systeme (simultane Ableitung von Beckenboden- und Hilfsmuskulatur) Anwendung finden. Als sehr hilfreich für das Verständnis der Beckenbodenfunktion hat sich auch die Visualisierung des Beckenbodens durch z.B. transrektale Sonografie bewährt (Abb. 1). Durch selektive Anspannung des Beckenbodens erkennt die Patientin den optimierten Verschluss der Harnröhre und erlebt unmittelbar den kontinenzfördernden Effekt, z.B. beim Husten, beim Aufsetzen und Aufstehen aus der liegenden Untersuchungsposition unmittelbar nach dem Training.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite9.jpg" alt="" width="564" height="443" /></p> <p>Zur Optimierung von Bewusstmachung, Koordination, Ausdauer und Kraft haben sich unter kontrollierter Anwendung auch ein medizinisches Ganzkörpervibrationstraining (Abb. 2a) und die transpelvine Magnetstimulation bewährt (Abb. 2b).<sup>13</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite10.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Lebensstiländerung mitentscheidend</h2> <p>Von bedeutender Tragweite für den Erfolg einer konservativen Kontinenztherapie sind darüber hinaus auch Veränderungen eines belastenden Lebensstils. Mit steigendem Body-Mass-Index (und Lebensalter) steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Harninkontinenz (OR bis 3,59), sondern auch das Risiko für eine Vitalstoffminderversorgung und konsekutiv ungenügend stabile Kollagenbiosynthese und somit für einen ungenügenden (Beckenboden-)Muskelaufbau.<sup>14, 15</sup> Ebenso erhöhen chronische Obstipation (OR bis 2,9) und Diabetes mellitus das Risiko einer Kontinenzstörung mitunter erheblich.<sup>2, 16–18</sup> Daher sollten individuelle Ernährungstherapie, Gewichtsoptimierung und indizierte orthomolekulare Substitution ebenso integraler Bestandteil eines zielführenden Kontinenztrainingsprogramms sein wie wirksame Hilfestellungen zur Raucherentwöhnung.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Ebbesen MH et al: BMC Urol 2013; 13: 27<br /><strong>2</strong> Nygaard IE et al: J Am Geriatr Soc 1996; 44: 1049-54<br /><strong>3</strong> Temml C et al: Neurourol Urodyn 2000; 19: 259-71<br /><strong>4</strong> Hampel CD et al: Eur Urol 1997; 32(Suppl 2): 3-12<br /><strong>5</strong> Basmajian JV (ed): Williams & Wilkins, 1989<br /><strong>6</strong> DeLancey JO: Am J Obstet Gynecol 1996; 175: 311-9<br /><strong>7</strong> Godec C et al: Urology 1975; 6: 663-6<br /><strong>8</strong> Tries J: J Enterostomal Ther 1990; 17: 67-76<br /><strong>9</strong> Herbison P et al: Br Med J 2003; 326: 841-7<br /><strong>10</strong> Zellner M: GIH Referateband; Mainz 2002<br /><strong>11</strong> Haab F et al: Eur Urol 2004; 45: 420-9<br /><strong>12</strong> Kay G et al: Eur Urol 2006; 50: 317-26<br /><strong>13</strong> Zellner M: Urologe A 2011; 50: 433-44<br /><strong>14</strong> Chiarelli P: J Int Sports Nutr 2010; 7: 24-33<br /><strong>16</strong> Abdel-Fattah M et al: Int Urogynecol J 2012; 23: 1481-2<br /><strong>17</strong> Izci Y et al: Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2009; 20: 947-52<br /><strong>18</strong> Millard R: Australian Urinary Continence Needs Analysis, part 5. 1998</p>
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