<p class="article-intro">In der traditionellen Pro-Con-Debatte diskutierten an der SGED-Jahresversammlung 2019 Prof. Dr. med. Marius Kränzlin, Praxis Endonet Basel und Universität Basel, und Prof. Dr. med. Matthias Briel, Departement klinische Forschung der Universität Basel, über das viel diskutierte Thema «Vitamin D». Die Session stand unter dem provokativen Titel «Vitamin D is a magic bullet». Doch gleich vorweg: Dass Vitamin D kein Allheilmittel ist, darüber waren sich die beiden Redner einig.</p>
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<p class="article-content"><h2>Vitamin D und muskuloskelettale Gesundheit</h2> <p>Prof. Kränzlin beschränkte sich in seinem Referat auf Vitamin D im Zusammenhang mit muskuloskelettaler Gesundheit. «In Bezug auf Vitamin D beobachten wir zwei Pandemien. Die erste ist der auf der ganzen Welt weit verbreitete Vitamin- D-Mangel<sup>1</sup> und die zweite ist die riesige Anzahl an Publikationen zum Thema Vitamin D und Frakturen», so Kränzlin. «Fast jeden Monat erscheint eine neue Metaanalyse zu diesem Thema. Als ‹einfacher› Kliniker ist man damit schlicht überfordert. » Bei der Beurteilung von Studien und Metaanalysen zum Thema Vitamin D und Frakturen ist es zuerst einmal wichtig, zu unterscheiden, ob nur die Gabe von Vitamin D allein untersucht wurde oder Vitamin D plus eine genügend hohe Kalziumeinnahme. «Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass Vitamin D allein sehr wahrscheinlich keine Frakturen verhindert, wohingegen mit Vitamin D und gleichzeitig genügender Kalziumeinnahme – und damit ist nicht eine Kalziumsupplementation gemeint – Hüft- und anderen Frakturen vorgebeugt werden kann», so der Referent.<sup>2, 3</sup> <br /> Ein Grund für die fortlaufende Diskussion über Vitamin D ist auch die grosse Heterogenität der Studien in Bezug auf die untersuchte Population, die Studiendauer, die Vitamin-D-Dosis, die Dosis-Intervalle, die Vitamin-D-Plasmaspiegel zu Beginn und am Ende der Studie, Angaben zur Adhärenz sowie die Vermischung von Primärund Sekundärprävention. «Für den Vitamin- D-Grenzwert besteht noch kein allgemein gültiger Konsens, vieles spricht jedoch dafür, dass für die Allgemeinbevölkerung ein Grenzwert von 50nmol/l angemessen ist, während er bei Personen mit einem erhöhten Risiko bei 70–75nmol/l angesetzt werden sollte», führte Kränzlin aus.<sup>4, 5</sup></p>
<p class="article-intro">In der traditionellen Pro-Con-Debatte diskutierten an der SGED-Jahresversammlung 2019 Prof. Dr. med. Marius Kränzlin, Praxis Endonet Basel und Universität Basel, und Prof. Dr. med. Matthias Briel, Departement klinische Forschung der Universität Basel, über das viel diskutierte Thema «Vitamin D». Die Session stand unter dem provokativen Titel «Vitamin D is a magic bullet». Doch gleich vorweg: Dass Vitamin D kein Allheilmittel ist, darüber waren sich die beiden Redner einig.</p>
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<p class="article-content"><h2>Vitamin D und muskuloskelettale Gesundheit</h2> <p>Prof. Kränzlin beschränkte sich in seinem Referat auf Vitamin D im Zusammenhang mit muskuloskelettaler Gesundheit. «In Bezug auf Vitamin D beobachten wir zwei Pandemien. Die erste ist der auf der ganzen Welt weit verbreitete Vitamin- D-Mangel<sup>1</sup> und die zweite ist die riesige Anzahl an Publikationen zum Thema Vitamin D und Frakturen», so Kränzlin. «Fast jeden Monat erscheint eine neue Metaanalyse zu diesem Thema. Als ‹einfacher› Kliniker ist man damit schlicht überfordert. » Bei der Beurteilung von Studien und Metaanalysen zum Thema Vitamin D und Frakturen ist es zuerst einmal wichtig, zu unterscheiden, ob nur die Gabe von Vitamin D allein untersucht wurde oder Vitamin D plus eine genügend hohe Kalziumeinnahme. «Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass Vitamin D allein sehr wahrscheinlich keine Frakturen verhindert, wohingegen mit Vitamin D und gleichzeitig genügender Kalziumeinnahme – und damit ist nicht eine Kalziumsupplementation gemeint – Hüft- und anderen Frakturen vorgebeugt werden kann», so der Referent.