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Konservative Inkontinenztherapie bei der Frau: Was wirkt?

<p class="article-intro">Im Lauf der letzten Jahre ist die Prävalenz von Kontinenzstörungen in der weiblichen Bevölkerung kontinuierlich angestiegen und beträgt aktuell etwa ab dem 50. Lebensjahr gut 30 % .<sup>1–3</sup> Aufgrund des demografischen gesellschaftlichen Wandels in Deutschland bedeutet dies jedoch eine weitere deutliche absolute Steigerung der Anzahl betroffener Frauen auf etwa 6 Mio. Für institutionalisierte Frauen (stationäre Behandlung, Pflegeheime) wird die Prävalenz der Harninkontinenz mit ca. 56 % angegeben.<sup>4</sup></p> <hr /> <p class="article-content"><p>Unter den verschiedenen Formen der Harninkontinenz finden sich am h&auml;ufigsten Belastungs- (ca. 45 % ), Drang- (ca. 11 % ) und Mischinkontinenz (ca. 35 % ).<sup>1</sup> Trotz der Implementierung zahlreicher zertifizierter Beckenbodenzentren scheint eine Entspannung der Situation nicht in Sicht. Ein Grund k&ouml;nnte m&ouml;glicherweise in der nahezu &uuml;berwiegend oder ausschlie&szlig;lich operativen Ausrichtung zu finden sein, obwohl die Therapie der ersten Wahl bei Harninkontinenz gem&auml;&szlig; aktuellen Leitlinien konservativ erfolgen sollte. Wegen der prim&auml;r operativen Ausrichtung nehmen ad&auml;quate Diagnostik und konservativ physiotherapeutische und multimodale Ausrichtung allenfalls einen geringen Stellenwert ein. M&ouml;glicherweise wird in diesen Institutionen der Akquise zur Auslastung der operativen Kapazit&auml;ten mehr Bedeutung beigemessen?</p> <h2>Biofeedback als Therapieprinzip</h2> <p>Grundlage jeder qualifizierten konservativen Behandlung sind die etablierten Prinzipien des Biofeedback&shy;trainings. Biofeedback nutzt als Therapiemethode die zeitgleiche R&uuml;ckmeldung normalerweise nicht bewusster k&ouml;rperlicher Funktionen, um dadurch die bewusste Kontrolle dieser Funktionen zu generieren. Dabei gilt es, die regul&auml;ren physiologischen Afferenzen aus Muskel-, Sehnen- und Gelenkspindeln durch zus&auml;tzliche (taktile, optische, akustische) Afferenzen zu verst&auml;rken. Auf diese Weise werden die derart trainierten Muskeln st&auml;rker wahrgenommen, neuronale Regelkreise ver&shy;bessert und die zentralnerv&ouml;se Kontrolle wird optimiert.<sup>5</sup></p> <h2>Erforderlicher Wandel: von der Beckenbodengymnastik zu multimodalem Kontinenztraining</h2> <p>Urs&auml;chlich f&uuml;r eine Belastungsharninkontinenz ist &uuml;berwiegend eine Insuffizienz des Blasenverschlussapparates (muskul&auml;rer und &bdquo;bindegewebiger&ldquo; Beckenboden).<sup>6</sup> Daneben hemmt ein kompetenter Beckenbodendetrusor aktivierende Impulse.<sup>7</sup> Dabei gilt es zun&auml;chst, durch ein von qualifizierten Therapeuten angeleitetes Training den oft nicht willk&uuml;rlich beeinflussbaren Beckenbodenmuskel durch rektale und/oder vaginale Tastung (Feedback) der Patientin &uuml;berhaupt erst bewusst zu machen. In Belastungssituationen und bei pl&ouml;tzlich auftretendem, imperativem Harndrang kann durch koordinierten und isolierten Einsatz der Beckenbodenmuskulatur Kontrolle &uuml;ber den Harnverlust erreicht werden. F&uuml;r ausreichende Kontinenz in Alltagssituationen ist in der Folge jedoch der Aufbau ausreichender Ausdauer und Kraft der Beckenbodenmuskulatur durch ad&auml;quates Training unter Alltagsbedingungen erforderlich. