Entwicklungspsychiatrische Überlegungen aus der 4-Länder-Perspektive

Teil 1: Gibt es ein klinisches «Post-Corona-Adaptations-Syndrom»?

Die Corona-Pandemie stellt im Jahre 2020 die Welt vor immense Aufgaben. Neben dem gravierenden Gesundheitsproblem, das auch über das Jahr 2020 hinaus bestehen bleiben wird, ist die pandemische Krise global, kontinental, national, regional, lokal, familiär und individuell zu betrachten. Zudem werden die Auswirkungen der Pandemie aus epidemiologischer und medizinischer, soziologischer, ökonomischer und politischer und noch manch anderer Perspektive erst retrospektiv in ihrer ganzen Breite zu erkennen sein.

Die seelischen Folgen der Pandemie werden über epidemiologisch nachvollziehbare Änderungen von Prävalenzen psychischer Störungen in den Bevölkerungen der Erde («global burden») greifbar und psychiatrisch, psychotherapeutisch, sozialpsychologisch und entwicklungspsychologisch verstehbar. Gleiches gilt auch für die individuell notwendigen Interventionen. Geleitet von klinischen Beobachtungen stellt sich im Laufe der Corona-Pandemie zunehmend die Frage, ob es zu spezifischen Symptomkonstellationen oder gar zur Ausprägung eines «Post-Corona-Adaptations-Syndroms» (PCAS) kommt und wie den Folgen zu begegnen ist, therapeutisch wie präventiv. Im Folgenden erfolgt hierzu eine Annäherung aus interdisziplinärer (mittel-)europäischer, primär entwicklungspsychiatrischer Sicht.

Einleitung

Lage im Mai 2020

Nachdem die WHO im Februar 2020 die Corona-Krise als Pandemie ausgerufen hatte, erliessen die jeweiligen Regierungen ab Mitte März 2020 Gegenmassnahmen, die als eines der grössten naturalistischen Feldexperimente in modernen Gesellschaften angesehen werden können.

Unterschiedlichste Sichtweisen, unterschiedlichste Folgen, unterschiedlichste Lösungsstrategien und unterschiedlichste individuelle und soziale Verarbeitungsmechanismen führen zu einer hochkomplexen Situation, die intellektuelle, wissenschaftliche, emotionale, politische, ökonomische und spirituelle Kapazitäten erheblich fordert.

In dieser hochkomplexen Situation bleibt als gemeinsamer Nenner, dass Nichtwissen, Fehl- und Desinformation sowie Spekulationen und ein dramatischer «Medienhype» (auch in den medizinisch-therapeutischen Fachmedien) bei allen Individuen und Gesellschaftsgruppen unterschiedlich ausgeprägte Ängste und Unsicherheiten mit auslösen. Diese sind intrapsychisch zu verarbeiten und mit ihnen muss im Hier und Jetzt der Alltag gemeistert werden. Dies gilt für die klinisch und/oder wissenschaftlich tätigen Autorinnen und Autoren dieses Artikels ebenso wie insbesondere für die ihnen therapeutisch anvertrauten Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien.

Somit kann man selbstkritisch zum jetzigen Zeitpunkt auch fragen: Wie wollen wir im psychotherapeutischen Diskurs über die Adaptation «nach» Corona reden, wenn wir derzeit noch nicht wissen, was genau «Corona» denn eigentlich ist und wie es sich längerfristig auswirkt?

Nationale und kulturspezifische Unterschiede kommen deutlich hinzu, ein europäisches oder UNO-geführtes Gesamtkonzept ist noch nicht zu erkennen, Familien mit Kindern oder älteren Angehörigen sind betroffen. So wurden z.B. in Italien am 2.3. 2020 alle Schulen und Kindergärten überraschend (bis September 2020) geschlossen, noch bevor am 9. 3. 2020 der allgemeine «shutdown» beschlossen wurde, sodass die gesamte Kinderbetreuung unmittelbar zulasten der Eltern und vor allem der Mütter fiel. Die Interventionen der deutschsprachigen Länder unterscheiden sich ebenfalls erheblich, vor allem in Bezug auf den Ende April/Anfang Mai beginnenden Rückweg aus dem «lockdown».

