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Kein Tabuthema

Depression und Sexualität

<p class="article-intro">Die Prävalenz von sexuellen Dysfunktionen bei Menschen mit Depressionen ist hoch: 50 bis 70 % leiden darunter. Sexuelle Störungen sollten daher in der psychiatrischen Praxis angesprochen und eine sexualmedizinische Grundversorgung sollte angeboten werden.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>TIPS F&Uuml;R DIE PRAXIS</h2> <ul> <li>Vertrauen Sie auf Ihre sexualmedizinische Basiskompetenz bei Anamnese und Beratung.</li> <li>Pr&uuml;fen Sie die pharmakologischen Schritte (Interaktion von Medikamenten beachten).</li> <li>Pr&uuml;fen Sie bei unerw&uuml;nschten Wirkungen die Rationale der Pharmakotherapie. Erw&auml;gen Sie eine Dosisreduktion oder einen Wirkstoffwechsel/eine Augmentation! Gute Alternativen bei Depressionen: Agomelatin, Bupropion, Mirtazapin, Vortioxetin, Trazodon.</li> <li>&bdquo;Sexualtherapeutika&ldquo; (PDE-5-Inhibitoren, Androgene, Dapoxetin, SSRI, Emla-Salbe) erw&auml;gen.</li> <li>Bauen Sie Ihre &auml;rztlichen Beratungskompetenzen aus.</li> </ul> </div> <p>Neben den Kernsymptomen der Depression (Verlust von Interesse und Freude, depressive Stimmung, verminderter Antrieb) tritt h&auml;ufig eine Anzahl akzessorischer Symptome auf. Dazu z&auml;hlen unter anderem</p> <ul> <li>Suizidgedanken/suizidale Handlungen,</li> <li>vermindertes Selbstwertgef&uuml;hl und Selbstvertrauen,</li> <li>Appetitminderung,</li> <li>Verminderung von Konzentration und Aufmerksamkeit,</li> <li>sexuelle St&ouml;rungen,</li> <li>&Auml;ngste,</li> <li>Schlafst&ouml;rungen,</li> <li>ver&auml;nderte Psychomotorik (erh&ouml;ht oder vermindert),</li> <li>Gef&uuml;hl von Schuld und Wertlosigkeit</li> <li>und negative und pessimistische Zukunftsperspektiven.</li> </ul> <p>&bdquo;Da sind einige Aspekte dabei, mit denen wir nicht so h&auml;ufig in Ber&uuml;hrung kommen, beispielsweise die Psychomotorik oder auch sexuelle St&ouml;rungen&ldquo;, fasste Univ.-Prof. Dr. Tillmann Kr&uuml;ger, Klinik f&uuml;r Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, in seinem Vortrag die Situation zusammen. &bdquo;Bei Themen, auf die wir nicht gut vorbereitet sind, kann sich jedoch schnell ein Kommunikationsproblem ergeben. Sexualit&auml;t bzw. sexuelle St&ouml;rungen k&ouml;nnen solche Themen sein. Es ist also gut, sich damit zu besch&auml;ftigen!&ldquo; <br />Warum ist es wichtig, Sexualit&auml;t bzw. sexuelle Dysfunktionen bei der Behandlung von Menschen mit Depressionen zu evaluieren und zu behandeln? Zum einen besteht eine starke Beziehung zwischen sexueller Gesundheit und Lebensqualit&auml;t. Dar&uuml;ber hinaus k&ouml;nnen sexuelle Probleme als Teilaspekt einer Depression auftreten und zu einem zus&auml;tzlichen Stressor werden (morbogene sexuelle Dysfunktion). Andererseits k&ouml;nnen auch Medikamente sexuelle Dysfunktion induzieren (pharmakogene sexuelle Dysfunktion) und so die Malcompliance erh&ouml;hen. &bdquo;Wir wissen, dass Gewichtszunahme, Beeintr&auml;chtigung der Vigilanz, Kognition und sexuelle Dysfunktion zu den h&auml;ufigsten Gr&uuml;nden z&auml;hlen, warum Patienten ihre Medikamente nicht mehr nehmen&ldquo;, betonte Kr&uuml;ger. <br />Wer ist aber nun f&uuml;r die sexualmedizinische Versorgung der Patienten mit psychischen Problemen zust&auml;ndig? Mit der &Uuml;berweisung