<sup>2, 3</sup> <br /> Ein Grund für die fortlaufende Diskussion über Vitamin D ist auch die grosse Heterogenität der Studien in Bezug auf die untersuchte Population, die Studiendauer, die Vitamin-D-Dosis, die Dosis-Intervalle, die Vitamin-D-Plasmaspiegel zu Beginn und am Ende der Studie, Angaben zur Adhärenz sowie die Vermischung von Primärund Sekundärprävention. «Für den Vitamin- D-Grenzwert besteht noch kein allgemein gültiger Konsens, vieles spricht jedoch dafür, dass für die Allgemeinbevölkerung ein Grenzwert von 50nmol/l angemessen ist, während er bei Personen mit einem erhöhten Risiko bei 70–75nmol/l angesetzt werden sollte», führte Kränzlin aus.<sup>4, 5</sup></p> <h2>Weniger ist mehr</h2> <p>Weitgehend einig ist man sich, dass Vitamin D täglich eingenommen werden sollte, da die Gabe grosser Boli zu einem Anstieg des Sturz- und Frakturrisikos führt.<sup>6</sup> Es gilt jedoch zu beachten, dass das Sturzrisiko auch bei zu hohen täglichen Vitamin- D-Dosen steigt. In einer Studie mit postmenopausalen Frauen mit positiver Sturzanamnese sank die Sturzrate nur in der Gruppe mit mittlerer Vitamin-D-Dosis (1600–3200IE/d), während sich bei niedriger Dosis (400–800IE/d) und hoher Dosis (4000–8000IE/d) keine Auswirkung auf die Sturzrate nachweisen liess.7 Dies deutet darauf hin, dass es für Vitamin D diesbezüglich eine U-förmige Dosis-Wirkungs- Kurve geben könnte. In Bezug auf den Vitamin-D-Spiegel über 12 Monate wurde die grösste Reduktion der Sturzrate bei Werten von 80–95nmol/l gefunden. Bei Werten über 100–112,5nmol/l stieg die Sturzrate an.<sup>7</sup><br /> In einer anderen Studie wurde der Einfluss unterschiedlich hoher Vitamin-D-Dosen (400, 4000 und 10 000IE/d) auf die Knochendichte untersucht. Nach drei Jahren Behandlung war die im Radius gemessene Knochendichte in den beiden Gruppen mit 4000 resp. 10 000IE/d Vitamin D signifikant niedriger als in der Gruppe mit der niedrigsten Dosis.<sup>8</sup> Gleichzeitig wurden unter der hohen Dosis eine Suppression von PTH und eine Zunahme der Knochenresorptionsmarker beobachtet. Hohe Vitamin-D-Dosen sind also mit einem Knochenverlust assoziiert. Dies erklärt sich dadurch, dass Vitamin D in hoher Dosis einerseits durch eine Erhöhung des RANK-Liganden die Knochenresorption steigert und andererseits durch direkte Effekte und die erhöhte Kalziumabsorption im Gastrointestinaltrakt zu einer deutlichen Verminderung von PTH führt, wodurch die Knochenbildung gedrosselt wird.<sup>9</sup></p> <p>«Eine genügende Zufuhr von Vitamin D und Kalzium ist wichtig für die Prävention und Behandlung der Osteoporose und ist mit einer Reduktion des Frakturrisikos assoziiert. Für die Dosis von Vitamin gilt wahrscheinlich: Weniger ist mehr», resümierte Kränzlin.