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Originalzitate vom Praxisforscher Robert N. Braun

Die Sprache der Allgemeinmedizin

<p class="article-intro">Ein neues Fachgebiet braucht zwangsläufig neue Begriffe. <br> Oft konnte man vom Praxisforscher Prof. Dr. Robert N. Braun hören, es sei ein Indiz, dass man sich auf unerforschtem Terrain befindet, wenn man mit den vorhandenen Begriffen nicht mehr auskommt.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>Modew&ouml;rter und Fachbegriffe</h2> <p>Die Sprache verr&auml;t den Sprechenden oder Schreibenden. Sprache hat mit Identit&auml;t zu tun. Verstehen setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Immer wieder warf man Robert N. Braun vor, er kreiere mit seinen neuen Fachbegriffen unn&ouml;tigerweise Neologismen. Vermutlich auch deshalb besch&auml;ftigte er sich mit der Sinnhaftigkeit neuer Wortsch&ouml;pfungen.<br /> <br /> In einem abgedruckten Vortrag erkennt man, wie er sein Auditorium abholen und hinf&uuml;hren will zu den von ihm geschaffenen Fachbegriffen:<br /> <br /><em> &bdquo;Sie alle wissen, dass sich die Umgangssprache laufend ver&auml;ndert. Denken Sie nur an den gegenw&auml;rtig grassierenden deutschen Modeausdruck ,genau&lsquo;. Solchen W&ouml;rtern ist eine lawinenartige Ausbreitung gemeinsam. Scheinbar sorgen die pl&ouml;tzlich sehr gebr&auml;uchlichen Begriffe f&uuml;r Abwechslung im Einerlei des Sprachalltags. Wirkliche Bereicherungen bedeuten sie nicht.</em><br /> <br /> <em>Unsere Sprachen werden aber auch laufend bereichert. Die Erweiterungen entstammen den verschiedensten Regionen. Nehmen Sie etwa die W&ouml;rter Impressionismus, Op-Art, Massenmedien, Commonwealth: Die hier zugeh&ouml;rigen Sachverhalte existierten vordem nicht, oder sie waren unbezeichnet. Begriffe wie Nylon oder Trevira wiederum sind in der Umgangssprache neu, und sie meinen auch Neues. Das n&auml;mlich gilt f&uuml;r Bezeichnungen wie Atombombe, Satellit oder Tr&auml;gerrakete. Zum Unterschied von jenen Begriffen aus den Welten der Kunst, Mode und Politik haben wir es bei den letztgenannten W&ouml;rtern jedoch mit Ausstrahlungen von Forschungen zu tun. Und ebenso wie die technischen Wissenschaften und die sonstigen Naturwissenschaften in die Umgangssprache hineinwirken, ebenso &uuml;bt auch der Fortschritt in der wissenschaftlichen Heilkunde seinen Einfluss auf die Sprache aus. Wohl die meisten zivilisierten Menschen kennen die Ausdr&uuml;cke Penicillin und Antibabypille &ndash; um nur zwei Beispiele aus der heutigen Zeit zu nennen. Und die W&ouml;rter Minderwertigkeitskomplex, k&uuml;nstliche Niere oder Schrittmacher sind immerhin vielen gebildeten Laien gel&auml;ufig geworden.</em><br /> <br /> <em>Halten wir uns vor Augen, wie es zur Schaffung eines neuen, medizinisch-wissenschaftlichen Begriffes kommen kann: Der Forscher entdeckte auf einem N&auml;hrboden Schimmelpilzbewuchs, der das Bakteriumwachstum hemmt. Das Ph&auml;nomen interessiert den Wissenschaftler. Er ergr&uuml;ndet die Ursache der Wechselwirkung und st&ouml;&szlig;t dabei auf einen bisher unbekannten Stoff. Daf&uuml;r schafft er eine Bezeichnung. Zun&auml;chst zum eigenen Gebrauch bestimmt, mag er sich mit einem Buchstaben oder mit einer Ziffer begn&uuml;gen. Hervorragende Entdeckungen oder Sch&ouml;pfungen halten schlie&szlig;lich Einzug in die Umgangssprache. Es muss freilich &ndash; bei einem Heilmittel &ndash; nicht die Etikette des Forschers, es kann auch (stellvertretend) der Phantasiename einer Erzeugerfirma sein.