an einen Experten ist es oft nicht getan, erkl&auml;rte Kr&uuml;ger, denn</p> <ul> <li>sexuelle Probleme existieren fast nie losgel&ouml;st von anderen psychischen, somatischen oder Entwicklungsproblemen und sind oft auch nicht das prim&auml;re bzw. das pr&auml;sentierte Problem,</li> <li>eine Abspaltung des sexuellen Problems in Form einer (zu) fr&uuml;hen &Uuml;berweisung ist inhaltlich inad&auml;quat, nicht im Sinne des Patienten und eher hinderlich f&uuml;r therapeutische Verbesserungen,</li> <li>wenn bereits eine therapeutische Beziehung besteht, kann eine &Uuml;berweisung zu einem anderen Experten besonders negative Folgen haben,</li> <li>f&uuml;r viele sexuelle Probleme braucht es kein hoch spezialisiertes Expertenwissen, sondern der Arzt oder Therapeut kann alleine mit seinen bereits zur Verf&uuml;gung stehenden Mitteln plus einigen sexualmedizinischen Basiskenntnissen viel tun,</li> <li>Sexualtherapeuten und Sexualmediziner sind rar.</li> </ul> <p>&bdquo;Ich w&uuml;rde mich freuen, wenn jeder Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut eine sexualmedizinische Grundversorgung anbieten k&ouml;nnte. Oft erlebe ich in der Praxis, dass Patienten zu mir &uuml;berwiesen werden, weil sich ihr Psychotherapeut oder behandelnder Arzt &ndash; wahrscheinlich zu Unrecht &ndash; nicht ausreichend kompetent f&uuml;hlt&ldquo;, so Kr&uuml;ger.</p> <h2>Wechselseitige Beziehung: Depressionen und sexuelle St&ouml;rungen</h2> <p>Wie bei vielen psychischen Erkrankungen besteht hier eine bidirektionale Beziehung. Einerseits kann die Depression das Risiko, eine sexuelle Dysfunktion zu entwickeln, um 50 bis 70 % erh&ouml;hen, andererseits steigt durch eine sexuelle Dysfunktion das Risiko f&uuml;r eine Depression um 130&ndash;210 % an. Die depressive Anhedonie ist dabei meist auch eine sexuelle Anhedonie/Lustlosigkeit. Aus neurobiologischer Sicht sind mit Dopamin und Noradrenalin &auml;hnliche Neurotransmittersysteme betroffen.<sup>1</sup></p> <h2>Antidepressiva als Ursache sexueller St&ouml;rungen</h2> <p>&bdquo;Wir haben mittlerweile eine gute Auswahl an verschiedenen Substanzen zur Behandlung der Depression. Die neueren Substanzen dominieren dabei hinsichtlich der Vertr&auml;glichkeit und der Auswirkung auf die Sexualit&auml;t. In Vergleichsstudien waren Agomelatin, Amitriptylin, Escitalopram, Mirtazapin, Paroxetin, Venlafaxin und Vortioxetin effektiver als andere Substanzen. Agomelatin, Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Sertralin und Vortioxetin waren vertr&auml;glicher als andere Substanzen<sup>2</sup>&ldquo;, er&ouml;rterte Kr&uuml;ger. <br />Eine Metaanalyse von Serretti et al. hilft, diese Ergebnisse hinsichtlich sexueller St&ouml;rungen zu klassifizieren. Sie kam zu dem Ergebnis, dass eine Erh&ouml;hung des serotonergen Tonus im synaptischen Spalt oftmals zu einer sexuellen Inhibition f&uuml;hrt, die vor allem &uuml;ber 5-HT<sub>1b</sub>-, 5-HT<sub>1C</sub>-, 5-HT<sub>2C</sub>-Rezeptoren vermittelt ist. Die Autoren zeigten, dass der Einsatz von Sertralin, Venlafaxin, Citalopram, Paroxetin und Fluoxetin in der Behandlung der Depression hinsichtlich einer intakten Sexualit&auml;t riskant sein kann. Der Einfluss von Agomelatin, Moclobemid und Bupropion auf die sexuelle Dysfunktion war hingegen mit Placebo vergleichbar (Abb. 1).