</p> <h2>Vitamin D und patientenrelevante Outcomes</h2> <p>«Ich habe den Begriff ‹magic bullet› im Titel dieser Session wörtlich genommen im Sinne von ‹Don’t think about it, just do it› und versucht, Daten zu möglichst vielen von Vitamin D möglicherweise beeinflussten Outcomes zusammenzutragen», leitete Prof. Briel sein Referat ein. Auf die Frage ans Publikum «Wer von Ihnen hat schon einmal Vitamin D genommen, ohne seinen Vitamin-D-Spiegel zu kennen?» zeigten circa 80 % der Zuhörer auf. Ist Vitamin D etwa doch ein «magic bullet»? Die Antwort darauf war klar und deutlich: Die Frage «Wer von Ihnen ist davon überzeugt, dass es geholfen hat?» bejahten nämlich nur noch schätzungsweise 0,5 % der Zuhörer.</p> <p><strong>Krebsrisiko und kardiovaskuläres Risiko</strong><br /> In der 2019 erschienenen placebokontrollierten VITAL-Studie wurde bei 26 000 Männern (>50 Jahre) und Frauen (>55 Jahre) der Einfluss von Vitamin D (2000IE/d) auf das Krebs- und das kardiovaskuläre Risiko sowie die Gesamtmortalität in der Primärprävention untersucht.<sup>10</sup> «Für alle drei Outcomes waren jeweils mehr als 800 Ereignisse zu verzeichnen. Dies zeigt, wie robust die Daten sind», so Briel. Es fand sich jedoch in keinerlei Hinsicht ein Unterschied zwischen der Verumund der Placebogruppe. Die Hazard-Ratios für das Auftreten eines Karzinoms, eines kardiovaskulären Ereignisses oder den Tod betrugen 0,96 (95 % CI: 0,88–1,06), 0,97 (0,85–1,12) resp. 0,99 (0,87–1,12).</p> <p><strong>Diabetesrisiko</strong><br /> Nicht viel besser sieht es in Bezug auf das Diabetesrisiko aus. In drei Studien mit je 500–2400 Probanden wurde kein Einfluss von Vitamin D auf das Auftreten eines Diabetes gefunden.<sup>11–13</sup> «Es ist nicht auszuschliessen, dass es eine minimale Risikoreduktion gibt. Um dies herauszufinden, haben die Studien aber zu wenig Power. Vitamin D hat also möglicherweise einen kleinen Effekt auf das Diabetesrisiko, aber es ist bestimmt nicht ‹magic›», stellte Briel fest. Eventuell wird die präspezifizierte sekundäre Analyse der VITAL-Daten in diesem Punkt mehr Klarheit schaffen.</p> <p><strong>Frakturrisiko</strong><br /> Wie bereits oben erwähnt, lässt sich kein Einfluss von Vitamin D auf das Frakturrisiko nachweisen, wenn man nur Studien heranzieht, die Vitamin D allein untersucht haben.<sup>2</sup> Werden Studien mit Vitamin D plus Kalziumsupplementation in die Analyse mit eingeschlossen, ergibt sich eine geringe Reduktion der Hüft- und Nichtwirbelfrakturen.<sup>3, 14</sup> «In absoluten Zahlen entspricht die Risikoreduktion aber nur einer verhinderten Hüftfraktur pro 1000 Patienten pro Jahr», erklärte Briel. Für >50-Jährige ohne Osteoporose und ohne nachgewiesenen Vitamin-D-Mangel gibt es keine Hinweise darauf, dass sie von Vitamin D allein oder in Kombination mit Kalzium profitieren würden.<sup>15</sup></p> <p><strong>Risiken von Vitamin D</strong><br /> «Nicht zu vergessen sind auch die Risiken einer Vitamin-D-Supplementation», mahnte Briel. In einem Cochrane-Review mit 92 000 Probanden fand sich ein erhöhtes Risiko für eine Hyperkalzämie (RR: 2,28; 95 % CI: 1,57–3,31), für gastrointestinale Symptome (RR: 1,04; 95 % CI: 1,00–1,08) sowie renale Erkrankungen/Nierensteine (RR: 1,16; 95 % CI: 1,02–1,33).<sup>14</sup> Ausserdem gibt es Hinweise darauf, dass unter Vitamin D in Kombination mit einer Kalziumsupplementation das Myokardinfarktrisiko ansteigen könnte.<sup>15</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Eine Umbrella-Studie kommt zum Schluss, dass es auf der Basis von 107 systematischen Reviews und 74 Metaanalysen, die den Einfluss von Vitamin D auf 137 verschiedene Outcomes untersucht haben, nur bei den folgenden Patientengruppen Evidenz für einen hochsignifikanten Effekt von Vitamin D gibt: Kindern mit Karies, Schwangeren, Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und solche mit Osteomalazie oder Rachitis.<sup>16</sup><br /> «Ein Allheilmittel, das am besten jedermann nehmen sollte, ist Vitamin D also ganz bestimmt nicht. Überlegen Sie gut, bevor Sie Vitamin D verordnen, und treffen Sie kluge, evidenzbasierte Entscheidungen», riet Briel.</p> </div> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Leading Opinions_Innere_2001_Weblinks_lo_innere_2001_s34_abb1_ludin.jpg" alt="" width="275" height="581" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für
