<p class="article-intro">Wie jedes Jahr versammelten sich die Schweizer Endokrinologen und Diabetologen auch im November 2019 für zwei Tage in Bern. Eröffnet wurde die Jahresversammlung, auf deren Programm wiederum viele spannende Themen standen, von Prof. Dr. med. William F. Young von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, USA, der in einem mitreissenden Vortrag über die spannende Entdeckung der Glukokortikoidtherapie berichtete, in welcher die Mayo Clinic eine wesentliche Rolle spielt.</p>
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<p class="article-content"><h2>… führt über Thyroxin …</h2> <p>Die Geschichte der Entdeckung der Glukokortikoidtherapie beginnt mit dem amerikanischen Biochemiker und späteren Nobelpreisträger Edward Calvin Kendall (1886–1972), dem es in den frühen 1910er-Jahren gelang, in dem von ihm aufgebauten Labor am St. Luke’s Hospital in New York City das aktive Prinzip der Schilddrüse zu isolieren und dessen Wirkung bei Patienten mit Hypothyreose nachzuweisen. Da seine Forschungserfolge von der Klinikleitung jedoch zu wenig geschätzt wurden – man schickte ihm Frühstücksflocken mit der Bitte, diese zu analysieren – verliess er das St. Luke’s Hospital schon bald wieder. Aber auch am Rockefeller Institute, wo er seine Entdeckung präsentierte, stiess er auf Desinteresse. Glücklicherweise erfuhr er, dass sich die Mayo-Brüder für die Schilddrüse interessierten, und so erhielt er eine Stelle an der Mayo Clinic in Rochester. An Weihnachten 1914 gelang es Kendall dort, erstmals reines kristallines Thyroxin zu isolieren, womit der Grundstein für eine Karriere als «Hormonjäger », wie sich Kendall selbst bezeichnete, gelegt war. Dabei hatte er, wie er selbst sagte, ein grosses Ziel vor Augen: «Ich will eine grosse Eiche wachsen lassen; ich bin nicht an einem Haufen Brombeersträucher interessiert.»<sup>1</sup> Um zu verhindern, dass Firmen von seinem Forschungserfolg profitierten, und um zu gewährleisten, dass dieser allein der medizinischen Forschung und den Patienten zugutekommt, verkaufte er 1918 das Patent und die Rechte an Thyroxin für 1 Dollar an die Universität von Minnesota.</p>
<p class="article-intro">Wie jedes Jahr versammelten sich die Schweizer Endokrinologen und Diabetologen auch im November 2019 für zwei Tage in Bern. Eröffnet wurde die Jahresversammlung, auf deren Programm wiederum viele spannende Themen standen, von Prof. Dr. med. William F. Young von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, USA, der in einem mitreissenden Vortrag über die spannende Entdeckung der Glukokortikoidtherapie berichtete, in welcher die Mayo Clinic eine wesentliche Rolle spielt.</p>
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<p class="article-content"><h2>… führt über Thyroxin …</h2> <p>Die Geschichte der Entdeckung der Glukokortikoidtherapie beginnt mit dem amerikanischen Biochemiker und späteren Nobelpreisträger Edward Calvin Kendall (1886–1972), dem es in den frühen 1910er-Jahren gelang, in dem von ihm aufgebauten Labor am St. Luke’s Hospital in New York City das aktive Prinzip der Schilddrüse zu isolieren und dessen Wirkung bei Patienten mit Hypothyreose nachzuweisen. Da seine Forschungserfolge von der Klinikleitung jedoch zu wenig geschätzt wurden – man schickte ihm Frühstücksflocken mit der Bitte, diese zu analysieren – verliess er das St. Luke’s Hospital schon bald wieder. Aber auch am Rockefeller Institute, wo er seine Entdeckung präsentierte, stiess er auf Desinteresse. Glücklicherweise erfuhr er, dass sich die Mayo-Brüder für die Schilddrüse interessierten, und so erhielt er eine Stelle an der Mayo Clinic in Rochester. An Weihnachten 1914 gelang es Kendall dort, erstmals reines kristallines Thyroxin zu isolieren, womit der Grundstein für eine Karriere als «Hormonjäger », wie sich Kendall selbst bezeichnete, gelegt war. Dabei hatte er, wie er selbst sagte, ein grosses Ziel vor Augen: «Ich will eine grosse Eiche wachsen lassen; ich bin nicht an einem Haufen Brombeersträucher interessiert.»<sup>1</sup> Um zu verhindern, dass Firmen von seinem Forschungserfolg profitierten, und um zu gewährleisten, dass dieser allein der medizinischen Forschung und den Patienten zugutekommt, verkaufte er 1918 das Patent und die Rechte an Thyroxin für 1 Dollar an die Universität von Minnesota.