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Universimed 2020
Die Sprache der Allgemeinmedizin
DAM
Autor:
Dr. Waltraud Fink
30
Min. Lesezeit
14.07.2016
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<p class="article-intro">Ein neues Fachgebiet braucht zwangsläufig neue Begriffe. <br> Oft konnte man vom Praxisforscher Prof. Dr. Robert N. Braun hören, es sei ein Indiz, dass man sich auf unerforschtem Terrain befindet, wenn man mit den vorhandenen Begriffen nicht mehr auskommt.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Modewörter und Fachbegriffe</h2> <p>Die Sprache verrät den Sprechenden oder Schreibenden. Sprache hat mit Identität zu tun. Verstehen setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Immer wieder warf man Robert N. Braun vor, er kreiere mit seinen neuen Fachbegriffen unnötigerweise Neologismen. Vermutlich auch deshalb beschäftigte er sich mit der Sinnhaftigkeit neuer Wortschöpfungen.<br /> <br /> In einem abgedruckten Vortrag erkennt man, wie er sein Auditorium abholen und hinführen will zu den von ihm geschaffenen Fachbegriffen:<br /> <br /><em> „Sie alle wissen, dass sich die Umgangssprache laufend verändert. Denken Sie nur an den gegenwärtig grassierenden deutschen Modeausdruck ,genau‘. Solchen Wörtern ist eine lawinenartige Ausbreitung gemeinsam. Scheinbar sorgen die plötzlich sehr gebräuchlichen Begriffe für Abwechslung im Einerlei des Sprachalltags. Wirkliche Bereicherungen bedeuten sie nicht.</em><br /> <br /> <em>Unsere Sprachen werden aber auch laufend bereichert. Die Erweiterungen entstammen den verschiedensten Regionen. Nehmen Sie etwa die Wörter Impressionismus, Op-Art, Massenmedien, Commonwealth: Die hier zugehörigen Sachverhalte existierten vordem nicht, oder sie waren unbezeichnet. Begriffe wie Nylon oder Trevira wiederum sind in der Umgangssprache neu, und sie meinen auch Neues. Das nämlich gilt für Bezeichnungen wie Atombombe, Satellit oder Trägerrakete. Zum Unterschied von jenen Begriffen aus den Welten der Kunst, Mode und Politik haben wir es bei den letztgenannten Wörtern jedoch mit Ausstrahlungen von Forschungen zu tun. Und ebenso wie die technischen Wissenschaften und die sonstigen Naturwissenschaften in die Umgangssprache hineinwirken, ebenso übt auch der Fortschritt in der wissenschaftlichen Heilkunde seinen Einfluss auf die Sprache aus. Wohl die meisten zivilisierten Menschen kennen die Ausdrücke Penicillin und Antibabypille – um nur zwei Beispiele aus der heutigen Zeit zu nennen. Und die Wörter Minderwertigkeitskomplex, künstliche Niere oder Schrittmacher sind immerhin vielen gebildeten Laien geläufig geworden.</em><br /> <br /> <em>Halten wir uns vor Augen, wie es zur Schaffung eines neuen, medizinisch-wissenschaftlichen Begriffes kommen kann: Der Forscher entdeckte auf einem Nährboden Schimmelpilzbewuchs, der das Bakteriumwachstum hemmt. Das Phänomen interessiert den Wissenschaftler. Er ergründet die Ursache der Wechselwirkung und stößt dabei auf einen bisher unbekannten Stoff. Dafür schafft er eine Bezeichnung. Zunächst zum eigenen Gebrauch bestimmt, mag er sich mit einem Buchstaben oder mit einer Ziffer begnügen. Hervorragende Entdeckungen oder Schöpfungen halten schließlich Einzug in die Umgangssprache. Es muss freilich – bei einem Heilmittel – nicht die Etikette des Forschers, es kann auch (stellvertretend) der Phantasiename einer Erzeugerfirma sein.“</em></p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite23.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Braun stand im Briefwechsel mit dem britischen Kollegen Dr. Keith Hodgkin, dessen Buch über die Allgemeinmedizin „Towards Earlier Diagnosis“ 1963 erschien:<br /> <br /> <em>„Darin stoßen wir beispielsweise auf die Darlegung, welche Symptome zum Arzt führen – also nicht nur auf Diagnosenbegriffe. Der Autor geht auf die Häufigkeit und auf die jahreszeitliche Streuung der Krankheiten ein, die in der Allgemeinpraxis anfallen. Endlich setzt er sich mit der Diagnostik des Praktischen Arztes auseinander. Ihr Wesen erklärt er damit, dass sie – zum Unterschied von der spezialistischen Diagnostik – nur zwischen wenigen in Betracht kommenden Möglichkeiten wählt, um raschest zum Ziele der Krankheitserkennung zu gelangen.</em><br /> <br /><em> Diese Art des Handelns am Fall, d. h.</em></p> <ul> <li><em>erstens an alle diagnostischen Möglichkeiten zu denken und</em></li> <li><em>sich – zweitens – zu einer Gruppe von 3 bis 4 Krankheiten durchzuarbeiten, um</em></li> <li><em>drittens daraus die vorliegende Krankheit zu diagnostizieren, nennt er ‚Stromlinien-Diagnostik‘ (streamlined diagnostic method).</em></li> </ul> <p><em>Die Frage lautet nun: Stoßen wir damit auf einen neuen Begriff für die Allgemeinmedizin? Offensichtlich ja. Der Autor will doch etwas spezifisch Allgemeinpraktisches kennzeichnen. Gemäß dem Titel meiner Ausführungen müssen wir weiter fragen: War dieser Begriff nötig?