Aus psychotherapeutischer und psychiatrischer Sicht stellt sich die Frage, ob die mit hoher Wahrscheinlichkeit auftretenden psychischen und psychosozialen Folgeerscheinungen der «Corona-Zeit» zu spezifischen Phänomenen und Symptomen führen, die in einem kausalen Zusammenhang mit dieser besonderen Situation stehen, oder zu allgemein bekannten Copingmechanismen wie Resilienzen, Stressreaktionen bzw. Stressfolgestörungen mit den typischen Verarbeitungsweisen.

Dramatisierungen dürften für niemanden nützlich sein, ebenso fahrlässig wäre es allerdings, nicht in Diagnostik, Therapie und Beratung sowie Prävention auf die einzigartigen Faktorenkombinationen einzugehen, die zumindest in europäischen Demokratien den Umgang mit der Corona-Krise bestimmt haben (Tab. 1). Das zunächst ausgerufene Primat der Gesundheit (z.B. vor den wirtschaftlichen Interessen) hat stets das WHO-Diktum zu bedenken: «There is no health without mental health.

Tab. 1: Corona-spezifische Besonderheiten (Auswahl)

Eine entwicklungspsychiatrische Perspektive

Eine besondere Rolle spielen Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien. Betagte und hochbetagte Menschen selbstverständlich ebenso, sie sind aber Thema anderer Überlegungen bzw. werden sie im entwicklungspsychiatrischen Kontext in ihrer Rolle als Grosseltern relevant.

Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz sind stets eng mit gesellschaftlichen Prozessen verwoben. Materieller Überfluss und gleichzeitiger sozialer Mangel fordern in der neoliberalen «Spätmoderne» eine flexible individuelle Entwicklung, um sich in der Medien- und Konsumwelt adäquat zu bewegen. Mangel und Restriktion sind bzw. waren – bis März 2020 – scheinbar nicht entscheidend, eine «Unverfügbarkeit» von Objekten und Ordnungsstrukturen i.S. von H. Rosa (2019) kaum relevant. Es mag nicht von ungefähr sein, dass die ersten Neuzugänge z.B. in der KIJP in Südtirol nach dem «lockdown» ausgewiesene Zwangsstörungen von Kindern im Alter um 10 Jahre waren, denen Strukturverlust besonders schwer fiel. In zweiter Linie zeigten sich Angst und «self harm» bei autistischen Kindern und Jugendlichen.

Ein Mangel an Hygienemasken und Desinfektionsmitteln oder ein Horten von Toilettenpapier, Nudeln und Sanitärartikeln muss insbesondere Menschen der «Generation Z» (heute 1–21 Jahre alt) im Zeitalter von Modebegriffen wie Transhumanismus oder Singularität schlicht anachronistisch vorkommen (vgl. Twenge 2016), den Menschen der Generation Y (heute 20–40 Jahre alt) als Vorsorge-Versagen der (noch) von der «Baby-Boom-Generation» bestimmten stofflichen Institutionen und Netzwerke.

Das Konzept des Solutionismus von Morozow (2015) bietet die theoretische Verstehensgrundlage für eine verbreitete Geisteshaltung der jüngeren Bevölkerung, die ausschliesslich im Internet die (durch andere schon präformierten – und vorbereiteten) Lösungen aller Probleme erwartet. Eine schlichte materielle Beschaffungsproblematik ist in Cloud- oder Crowd-Lösungen der aktuellen Wirtschaftsentwürfe nicht vorgesehen (Brygulfson und McAffee 2020). Eigenes Tun besteht zunehmend im Finden der vorgefertigten Lösungen anderer, seien dies Menschen oder Konzepte der «artificial intelligence». Beide junge Generationen machen in Europa 40% der Bevölkerung aus, in Entwicklungs- und Schwellenländern bis zu 90% (OECD 2020).

Es ist die Frage, welche Beziehungs- und Kulturtechniken zur Bewältigung dieser «katastrophalen Überraschung» schon nützlich waren beziehungsweise welche in der Post-Corona-Zeit entwickelt oder oft kurzfristig «erfunden» werden müssen. Dies gilt umso mehr für psychisch kranke Individuen und belastete Familien. In Italien z.B. wurde der «lockdown» vom 9.3.2020 als nationales Ereignis im Sinne des Gemeinwohles («Ich liebe den Nächsten wie mich selbst», «Wir sitzen alle im gleichen Boot») quasi inszeniert. Eine gewisse Zeit lang gab dies das kollektive Gefühl, das Virus «macht uns alle gleich», danach veränderte sich vieles aus dem Blickwinkel der betroffenen Bürger, bekannte soziale Ungleichgewichte brachen erneut auf und zeigen sich deutlich verstärkt.

