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Das biopsychosoziale Modell in der Schmerztherapie
Leading Opinions
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02.03.2017
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<p class="article-intro">Bereits zum dritten Mal luden die wissenschaftlichen Leiter Prof. Dr. med. Peter Sandor, lic.-phil. Roberto Brioschi und PD Dr. med. Wilhelm Ruppen am 29. Oktober 2016 zum Schweizer Kongress Ganzheitliche Schmerztherapie. Wiederum folgten viele im Schmerzbereich Tätige – Ärzte, Ergo- und Physiotherapeuten, Psychologen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Pflegefachpersonen – der Einladung und nutzten die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch mit Kollegen verschiedener Disziplinen. Im Zentrum der Präsentationen und Diskussionen standen das biopsychosoziale Modell und die Frage, ob das Modell im Alltag auch gelebt wird.</p>
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<p class="article-content"><p>Am Beispiel von Rückenschmerzen zeigte der klinisch und wissenschaftlich tätige Physiotherapeut Thomas Benz, MSc ETH, wie schnell man mit einem biomedizinischen Ansatz an Grenzen stösst. «Nicht nur die Bildgebung kann bei Patienten mit ‹low back pain› zu unnötigen Therapien führen – bei 80 % der 50-Jährigen ohne Symptome findet man in der Bildgebung Bandscheibendegenerationen<sup>1</sup> –, auch wir als Physiotherapeuten können durch unspezifische Befunde unnötige Abklärungen verursachen.» In der klassischen Physiotherapie, so Benz, sei der biomechanische Denkansatz immer noch vorherrschend. Ziel der Schmerzbehandlung muss es jedoch sein, mit dem Patienten einen besseren Umgang mit den Schmerzen zu lernen und zu üben, damit er trotz eines bestimmten Ausmasses an Schmerzen aktiv werden oder bleiben kann. «Dies kann gelingen, wenn sich der Therapeut bewusst ist, dass neben pathophysiologischen Vorgängen auch emotionale, kognitive, soziokulturelle und andere Einflüsse eine wichtige Rolle spielen», sagte Benz.<br /> Ein gutes Hilfsmittel, um mehr psychosoziale Faktoren in die Patientenbefragung zu integrieren, ist das strukturierte klinische Interview, mit dem gezielt auch nach Gefühlen, Befindlichkeit, Copingstrategien, Familie, Arbeitsplatz sowie positiven und negativen Erfahrungen mit bisherigen Therapien gefragt wird. Aufschlussreich kann auch die Frage «Was, denken Sie, ist die Ursache Ihrer Schmerzen? » sein. Ein grosses Problem ist auch das Risiko der Chronifizierung der Schmerzen. Um das individuelle Risiko eines Patienten einschätzen und die Behandlung dementsprechend anpassen zu können, eignet sich das STarT Back Screening Tool (www.keele.ac.uk/sbst) sehr gut.<br /> «Ein neuerer Ansatz, der sich hoffentlich verbreiten wird, ist die ‹cognitive functional therapy› (CFT)<sup>2</sup> resp. das ‹multidimensional clinical reasoning framework› (MD-CRF)», so Benz. «Das Interessante daran ist, dass der biomechanische Ansatz hier mitintegriert wird und so auch mechanisch orientierte Therapeuten ihre Funktion erkennen.»</p> <h2>Graubereiche in der Schmerztherapie aus der Sicht des Anästhesisten</h2> <p>Vieles in der Schmerztherapie liegt im Graubereich. EBM kann hilfreich sein, aber Evidenz ist nicht unumstritten. Selten gibt es für eine Behandlung klare Evidenz, oft sagt die klinische Erfahrung aber etwas anderes als die Evidenz und manchmal gibt es gar keine Evidenz oder sogar Evidenz, die sich widerspricht. «Aber brauchen wir überhaupt immer Evidenz?», fragt PD Dr. med. Wilhelm Ruppen, Leiter Schmerztherapie am Universitätsspital Basel. «Ich glaube nicht. Oft lehrt uns die Erfahrung, dass eine Massnahme sinnvoll ist. Wenn ich sehe, wie ein Patient, der nach einer orthopädischen Operation im Aufwachraum vor Schmerzen geschrien hat, mich wenige Minuten nach dem Legen einer Regionalanalgesie anlächelt, dann brauche ich keine Evidenz, um zu wissen, dass diese Massnahme sinnvoll war.»<br /> Auch was den Einsatz von Opioiden betrifft, ist nicht alles so klar, wie gemeinhin abgenommen wird. Oft höre man unter Anästhesisten in diesem Zusammenhang «viel hilft viel», so Ruppen. Dem ist aber nicht so. So zeigten beispielsweise Chia et al, dass hohe Opioiddosen während einer Hysterektomie zu deutlich stärkeren postoperativen Schmerzen führen als niedrige Dosen.<sup>3</sup> «Wir konnten in einer randomisierten Doppelblindstudie mit gesunden Probanden nachweisen, dass die Schmerzempfindlichkeit nach einer 30-minütigen hoch dosierten Opioidinfusion nicht nur rasch wieder auf das Ausgangsniveau ansteigt, sondern darüber hinausschiesst; dass es also zu einer Hyperalgesie kommt», berichtete Ruppen.