Endokrinologie und Diabetologie, 14. und 15. November
2019, Bern
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Mithal A et al.: Global vitamin D status and determinants of hypovitaminosis D. Osteoporosis Int 2009; 20: 1807-20 <strong>2</strong> Bolland MJ et al.: Effects of vitamin D supplementation on musculoskeletal health: a systematic review, metaanalysis, and trial sequential analysis. Lancet Diabetes Endocrinol 2018; 6: 847-58 <strong>3</strong> Bischoff-Ferrari HA et al.: A pooled analysis of vitamin D dose requirements for fracture prevention. N Engl J Med 2012; 367: 40-9 <strong>4</strong> Holick MF et al.: Guidelines for preventing and treating vitamin D deficiency and insufficiency revisited. J Clin Endocrinol Metab 2012; 97: 1153 <strong>5</strong> Heaney RP, Holick MF: Why the IOM recommendations for vitamin D are deficient. J Bone Miner Res 2011; 26: 455<strong> 6</strong> Sanders KM et al.: Annual high-dose oral vitamin D and falls and fractures in older women: a randomized controlled trial. JAMA 2010; 303: 1815-22<strong> 7</strong> Smith L et al.: Medium doses of daily vitamin D decrease falls and higher doses of daily vitamin D3 increase falls: a randomized clinical trial. J Steroid Biochem Mol Biol 2017; 173: 317-22<strong> 8</strong> Burt L et al.: Effect of high-dose vitamin D supplementation on volumetric bone density and bone strength: a randomized clinical trial. JAMA 2019; 322: 736- 45 <strong>9</strong> Kraenzlin M, Meier C: Parathyroid hormone analogues in the treatment of osteoporosis. Nat Rev Endocrinol 2011; 7: 647-56 <strong>10</strong> Manson JE et al.: Vitamin D supplements and prevention of cancer and cardiovascular disease. N Engl J Med 2019; 380: 33-44 <strong>11</strong> Pittas AG et al.: Vitamin D supplementation and prevention of type 2 diabetes. N Engl J Med 2019; 381: 520-30 <strong>12</strong> Jorde R et al.: Vitamin D 20,000 IU per week for five years does not prevent progression from prediabetes to diabetes. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101: 1647-55 <strong>13</strong> Kawahara T et al.: Rationale and design of diabetes prevention with active vitamin D (DPVD): a randomised, double-blind, placebocontrolled study. BMJ Open 2016; 6: e011183 <strong>14</strong> Avenell A et al.: Vitamin D and vitamin D analogues for preventing fractures in post-menopausal women and older men. Cochrane Database Syst Rev 2014; (4): CD000227<strong> 15</strong> Kahwati L et al.: Vitamin D, calcium, or combined supplementation for the primary prevention of fractures in community-dwelling adults: evidence report and systematic review for the US Preventive Services Task Force: JAMA 2018; 319: 1600-12 <strong>16</strong> Bolland MJ et al.: Calcium supplements with or without vitamin D and risk of cardiovascular events: reanalysis of the Women's Health Initiative limited access dataset and meta-analysis. BMJ 2011; 342: d2040 <strong>17</strong> Theodoratou E et al.: Vitamin D and multiple health outcomes: umbrella review of systematic reviews and meta-analyses of observational studies and randomised trials. BMJ 2014; 348: g2035</p>
</div>
</p>