Das Konzept des Familienstresses (Schneewind 2006) beschreibt dies in dem Sinne eines Ereignisses, das – für die Familienmitglieder – unerwartet wie ein Blitz das System erschüttert. Doch innerhalb von Familien, in denen entweder individuell oder systemisch eine gesteigerte Vulnerabilität vorliegt, kann im Sinne des
Diathese-Stress-Modells die durch Corona bedingte Situation vermutlich als Auslöser, ggf. auch als Grund für die Erstmanifestation psychischer Erkrankungen aufgefasst werden. Die gern gebrauchte Blitz-Metapher lässt allerdings ausser Acht, dass die jeweils beschlossenen Massnahmen wochenlang im Januar/Februar 2020 in allen Medien diskutiert wurden, genug Zeit für ein «priming», in welche Richtung immer.

Familien in der Spätmoderne

Bereits ohne die Corona-Pandemie befinden wir uns in einer beachtlichen gesellschaftlichen Übergangsphase, einem «mind change» (Greenfield 2014) und vielleicht gar einer nicht kalkulierbaren «Metamorphose der Gesellschaft» (Beck 2016). Der «Realitätsschock» (Lobo 2019) der Digitalisierung ist nur ein Teil davon. Hinzu kommen Effekte des Klimawandels, der weltweiten Migration, der Geschlechter- und der Geschlechtsidentitäts-Konflikte, der Destabilisierung des «alten Westens» und des Erstarkens autoritärer Regime. Auch die in den westlichen Gesellschaften anzutreffende Überalterung ist hier zu erwähnen.

Im Kontext der Entwicklung von belasteten Familien geht die Schere weiter auseinander zwischen psychisch und sozial gestressten Kindern und Jugendlichen und denen, die die vielfältigen Möglichkeiten des Systems auch in der Corona-Zeit nutzen. Ein spielerisches und lustvolles Wechseln zwischen unterschiedlichen Anforderungen, selektiven Anstrengungen und gezielten Entspannungen und eine langfristige Entwicklung von Sinnhaftigkeit ausserhalb und innerhalb der Konsumwelt dürften die zentralen Entwicklungsaufgaben der «Lebenskunst» der modernen Jugend sein (vgl. Bauman 2013). Dies zeigen wie im Brennglas die unterschiedlichen familiären Erfahrungen unserer Klienten und gesunder Kinder und Jugendlicher von sog. «lockdown», «home schooling» und «home office», also von Einschluss, Hausbeschulung und Heimarbeit. Bei Familien mit einem mittleren bis hohen sozioökonomischen Status werden plötzliche Einschränkungen sowie die nicht geplante Kohärenz zu einem neuen Problem. Die hohe Präsenz der Eltern und hier primär der (teilzeitarbeitenden) Mütter und deren plötzliches Interesse für das alltägliche Leben ihrer Kinder kann zu Anpassungsstörungen führen, dies beiderseits. Eltern «entdecken», wie ihre Kinder gut oder schlecht funktionieren, Kinder sehen plötzlich ihre Eltern, insbesondere sonst sehr beschäftigte Väter, in neuen Rollen und Kompetenzen unter einem bis jetzt unbekannten Licht. Wie sich die Schulschliessungen differenziert nach Risikogruppen auswirken, dürften prospektive Studien klären, wobei vor allem der Einfluss auf den Schulabsentismus in der Versorgung wichtig wird. Schulen wurden wieder als soziale Institution bzw. Ort der Kinderbetreuung und gleichzeitig als virtuelle Bildungsstätten deutlich.

Welche spezifisch psychotherapeutischen Erklärungsansätze können zur weiteren Klärung dieser psychosozial und psychopathogen wirksamen Thematiken beitragen?