<sup>3</sup> <br />&bdquo;Ebenso schneiden Trazodon, Vilazodon und Vortioxetin sehr gut ab. Diese waren allerdings zu der Zeit, zu der diese Metaanalyse durchgef&uuml;hrt wurde, noch nicht verf&uuml;gbar&ldquo;, erg&auml;nzte Kr&uuml;ger. Angesichts dieser Ergebnisse empfiehlt der Experte, alle Patienten unter Antidepressiva aktiv nach belastenden Nebenwirkungen im Bereich der Sexualit&auml;t zu fragen. Er selbst sei erstaunt, wie viele Patienten sich auf diese Frage &ouml;ffnen und von ihren Problemen berichten.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1904_Weblinks_s32_abb1.jpg" alt="" width="1360" height="535" /></p> <h2>Was kann der Mediziner nun tun?</h2> <p>Oberste Maxime: Sexuelle Probleme ansprechen! Das PLISSIT-Modell (Permission, Limited Information, Specific Suggestions, Intensive Therapy) bietet hier einen Leitfaden: zuerst als Therapeut die Bereitschaft zeigen, sexuelle Fragen anzusprechen; dann wichtige Informationen &uuml;ber sexuelle St&ouml;rungen geben; danach direkte Ratschl&auml;ge und Empfehlungen geben; im vierten Schritt Beginn mit der eigentlichen Behandlung.<br />Zus&auml;tzlich zu einer psychotherapeutischen Therapie k&ouml;nnen auch medikament&ouml;se Therapien in Erw&auml;gung gezogen werden. Flibanserin<sup>4</sup> wurde von der FDA mit Sicherheitsauflagen zur Behandlung der Unlust der Frau zugelassen. &bdquo;Der motivationale Aspekt ist jedoch insbesondere bei der Frau mit einer pharmakologischen Substanz nicht einfach zu steuern. Gerade bei Frauen scheint die Lage sehr komplex zu sein. Deshalb ist die psychologische und psychotherapeutische Unterst&uuml;tzung in diesem Bereich so wichtig&ldquo;, erkl&auml;rte Kr&uuml;ger.<br />PDE-5-Hemmer werden bei erektiler Dysfunktion angewendet. &bdquo;Denken Sie daran, immer auch die Frauen zum Gespr&auml;ch einzuladen und beiden zu vermitteln, dass PDE-5-Hemmer keine Lustmittel sind. Hier gibt es immer wieder Missverst&auml;ndnisse&ldquo;, appellierte Kr&uuml;ger. Zur Therapie von Ejaculatio praecox werden psycho- und sexualtherapeutische Verfahren eingesetzt. In der pharmakologischen Therapie stehen Dapoxetin, Off-Label-Optionen (Paroxetin, Duloxetin) und neuerdings auch ein topisch anzuwendendes Pr&auml;parat mit Lidocain und Prilocain (Fortacin<sup>&reg;</sup> Spray) zur Verf&uuml;gung.<sup>5</sup></p> <p>Abschlie&szlig;end darf auch die Weiterbildung nicht unerw&auml;hnt bleiben. Unterst&uuml;tzung finden Mediziner bei Fachgesellschaften (Information am Ende des Textes), in der Fachliteratur oder bei fachspezifischen Fortbildungen. &bdquo;Unser Lehrinstitut in Hannover ist zu diesem Zweck eine Kooperation mit der &Ouml;sterreichischen Akademie der &Auml;rzte eingegangen. Regelm&auml;&szlig;ig bieten wir ein Ausbildungskurrikulum an.&ldquo;</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: Update zu Depression und Schizophrenie, 23. Februar 2019, AKH Wien </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Atlantis E et al.: J Sex Med 2012; 9: 1497-1507 <strong>2</strong> Cipriani A et al.: Lancet 2018; 391: 1357-66 <strong>3</strong> Serretti A, Chiesa A: J Clin Psychopharmacol 2009; 29(3): 259-66 <strong>4</strong> Katz M et al.: J Sex Med 2013; 10: 1807-15 <strong>5</strong> Benkert O, Hippius H: Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. Springer Verlag, Berlin, 2017</p> </div> </p>
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