<sup>4</sup> In den letzten Jahren hat sich auch gezeigt, dass die Langzeittherapie mit Opioiden weniger wirksam und problematischer ist als lange Zeit angenommen. Auch das Suchtpotenzial ist nicht zu unterschätzen: Man weiss heute, dass 8–12 % der Patienten, die wegen chronischer nicht tumorbedingter Schmerzen mit Opioiden behandelt werden, eine Sucht entwickeln.<sup>5</sup> Deshalb wird heute empfohlen, eine Dosis von 120mg/d Morphin p.o. nicht zu überschreiten, und die Behandlung sollte nur im Falle eines klaren und langfristigen Ansprechens länger als drei Monate dauern.<sup>6</sup><br /> Ein Graubereich ist auch die sog. somatoforme Schmerzstörung. Die pathophysiologischen Vorgänge bei zentraler Hypersensibilisierung, die u.a. zu Allodynie und Hyperalgesie führen, können weder dargestellt noch gemessen werden. Der Arzt sieht nichts – und trotzdem hat der Patient Schmerzen.<br /> «Sie sehen, Schmerztherapie ist der reinste Graubereich, sehr vieles ist ‹offlabel use›. Was beim einen Patienten wirkt, kann beim nächsten wirkungslos sein», schloss Ruppen.</p> <h2>Schmerz, Placebo, Nocebo und das Gehirn</h2> <p>«Placeboeffekte können definiert werden als positive physiologische oder psychologische Veränderungen nach Einnahme von wirkungslosen Medikamenten, nach Scheineingriffen oder als Folge von fachspezifischen therapeutischen Symbolen und Ritualen», erklärte Dr. sc. ETH Peter Krummenacher. Die Wirkung eines Placebos hängt von einer Reihe von Faktoren, wie Verabreichungsform, Grösse, Form, Farbe, Preis und Branding der Substanz, Requisiten usw. sowie dem kulturellen Kontext, ab. «Selbst eine Tablette, die offen als Placebo deklariert wird, hat einen Effekt, wenn man dafür eine plausible Erklärung hat», so der Placeboforscher.<br /> Auf neurobiologischer Ebene sind im Wesentlichen drei Faktoren für die Wirkung eines Placebos verantwortlich: die positive Erwartungshaltung, die soziale Interaktion und das unbewusste Lernen. Placeboähnliche Effekte können allein durch eine erhöhte Zuwendung des Therapeuten und das Ansprechen der Erwartungen des Patienten erzielt werden. Interessanterweise spielt aber auch die Erwartungshaltung des Therapeuten eine wesentliche Rolle. So konnten Gracely et al in einer Studie mit postoperativen Patienten zeigen, dass die Patienten signifikant weniger Schmerzen hatten, wenn die Ärzte dachten, sie würden ihnen ein aktives Medikament verabreichen, obwohl es nur ein Placebo war.<sup>7</sup> «Tatsächlich werden bei Ärzten, die glauben, eine effektive Therapie zu geben, dieselben Hirnregionen, im Besonderen das Belohnungszentrum im präfrontalen Kortex, aktiviert wie bei Patienten unter Placebo. Dieser Effekt ist ausgeprägter bei Ärzten, die besonders empathisch auf den Patienten eingehen», erklärte Krummenacher.<sup>8</sup><br /> Genauso können negative Erwartungen auch negative Effekte auslösen. So fanden beispielsweise Mondaini et al heraus, dass bei den Patienten, denen mitgeteilt wurde, dass das urologische Präparat, das sie einnehmen, sexuelle Dysfunktionen hervorrufen kann, die Prävalenz dieser Nebenwirkungen dreimal so hoch war wie bei den nicht informierten Patienten.<sup>9</sup> Es konnte auch nachgewiesen werden, dass bereits die Antizipation eines Schmerzreizes zu einer deutlichen Aktivierung der Schmerzmatrix führt.<sup>10</sup><br /> «Es geht selbstverständlich nicht darum, die Patienten zu täuschen, diese Kenntnisse können im klinischen Alltag aber dazu beitragen, die Placeboeffekte zu maximieren und die Noceboeffekte zu minimieren», schloss Krummenacher.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 3. Schweizer Kongress Ganzheitliche Schmerztherapie,
29. Oktober 2016, Zürich
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<p><strong>1</strong> Brinjikji W et al: Am J Neuroradiol 2015; 36: 811-16 <strong>2</strong> O’Sullivan P: Br J Sports Med 2012; 46: 224-7 <strong>3</strong> Chia YY et al: Can J Anaesth 1999; 46: 872-7 <strong>4</strong> Mauermann E et al: Anesthesiology 2016; 124: 453-63 <strong>5</strong> Vowles KE et al: Pain 2015; 156: 569-76 <strong>6</strong> Häuser W et al: Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 732-40 <strong>7</strong> Gracely RH et al: Lancet 1985; 1: 43 <strong>8</strong> Jensen KB et al: Mol Psychiatry 2 014; 1 9: 3 92-8 <strong>9</strong> Mondaini N et al: J Sex Med 2007; 4: 1708-12 <strong>10</strong> Porro CA et al: J Neurosci 2002; 22: 3206-1</p>
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