Traumatologie versus Habituation

Folgt man den gängigen Traumadefinitionen, so könnte man die Folgen der Corona-Krise als sequenzielle Traumatisierung auffassen. Sie ist eine für das Individuum nicht vorhersehbare, nicht lernbare, jeden anderen Menschen ebenfalls überfordernde Ohnmachtssituation mit unklarem Ende bzw. phasenhaftem, sequenziellem Verlauf (i.d.S. Typ-II-Traumas, obwohl biogen, also aus der Natur kommend). Nach klinischer und wissenschaftlicher Empirie sind dies in den ersten 12 Monaten 25%, in zwei Jahren 10% einer Population, das hiesse z.B. für die Schweiz in absoluten Zahlen 250000 bzw. 100000 betroffene Minderjährige, für Deutschland das Zehnfache. Nun sind aber Kinder und Jugendliche selbst die Bevölkerungsgruppe, in der – zumindest bisherigen klinischen Erfahrungen zufolge – schwere lebensbedrohliche Verläufe einer Covid-19-Infektion am wenigsten häufig sind. Es geht also praktisch nicht um die direkte eigene Bedrohung, sondern um das Erleben von Bedrohung ausserhalb.

In diesem Kontext könnte man – nicht nur als Kritiker einer Inflation des Traumabegriffs – die Auffassung vertreten, dass die menschliche Fähigkeit zur Habituation gerade aufgrund des langfristigen Verlaufs und der schrittweisen Einschränkungen und Massnahmen und vor allem der Betroffenheit faktisch der gesamten Bevölkerung für mindestens drei Viertel der Bevölkerung eine nützliche Barriere gegen Traumatisierungserleben darstellt. So wird sich zeigen, ob Resilienz und Habituation (bis hin zur Antifragilität i.S. Talebs 2016) oder ob posttraumatische Störungen im weitesten Sinne die Fachpersonen beschäftigen. Es wird zu evaluieren sein, unter welchen Bedingungen diese klinischen Pole der Erfahrungsverarbeitung zufällig entstehen oder als Realisierung präexistenter Einstellungen und Erfahrungen zu verstehen sind. Zumindest bietet die derzeitige Krise, wenn es gelingt, Vereinzelung und Vereinsamung zu vermeiden, eine grosse Chance für soziales Lernen und Modelllernen.

Psychodynamische und lerntheoretische Mechanismen

Ohne flexibel funktionierende (jeweils altersentsprechend reife) Abwehrmechanismen sind ein derart komplexer Vorgang wie die Corona-Pandemie und seine Folgen und vor allem der «lockdown» und dessen Folgen nicht zu bewältigen.

Es wird sich erweisen, ob Rationalisierung, Intellektualisierung, Humor, Sublimierung und andere der reifen Persönlichkeitsentwicklung zuzuordnende Abwehrmechanismen (Tschuschke 2015) oder ob die für instabile und unreife Persönlichkeiten typischen Abwehrmechanismen der Projektion, der Verleugnung, der projektiven Identifikation und der Idealisierung/Entwertung grössere Bedeutung haben werden i.S. Kernbergs bzw. Kohuts. Der aktuelle politische Umgang mit dieser Thematik lässt im Sinne des kollektiven Unbewussten beides beobachten. Interessanterweise dürften die exponentiell wachsenden Herausforderungen der Corona-Krise hier relevant werden, da die meisten Menschen auch oberhalb der Piaget’schen Reifungsstufen sich diese Wachstumsart kaum anschaulich vorstellen können und auf emotionale Verarbeitung und das «Bauchgefühl» vertrauen müssen – die Kahneman’schen Denktypen spielen hier sicher mit hinein. Inwieweit eine gewisse kollektive Regression in der Einschlusssituation die Abwehrmechanismen weiter reifen und sie reichhaltiger werden lässt oder eher vereinfachte Copingstrategien hervortreten lässt, wird zu beobachten sein.

Eine kognitiv behaviorale Sichtweise dürfte vor allem die Adaptationsprozesse in Bezug auf Einschränkungen und Regelungen und die Erwartungen an die eigenen Bewältigungsfähigkeiten gut erklären. Da sich die Corona-Krise insbesondere auf Abläufe des Alltags auswirkt, werden zum Teil über Jahre automatisierte Routinen des Verhaltens und Denkens aufgebrochen. Dies kann auf individueller Ebene Chancen ergeben, Verhaltensrepertoires zu erweitern oder neu zu justieren. Es kann jedoch ebenso zur Folge haben, dass dysfunktionale Aspekte in den Vordergrund treten. Letztere können situativ bedingtes Vermeidungsverhalten, zwanghaftes Ruminieren oder maladaptives komplexes Verhalten sein, wie etwa ein verstärkter Konsum psychotroper Substanzen oder die exzessive Ausübung bestimmter Verhaltensweisen, insbesondere internetbasierter Aktivitäten. In erheblichem Masse wird die Richtung der individuellen Anpassung von prädisponierenden Faktoren wie vorbestehenden Vulnerabilitäten und Ressourcen mitbestimmt.