&ldquo;</em></p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite23.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Braun stand im Briefwechsel mit dem britischen Kollegen Dr. Keith Hodgkin, dessen Buch &uuml;ber die Allgemeinmedizin &bdquo;Towards Earlier Diagnosis&ldquo; 1963 erschien:<br /> <br /> <em>&bdquo;Darin sto&szlig;en wir beispielsweise auf die Darlegung, welche Symptome zum Arzt f&uuml;hren &ndash; also nicht nur auf Diagnosenbegriffe. Der Autor geht auf die H&auml;ufigkeit und auf die jahreszeitliche Streuung der Krankheiten ein, die in der Allgemeinpraxis anfallen. Endlich setzt er sich mit der Diagnostik des Praktischen Arztes auseinander. Ihr Wesen erkl&auml;rt er damit, dass sie &ndash; zum Unterschied von der spezialistischen Diagnostik &ndash; nur zwischen wenigen in Betracht kommenden M&ouml;glichkeiten w&auml;hlt, um raschest zum Ziele der Krankheitserkennung zu gelangen.</em><br /> <br /><em> Diese Art des Handelns am Fall, d. h.</em></p> <ul> <li><em>erstens an alle diagnostischen M&ouml;glichkeiten zu denken und</em></li> <li><em>sich &ndash; zweitens &ndash; zu einer Gruppe von 3 bis 4 Krankheiten durchzuarbeiten, um</em></li> <li><em>drittens daraus die vorliegende Krankheit zu diagnostizieren, nennt er &sbquo;Stromlinien-Diagnostik&lsquo; (streamlined diagnostic method).</em></li> </ul> <p><em>Die Frage lautet nun: Sto&szlig;en wir damit auf einen neuen Begriff f&uuml;r die Allgemeinmedizin? Offensichtlich ja. Der Autor will doch etwas spezifisch Allgemeinpraktisches kennzeichnen. Gem&auml;&szlig; dem Titel meiner Ausf&uuml;hrungen m&uuml;ssen wir weiter fragen: War dieser Begriff n&ouml;tig?&ldquo;</em><br /> <br /> Nun fordert Braun aber entsprechend wissenschaftliche &Uuml;berpr&uuml;fung desselben, bevor der Begriff in ein Lehrbuch aufgenommen wird.<br /> <br /> <em>&bdquo;Als Robert Koch seine Studien &uuml;ber den Schwindsuchterreger abgeschlossen hatte, durfte er den Begriff Tuberkelbazillus in die Medizin einf&uuml;hren. Die Rolle des entdeckten Erregers war von ihm klar bewiesen worden. Ist die ,Stromlinien-Diagnostik&lsquo; ebenso klar bewiesen? Wie die Dinge liegen, weist sein Sch&ouml;pfer weder an Einzelf&auml;llen noch an Gro&szlig;serien nach, dass wir Praktiker tats&auml;chlich immer zuerst alle M&ouml;glichkeiten durchdenken, sodann die 3&ndash;4 wichtigsten Krankheiten scharf einstellen, um schlie&szlig;lich daraus eine Diagnose zu stellen.</em><br /> <br /> <em>Da also ,Stromlinien-Diagnostik&lsquo; offenbar nur eine Meinung bedeutet, erhebt sich die n&auml;chste Frage: N&uuml;tzen neue Begriffe, die nur Ansichten ausdr&uuml;cken? Am Beginn von Forschungen k&ouml;nnen sie n&uuml;tzen. Unserem Kollegen war wohl aufgefallen, dass die allgemeinpraktische Diagnostik irgendwie anders ist als die spezialistische, anders vor allem als die Krankenhausmedizin. Das berechtigte ihn &uuml;ber ihren vermuteten Ablauf eine Hypothese aufzu&shy;stellen.</em><br /> <br /> <em>Daraus m&uuml;ssen wir f&uuml;r uns die Lehre ziehen: Wie &uuml;berall, so sollte auch in der Allgemeinpraxis vermieden werden, neue Begriffe zu publizieren, solange die Grundlage ungekl&auml;rt ist. Derlei Ver&ouml;ffentlichungen k&ouml;nnen Verwirrung stiften. &Uuml;berhaupt dann, wenn sie L&ouml;sungen vort&auml;uschen und damit zu einer gewissen Popularit&auml;t gelangen. Hier sei auf die Ausdr&uuml;cke ,Problempatient&lsquo; oder ,Managerkrankheit&lsquo; verwiesen.