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, den Beckenboden in Belastungssituationen isoliert, d.h. ohne den gleichzeitigen Einsatz von nicht effektiver Hilfsmuskulatur (vor allem Oberschenkel-, Ges&auml;&szlig;- oder Bauchmuskulatur) zu aktivieren und kontraproduktives &bdquo;faulty feedback&ldquo; zu vermeiden. Nachdem die Intensit&auml;t des propriozeptiv vermittelten Feedbacks von der relativen St&auml;rke einer Muskelkontraktion abh&auml;ngt, f&uuml;hrt eine ungen&uuml;gende Willk&uuml;rkontrolle der Beckenbodenmuskulatur bei gleichzeitig &bdquo;kompensatorischer&ldquo; Kontraktion von Skelettmuskulatur (Abdominal-, Gluteal-, Oberschenkelmuskulatur) zu einer Maskierung der ohnehin schwachen sensorischen Beckenbodensignale. Im ZNS kommt es zwangsl&auml;ufig zu einer Kontraktionsverst&auml;rkung der artifiziellen Muskulatur (&bdquo;faulty feedback&ldquo;). Daher sind z.B. Kneif&uuml;bungen (&bdquo;Kneifen der Ges&auml;&szlig;backen, bis ein Geldst&uuml;ck seine Pr&auml;gung verliert&ldquo;) zu unterlassen, da es hierbei zu einer kontraproduktiven und nicht zielf&uuml;hrenden zentralen Verst&auml;rkung der Hilfsmuskulatur kommt.<sup>5, 8</sup></p> <h2>Erg&auml;nzendes apparatives Kontinenztraining</h2> <p>Erg&auml;nzend eingesetzt werden k&ouml;nnen bei entsprechender Indikation und Beachtung von Kontraindikationen apparative Trainingsverfahren, z.B. Elektrostimulationstechniken mit Oberfl&auml;chen- oder Plug-Elektroden zur rektalen oder vaginalen Stimulation zur (frequenzabh&auml;ngigen) Behandlung von Belastungs- und Drangsymptomen. F&uuml;r die Behandlung der Dranginkontinenz bew&auml;hrt haben sich zus&auml;tzlich die afferente Nervenstimulation (z.B. Stimulation des N. tibialis posterior) und die intravesikale anticholinerge oder eine Glukosaminoglykanschicht-regenerie&shy;rende Pharmakoinstillation, ggf. in Kombination mit Iontophorese (EMDA = &bdquo;electromotive drug administration&ldquo;). Wegen der vordergr&uuml;ndig einfachen Anwendbarkeit werden antimuskarinerge Medikamente h&auml;ufig als Therapie der ersten Wahl bei Drangbeschwerden gesehen, obwohl ihnen in einer umfassenden systematischen &Uuml;bersicht lediglich ein begrenzter therapeutischer Nutzen attestiert wird.9 Bekannt ist bei ihrer Anwendung auch eine schlechte Therapieadh&auml;renz (ca. 50 % Therapieabbruch nach wenigen Wochen bis Monaten, unabh&auml;ngig von der Wirksamkeit).<sup>10</sup> Durch antimuskarine Medikation und h&auml;ufige Multimedikation mit potenziell anticholinergem Wirkungsprofil d&uuml;rfen mitunter bedeutende Einschr&auml;nkungen der Kognition und Schlafhygiene mit konsekutiver Reduktion der Tagesleistungsf&auml;higkeit (Chronodisruption) und gesteigertem Unfallrisiko nicht unbeachtet bleiben.