Die derzeitige Situation gleicht dem klassischen Aufbau eines Experiments zur Emotionsinduktion, nur, dass die Kontrollgruppe fehlt. Vor allem die Ungewissheit über den Verlauf der Krise, das Fehlen verbindlicher Meilensteine und zugeordnete Unsicherheiten, etwa den Ursprung der Krise betreffend, erzeugen ein kollektives Attributionsdilemma und stellen somit auf individueller Ebene erlernte und vormals funktionale Bewältigungsstrategien ebenso wie Emotionsregulationskompetenzen auf die Probe.

Systemische Sichtweise

Dass «alles mit allem verbunden» ist, war vor der Corona-Zeit jedem im Grunde bekannt. Dass Einschränkungen in einem Sektor der Gesellschaft derart unmittelbare Auswirklungen auf völlig andere Sektoren haben würden, war für viele eine völlig neue direkte Erfahrung. Systemtheoretisches Netzwerkdenken kann Folgen und Zusammenhänge erklären, die aus psychodynamischer Individualsicht oder lerntheoretischer Gruppensicht nicht direkt anschaulich werden. Dass nunmehr der sprichwörtliche «umfallende chinesische Reissack“ in Form einer anfangs ignorierten und politisch tabuisierten scheinbaren Mini-Epidemie auf Tiermarktstandorten sich zur weltweiten Pandemie ausgewachsen hat, ist ein virulenter Beleg für die Relevanz systemischer Perspektiven für das globale und regionale Gesundheits- und Sozialwesen.

Der Beitrag der Digitalisierung zum Systemverständnis ist noch unklar; die Dimension des «world wide web» ist nicht mehr nur mit den Fernsinnen erlebbar. Bilder, Blogs, Chatrooms, YouTube-Kanäle etc. aus China, den USA und anderen Regionen sind scheinbar anfassbar und fühlbar in die eigenen vier Wände gekommen – diese neue nahe Erfahrungsdimension weltweiter Prozesse, Informationen und Zugänge mit direkten und unmittelbar geforderten Folgerungen für das eigene Tun entspricht dem konkreten Lernen des Kindes. Nur fragt man sich, wer die Lehrer sind.

Die Corona-Krise steht wie kein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte für Brüche in einer Vielzahl von Lebensbereichen. Zu unterscheiden sind dabei vorübergehende Unterbrüche (Interruptionen), unerwartete Abbrüche (Abruptionen) und permanente Umbrüche (Disruptionen).

Unterbrüche, z.B. durch Schulschliessungen, erfordern Ausdauer und Geduld, lassen aber die begründete Hoffnung auf eine Rückkehr zum Vorzustand bestehen. Abbrüche, z.B. in Form von Todesfällen, stellen zwar scheinbar klare Endpunkte dar, können aber aufgrund der anhaltenden Pandemie aktuell nicht ausreichend verarbeitet und betrauert werden.

Umbrüche, z.B. in Form von Beziehungsabbrüchen, von ausfallenden Maturitäts-/Abiturprüfungen oder Verlust des Arbeitsplatzes bzw. der Lehrstelle oder internationaler Freundschaften, sind mit starker Verunsicherung verbunden und werden zunächst v.a. als Bedrohung und weniger als Chance erlebt. Im Gegensatz zu einer graduellen Veränderung ist eine solche Disruption ein fundamentaler Musterwechsel. Solche in der Digitalwirtschaft durchaus bekannte und erwünschte Phänomene («creative destruction») stellen im Moment alle Bevölkerungsschichten vor ungeahnte Herausforderungen. Entsprechend lassen sich derzeit weltweit prototypische emotionale Reaktionen in Zusammenhang mit Veränderungen in Anlehnung an das Trauerforschungsmodell von Kübler-Ross beobachten und verstehen: Schock, Verneinung/Ablehnung, zunehmend rationale und emotionale Akzeptanz, Testen/Ausprobieren etc.