“</em><br /> <br /> Nun fordert Braun aber entsprechend wissenschaftliche Überprüfung desselben, bevor der Begriff in ein Lehrbuch aufgenommen wird.<br /> <br /> <em>„Als Robert Koch seine Studien über den Schwindsuchterreger abgeschlossen hatte, durfte er den Begriff Tuberkelbazillus in die Medizin einführen. Die Rolle des entdeckten Erregers war von ihm klar bewiesen worden. Ist die ,Stromlinien-Diagnostik‘ ebenso klar bewiesen? Wie die Dinge liegen, weist sein Schöpfer weder an Einzelfällen noch an Großserien nach, dass wir Praktiker tatsächlich immer zuerst alle Möglichkeiten durchdenken, sodann die 3–4 wichtigsten Krankheiten scharf einstellen, um schließlich daraus eine Diagnose zu stellen.</em><br /> <br /> <em>Da also ,Stromlinien-Diagnostik‘ offenbar nur eine Meinung bedeutet, erhebt sich die nächste Frage: Nützen neue Begriffe, die nur Ansichten ausdrücken? Am Beginn von Forschungen können sie nützen. Unserem Kollegen war wohl aufgefallen, dass die allgemeinpraktische Diagnostik irgendwie anders ist als die spezialistische, anders vor allem als die Krankenhausmedizin. Das berechtigte ihn über ihren vermuteten Ablauf eine Hypothese aufzu­stellen.</em><br /> <br /> <em>Daraus müssen wir für uns die Lehre ziehen: Wie überall, so sollte auch in der Allgemeinpraxis vermieden werden, neue Begriffe zu publizieren, solange die Grundlage ungeklärt ist. Derlei Veröffentlichungen können Verwirrung stiften. Überhaupt dann, wenn sie Lösungen vortäuschen und damit zu einer gewissen Popularität gelangen. Hier sei auf die Ausdrücke ,Problempatient‘ oder ,Managerkrankheit‘ verwiesen.“</em></p> <h2>Anderes Schlagwort „Minutenmedizin“</h2> <p><em>„In diesem Zusammenhang sei mir gestattet, auf das Wort ,Minutenmedizin‘ einzugehen. Es wurde auf Grund von Daten über die durchschnittliche Dauer allgemeinärztlicher Beratungen geprägt. An den Fakten selbst ist nicht zu rütteln. Sagt der Begriff etwas Spezielles aus? Ist er nötig? Sicherlich drückt ,Minutenmedizin‘ aus, dass es in der Allgemeinpraxis rasch zugehen muss. Ich kenne aber Pädiater, die schneller arbeiten müssen als ich selbst. Ebenso sind mir Krankenhauskollegen bekannt, die ihren ,Status praesens‘ in wenigen Minuten hinter sich bringen. Wenn wir somit den Begriff Minutenmedizin in der Wissenschaft lieber vermeiden sollten, so ist doch anzuerkennen: Dieser Ausdruck ist in den elfenbeinernen Türmen ,angekommen‘. Der resultierende Schock könnte der gesamten Heilkunde nützen. Formell besteht man zwar in den Türmen weiterhin darauf, auch die Fälle der Allgemeinpraxis müssten – analog den Spitalpatienten – befragt, untersucht und diagnostiziert werden. Diese Ansichten sind aber nun mit Tatsachen konfrontiert, die ihnen völlig widersprechen. Es ist ebenso, als wollte man darauf bestehen, Flugzeuge dürften nicht abstürzen. Es wäre wunderbar, ließe sich das erreichen. Die Realität spricht aber eine harte, andere Sprache. So sind Flugzeugabstürze als etwas zur Kenntnis zu nehmen, das nicht eliminiert werden kann. In Analogie dazu kommen wir in der Allgemeinpraxis nicht darum herum, dass für die einschlägige Diagnostik im Mittel nur einige wenige Minuten verfügbar sind. Ob uns das passt oder nicht. Das Wesentliche an unserer Tätigkeit ist jedoch nicht die Zeitdauer der Einzelberatung, sondern die Gestaltung des notwendigerweise raschen Ablaufs unseres Handelns.“</em> (Braun RN: Benötigt die Allgemeinmedizin neue Begriffe? D. Prakt. Arzt, Dortmund 4, 1967: 300)</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite24.jpg" alt="" width="691" height="448" /></p> <h2>Abwendbar gefährlicher Verlauf</h2> <p><em>„Von den neuen Begriffen soll abschließend einer genannt werden, der in relativ kurzer Zeit – über die Grenzen der Allgemeinmedizin hinaus – Bedeutung erlangt hat: die ,abwendbar gefährlichen Verläufe‘.</em><br /> <br /><em> Die Notwendigkeit für diese Formulierung ergab sich aus den Analysen der routinemäßigen Krankenversorgung des erfahrenen Praktikers. Es fiel ihm immer wieder auf, dass bestimmte, an sich seltene Krankheiten diagnostisch ganz besonders bevorzugt wurden, und dass es sich dabei um Verläufe handelte, die bei rechtzeitigem Erkennen oft zu beherrschen sind, unerkannt fortschreitend aber schwere Schäden bringen bzw. tödlich ablaufen. Das Wesentliche an diesen Gegenständen der Diagnostik ist also einerseits ihre Gefährlichkeit und andererseits die im Wirken des Arztes gelegene Chance, dem Tod eine sonst sichere Beute zu entreißen.</em><br /> <br /><em> Dass die Praxisforschung allein durch neue Begriffe der gesamten Medizin nützen kann, ist eine erfreuliche Feststellung. Es ist zu hoffen, dass der Heilkunde daraus noch zahlreiche brauchbare Ergebnisse erwachsen werden.“</em> (Braun RN: Begriffe aus der Allgemeinmedizin“. ÖÄZ Jänner 1968; 23. Jahrgang, Heft 1: 22)</p></p>
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