</p> <h2>… und Adrenalin …</h2> <p>1930 wurde Kendall von Leonard Rowntree, einem klinischen Forscher an der Mayo Clinic, gebeten, ein besseres Nebennierenextrakt für die Behandlung von Addison-Patienten herzustellen. Die Behandlung bestand damals aus der sog. Muirhead-Therapie, die die dreimal tägliche Gabe von Epinephrin in Form von subkutanen Injektionen und Zäpfchen sowie die Einnahme einer ganzen unverarbeiteten Rindernebenniere zu jeder Mahlzeit umfasste.<sup>2</sup> 1929 hatte Rowntree von J. J. Pfiffner, Princeton, ein bovines Nebennierenextrakt, das er zusammen mit W. W. Swingle entwickelt hatte, zur Testung am Menschen erhalten.<sup>3</sup> Das Swingle-Pfiffner-Extrakt zeigte zwar die gewünschte Wirkung, aber es traten auch schwere, limitierende Reaktionen an der Injektionsstelle auf. «Und hier kam nun Kendall ins Spiel, der die Aufgabe, ein besser verträgliches Nebennierenextrakt zu entwickeln, gerne übernahm – immer mit der grossen Eiche vor Augen», so Young. Und Kendall war erfolgreich.<br /> Da in den folgenden Jahren der Preis für bovine Nebennieren von 40 Cent pro Kilogramm auf 6 Dollar pro Kilogramm anstieg, schloss Kendall 1934 mit zwei Firmen einen Deal: Parke Davis Co. lieferte ihm pro Woche 300 kg bovine Nebennieren und er extrahierte daraus für die Firma gratis «Adrenalin» – und verwendete die Nebennierenrinde für seine eigenen Experimente. Mit Wilson Labs lautete der Deal: Nebennierenrindenextrakt gegen 150 kg bovine Nebenniere pro Woche – das hierbei anfallende Nebennierenmark nutzte er, um die Adrenalinproduktion für Parke Davis zu erhöhen. So kam es, dass zwischen 1934 und 1949 praktisch alles in Nordamerika gebrauchte Adrenalin im Labor der Mayo Clinic hergestellt wurde, in dem im 24-Stunden-Betrieb in drei Schichten gearbeitet wurde.</p> <h2>… zu «Compound E»</h2> <p>1934 entdeckte Kendall, dass in der Nebennierenrinde mehr als ein Hormon produziert wird, und isolierte in der Folge fünf kristalline Verbindungen, die er fortlaufend mit den Buchstaben A bis E bezeichnete. «Compound E», das später Cortison genannt werden würde, erwies sich als biologisch aktiv (Abb. 1).</p> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Leading Opinions_Innere_2001_Weblinks_lo_innere_2001_s29_abb1_ludin.jpg" alt="" width="275" height="259" /><br /> 1941 kamen an der «Conference on Adrenal Hormones» an der Yale University Gerüchte auf, wonach die Deutschen alle anderen Forscher geschlagen hätten im Rennen um die Entschlüsselung des Geheimnisses der Nebennierenrinde. Sie hätten ein Nebennierenextrakt produziert, das gegen Hypoxie wirkt, sodass ihre Piloten ohne Probleme in einer Höhe von 40 000 Fuss fliegen könnten. «Im Nachhinein stellten sich diese Gerüchte als gegenstandslos heraus, aber 1941 definierte der US National Research Council die Synthese des aktiven Nebennierenrindenhormons als oberstes Ziel der Kriegsanstrengungen – vor der Produktion von Penicillin und der Entwicklung synthetischer Antimalariamedikamente », so Young.<br /> Nach dem Krieg blieben vom «Adrenocortical Commitee» nur noch die Mayo Clinic und Merck & Co. übrig. Bis im Frühling 1948 wurden 9000 mg «Compound E» für klinische Studien synthetisiert. Drei Forscher an der Mayo Clinic erhielten je 2000 mg für Studien bei Addison-Patienten und 3000 mg wurden für spätere Studien aufgehoben. Im Herbst 1948 bat Philip S. Hench, Leiter der Rheumatologischen Abteilung an der Mayo Clinic, Kendall um «Compound E» für eine Patientin mit einer schweren therapierefraktären rheumatoiden Arthritis (RA). Hench war nämlich der Überzeugung, dass der RA ein «Substance X»-Mangel zugrunde liegt,<sup>4, 5</sup> und er vermutete, «Compound E» könnte diese ominöse Substanz X sein. Nachdem sie in den Versuch eingewilligt hatte, bekam die damals 28-jährige bettlägerige RA-Patientin H. G. am 21. September 1948 erstmals 100 mg «Compound E». Wie der Krankenakte zu entnehmen ist, fühlte sich die Patientin an Tag 3 bereits viel besser, hatte deutlich weniger Muskelschmerzen, mehr Appetit und konnte sich im Bett wieder selbst drehen. An Tag 4 konnte sie die Arme wieder über den Kopf heben und sogar wieder gehen, der Gelenkbefund wurde als 50 % verbessert beurteilt. An Tag 9 notierte der behandelnde Arzt: «Patientin hatte 8 Tage lang 100 mg und heute 50 mg, ging am Nachmittag für drei Stunden in die Stadt zum Shopping, fühlte sich danach müde, aber die Gelenke waren gut.» Daraufhin wurden weitere freiwillige RA-Patienten behandelt, deren Zustand sich ebenfalls innert Tagen dramatisch besserte. Hench, Kendall und die Firma Merck & Co. realisierten, dass sie gerade Zeugen einer medizinischen Revolution waren, wollten die Resultate vor der Publikation aber noch weiter verifizieren. Als am 20. April 1949 an einer nicht öffentlichen Veranstaltung an der Mayo Clinic die erstaunlichen Resultate von 14 RA-Patienten, die mit «Compound E» behandelt worden waren, präsentiert wurden, war auch ein Journalist der New York Times anwesend, dem es gelungen war, sich unbemerkt in den Saal zu schmuggeln.