<sup>11, 12</sup><br /> <br /> Auch f&uuml;r das apparative Biofeedbacktraining haben sich rektale und/oder vaginale Sonden zur Druck- oder EMG-Registrierung bew&auml;hrt. Grunds&auml;tzlich sollten zur Ver&shy;meidung eines nicht zielf&uuml;hrenden &bdquo;faulty feedback&ldquo; zweikanalige Systeme (simultane Ableitung von Beckenboden- und Hilfsmuskulatur) Anwendung finden. Als sehr hilfreich f&uuml;r das Verst&auml;ndnis der Beckenbodenfunktion hat sich auch die Visualisierung des Beckenbodens durch z.B. transrektale Sonografie bew&auml;hrt (Abb. 1). Durch selektive Anspannung des Beckenbodens erkennt die Patientin den optimierten Verschluss der Harnr&ouml;hre und erlebt unmittelbar den kontinenzf&ouml;rdernden Effekt, z.B. beim Husten, beim Aufsetzen und Aufstehen aus der liegenden Untersuchungsposition unmittelbar nach dem Training.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite9.jpg" alt="" width="564" height="443" /></p> <p>Zur Optimierung von Bewusstmachung, Koordination, Ausdauer und Kraft haben sich unter kontrollierter Anwendung auch ein medizinisches Ganzk&ouml;rpervibrationstraining (Abb. 2a) und die transpelvine Magnetstimulation bew&auml;hrt (Abb. 2b).<sup>13</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite10.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Lebensstil&auml;nderung mitentscheidend</h2> <p>Von bedeutender Tragweite f&uuml;r den Erfolg einer konservativen Kontinenztherapie sind dar&uuml;ber hinaus auch Ver&auml;nderungen eines belastenden Lebensstils. Mit steigendem Body-Mass-Index (und Lebensalter) steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit f&uuml;r das Auftreten einer Harninkontinenz (OR bis 3,59), sondern auch das Risiko f&uuml;r eine Vitalstoffminderversorgung und konsekutiv ungen&uuml;gend stabile Kollagenbiosynthese und somit f&uuml;r einen ungen&uuml;genden (Beckenboden-)Muskelaufbau.<sup>14, 15</sup> Ebenso erh&ouml;hen chronische Obstipation (OR bis 2,9) und Diabetes mellitus das Risiko einer Kontinenzst&ouml;rung mitunter erheblich.<sup>2, 16&ndash;18</sup> Daher sollten individuelle Ern&auml;hrungstherapie, Gewichtsoptimierung und indizierte orthomolekulare Substitution ebenso integraler Bestandteil eines zielf&uuml;hrenden Kontinenztrainingsprogramms sein wie wirksame Hilfestellungen zur Raucherentw&ouml;hnung.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Ebbesen MH et al: BMC Urol 2013; 13: 27<br /><strong>2</strong> Nygaard IE et al: J Am Geriatr Soc 1996; 44: 1049-54<br /><strong>3</strong> Temml C et al: Neurourol Urodyn 2000; 19: 259-71<br /><strong>4</strong> Hampel CD et al: Eur Urol 1997; 32(Suppl 2): 3-12<br /><strong>5</strong> Basmajian JV (ed): Williams &amp; Wilkins, 1989<br /><strong>6</strong> DeLancey JO: Am J Obstet Gynecol 1996; 175: 311-9<br /><strong>7</strong> Godec C et al: Urology 1975; 6: 663-6<br /><strong>8</strong> Tries J: J Enterostomal Ther 1990; 17: 67-76<br /><strong>9</strong> Herbison P et al: Br Med J 2003; 326: 841-7<br /><strong>10</strong> Zellner M: GIH Referateband; Mainz 2002<br /><strong>11</strong> Haab F et al: Eur Urol 2004; 45: 420-9<br /><strong>12</strong> Kay G et al: Eur Urol 2006; 50: 317-26<br /><strong>13</strong> Zellner M: Urologe A 2011; 50: 433-44<br /><strong>14</strong> Chiarelli P: J Int Sports Nutr 2010; 7: 24-33<br /><strong>16</strong> Abdel-Fattah M et al: Int Urogynecol J 2012; 23: 1481-2<br /><strong>17</strong> Izci Y et al: Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2009; 20: 947-52<br /><strong>18</strong> Millard R: Australian Urinary Continence Needs Analysis, part 5. 1998</p> </div> </p>
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