&ldquo;</em></p> <h2>Anderes Schlagwort &bdquo;Minutenmedizin&ldquo;</h2> <p><em>&bdquo;In diesem Zusammenhang sei mir gestattet, auf das Wort ,Minutenmedizin&lsquo; einzugehen. Es wurde auf Grund von Daten &uuml;ber die durchschnittliche Dauer allgemein&auml;rztlicher Beratungen gepr&auml;gt. An den Fakten selbst ist nicht zu r&uuml;tteln. Sagt der Begriff etwas Spezielles aus? Ist er n&ouml;tig? Sicherlich dr&uuml;ckt ,Minutenmedizin&lsquo; aus, dass es in der Allgemeinpraxis rasch zugehen muss. Ich kenne aber P&auml;diater, die schneller arbeiten m&uuml;ssen als ich selbst. Ebenso sind mir Krankenhauskollegen bekannt, die ihren ,Status praesens&lsquo; in wenigen Minuten hinter sich bringen. Wenn wir somit den Begriff Minutenmedizin in der Wissenschaft lieber vermeiden sollten, so ist doch anzuerkennen: Dieser Ausdruck ist in den elfenbeinernen T&uuml;rmen ,angekommen&lsquo;. Der resultierende Schock k&ouml;nnte der gesamten Heilkunde n&uuml;tzen. Formell besteht man zwar in den T&uuml;rmen weiterhin darauf, auch die F&auml;lle der Allgemeinpraxis m&uuml;ssten &ndash; analog den Spitalpatienten &ndash; befragt, untersucht und diagnostiziert werden. Diese Ansichten sind aber nun mit Tatsachen konfrontiert, die ihnen v&ouml;llig widersprechen. Es ist ebenso, als wollte man darauf bestehen, Flugzeuge d&uuml;rften nicht abst&uuml;rzen. Es w&auml;re wunderbar, lie&szlig;e sich das erreichen. Die Realit&auml;t spricht aber eine harte, andere Sprache. So sind Flugzeugabst&uuml;rze als etwas zur Kenntnis zu nehmen, das nicht eliminiert werden kann. In Analogie dazu kommen wir in der Allgemeinpraxis nicht darum herum, dass f&uuml;r die einschl&auml;gige Diagnostik im Mittel nur einige wenige Minuten verf&uuml;gbar sind. Ob uns das passt oder nicht. Das Wesentliche an unserer T&auml;tigkeit ist jedoch nicht die Zeitdauer der Einzelberatung, sondern die Gestaltung des notwendigerweise raschen Ablaufs unseres Handelns.&ldquo;</em> (Braun RN: Ben&ouml;tigt die Allgemeinmedizin neue Begriffe? D. Prakt. Arzt, Dortmund 4, 1967: 300)</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite24.jpg" alt="" width="691" height="448" /></p> <h2>Abwendbar gef&auml;hrlicher Verlauf</h2> <p><em>&bdquo;Von den neuen Begriffen soll abschlie&szlig;end einer genannt werden, der in relativ kurzer Zeit &ndash; &uuml;ber die Grenzen der Allgemeinmedizin hinaus &ndash; Bedeutung erlangt hat: die ,abwendbar gef&auml;hrlichen Verl&auml;ufe&lsquo;.</em><br /> <br /><em> Die Notwendigkeit f&uuml;r diese Formulierung ergab sich aus den Analysen der routinem&auml;&szlig;igen Krankenversorgung des erfahrenen Praktikers. Es fiel ihm immer wieder auf, dass bestimmte, an sich seltene Krankheiten diagnostisch ganz besonders bevorzugt wurden, und dass es sich dabei um Verl&auml;ufe handelte, die bei rechtzeitigem Erkennen oft zu beherrschen sind, unerkannt fortschreitend aber schwere Sch&auml;den bringen bzw. t&ouml;dlich ablaufen. Das Wesentliche an diesen Gegenst&auml;nden der Diagnostik ist also einerseits ihre Gef&auml;hrlichkeit und andererseits die im Wirken des Arztes gelegene Chance, dem Tod eine sonst sichere Beute zu entrei&szlig;en.</em><br /> <br /><em> Dass die Praxisforschung allein durch neue Begriffe der gesamten Medizin n&uuml;tzen kann, ist eine erfreuliche Feststellung. Es ist zu hoffen, dass der Heilkunde daraus noch zahlreiche brauchbare Ergebnisse erwachsen werden.&ldquo;</em> (Braun RN: Begriffe aus der Allgemeinmedizin&ldquo;. &Ouml;&Auml;Z J&auml;nner 1968; 23. Jahrgang, Heft 1: 22)</p></p>
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