<sup>6</sup> Und so kam es, dass die Resultate mit «Compound E» bei RA tags darauf als Erstes auf der Frontseite der New York Times publiziert wurden unter dem Titel «Aid in Rheumatoid Arthritis is promised by New Hormone».<sup>7</sup> Anlässlich der Präsentation der Ergebnisse am internationalen Rheumatologiekongress im Juni 1949 wurde für «Compound E» erstmals der Name Cortison verwendet.<br /> Im Oktober 1950 – 25 Monate nachdem H. G. als erste RA-Patientin Cortison erhalten hatte – wurden Hench, Kendall und Tadeus Reichstein, Professor für pharmazeutische Chemie an der Universität Basel, der gleichzeitig wie und z. T. mit Kendall an der Isolation von Hormonen aus der Nebennierenrinde gearbeitet hatte, für ihre Entdeckung mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin geehrt.</p> <h2>Cortison – ein zweischneidiges Schwert</h2> <p>Die Geschichte der Entdeckung der Glukokortikoidtherapie wäre aber nicht vollständig ohne die Fortsetzung der Krankengeschichte von H. G. Nachdem unter der Behandlung mit 25 mg/d bis Tag 20 wieder vermehrt Symptome aufgetreten waren, wurde die Dosis erneut auf 50 mg/d erhöht. An Tag 54 notierte der behandelnde Arzt, dass die Patientin starken Durst habe, innert drei Tagen 2,5 Pfund zugenommen und ein «volleres» Gesicht habe. Tag 66 bis 178: Obwohl die RA-Symptome wieder deutlich geringer waren, fühlte sich die Patientin sehr schlecht und kraftlos und wurde wieder bettlägerig, hinzu kamen Akne, Amenorrhö und Osteoporose, sodass sie zu ihrem Arzt sagte: «I prefer arthritis to what I have now – cry, nervous, can’t concentrate etc., depressed, never been so absent minded. Just feel weaker and weaker every day …»<br /> Kendall erkannte, dass Cortison und seine Derivate zweischneidige Schwerter sind, die in hohen Dosen und über längere Zeit verabreicht zu einem iatrogenen Cushing-Syndrom führen, und dass die rheumatoide Arthritis und andere entzündliche Erkrankungen mit Cortison nicht geheilt werden können. «Und so machte er sich nach seiner Pensionierung im Jahr 1951 auf die Suche nach einem, wie wir heute sagen würden, selektiven Glukokortikoidrezeptormodulator, mit dessen Hilfe die antiinflammatorische Wirkung von den katabolen Effekten isoliert werden könnte », berichtete Young.<br /> Über die treibende Kraft hinter der medizinischen Forschung schrieb Kendall in seinen Memoiren: «But two components of the drive can be understood and are appreciated by almost everyone. These are a love of whatever things are true and a desire to create something. The scientist hopes to discover a small addition to the accumulated truth of the ages and to create procedures that make this revelation available to all. These hopes constitute a powerful drive that is an inexhaustible source of strength.»<sup>1</sup></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für
Endokrinologie und Diabetologie, 14. und 15. November
2019, Bern
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Kendall EC: Cortisone. Charles Scriber’s Sons, New York, 1971 <strong>2</strong> Studies in Addison’s disease: The Muirhead treatment. Can Med Assoc J 1925; 15: 410-1 <strong>3</strong> Swingle WW, Pfiffner JJ: The revival of comatose adrenalectomized cats with an extract of suprarenal cortex. Science 1930; 72: 75-6 <strong>4</strong> Hench PS: Effect of jaundice on rheumatoid arthritis. Br Med J 1938; 2: 394-8 <strong>5</strong> Hench PS: A reminiscence of certain events before, during and after the discovery of cortisone. Minn Med 1953; 36: 705-10 <strong>6</strong> Warner ME: Witness to a miracle: the initial cortisone trial: an interview with Richard Freyberg MD. Mayo Clin Proc 2001; 76: 529- 32 <strong>7</strong> Laurence WL: Aid in rheumatoid arthritis is promised by new hormone. The New York Times, April 21, 1949</p>
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