Aus systemtheoretischer Sicht sind tiefgreifende Veränderungen unausweichlich mit kritischen Instabilitäten verbunden, die zu einer Neuorganisation des Systems führen, wobei das Resultat der Entwicklung aufgrund der Vielzahl von interagierenden Variablen nicht exakt vorhersehbar und der Prozess i.d.R. nicht umkehrbar ist. Wo sich hieraus drastische und langfristige Einschränkungen ergeben und wo Entwicklungsmöglichkeiten bestehen, ist für Einzelne schon absehbar, für andere zum Teil noch völlig offen. In jedem Fall werden dem Grossteil der Bevölkerung aktuell hohe Anpassungsleistungen abverlangt. Nicht jede/r hat ausreichend Ressourcen, um diesen Anforderungen und Zumutungen adäquat zu begegnen.

Tab. 2: Multiaxiales Klassifikationsschema seelischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (MAS)

Adoleszentäre Problemverhaltensweisen

Schichtenspezifische und soziologische Erklärungsmodelle sind für die klinische Bewertung (z.B. im Sinne des multiaxialen Klassifikationsansatzes der Kinder- und Jugendpsychiatrie [Tab. 2]) nicht zu vernachlässigen, ebenso wie Rollenmodelle des sich optimierenden und/oder sich aufopfernden Elternverhaltens mit «Helikopter-Eltern» einerseits und (Wohlstands-) Verwahrlosung andererseits. Es dürfte nicht nur unter dem Kindesschutz-Aspekt einen Unterschied machen, ob die Familie mit beiden Elternteilen im sog. «home office» in grosszügigen räumlichen Verhältnissen lebt und ggf. auftretende Konflikte klären kann, ob die Eltern weiterhin und in jetzt als systemrelevant bezeichneten Berufen in der Aussenwelt arbeiten (müssen) oder ob die alleinerziehenden Eltern in bislang schon belasteten sozioökonomischen Bedingungen nun über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus gefordert werden. Je länger die Corona-bedingten Gegenmassnahmen andauern, desto stärker werden diese unterschiedlichen Einflüsse wirksam.

Während diese Einflüsse für die meisten Jugendlichen erkennbare und reale soziale Mechanismen sind, die sie nicht von realistischer Selbstreflexion und Selbstkritik abbringen, gibt es diejenigen, die sich ihre eigene virtuelle Parallelwelt bzw. Gegenwelt schaffen, in die irgendwann ein «Überstieg» bis hin zur manifesten Abhängigkeit von «games» und «social media» (Wölfling und Müller 2017) stattfindet. Die zunächst interessierte und funktionale Nutzung von verbreiteten Online-Aktivitäten wie etwa Computerspielen oder sozialen Medien intensiviert sich vor dem Hintergrund bestehender Vulnerabilitätsfaktoren.

Letztere umfassen beispielsweise vergleichsweise defizitär ausgeprägte Emotionsregulationskompetenzen, eine erhöhte Vulnerabilität (physiologisch wie psychologisch) für Stress und akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Introversion). Über Lernmechanismen werden im Laufe der zunehmend online verbrachten Zeit spezifische und überwertig positive Wirkungserwartungen an die Online-Nutzung konsolidiert (Solutionismus), wobei gleichzeitig vermehrt Verstärker aus der Offline-Lebenswelt entfallen. Aus angepasstem (Mit-)Spielen wird sukzessive passiv-aggressive Verweigerung der Offline-Welt. Die aktuelle Corona-Krise stellt für internetbezogene Störungen insofern vermutlich einen wesentlichen ätiologischen Faktor dar, als die Beschränkung auf den häuslichen Bereich zunächst die verstärkte Nutzung neuer Medien logisch erscheinen lässt. Gerade für vulnerable Jugendliche, die in dieser Zeit erfahren, dass sie in einem Online-Spiel gegebenenfalls genau die sozialen Rollen zu verkörpern imstande sind, nach welchen sie sich in nicht virtuellen Welten immer sehnten, werden hoch akzeleriert dysfunktionale Lernprozesse angestossen, die sich aktuell unter Umständen schneller verfestigen, als dies ohne Corona der Fall wäre. In jedem Fall besteht der begründete Verdacht, dass gerade für die vorgenannten vulnerablen Jugendlichen eine Rückkehr in das «normale» Leben deutlich schwieriger wird als für Jugendliche mit einem von vorneherein breiter gestreuten Interessenspektrum.

Verlust von Automatismen und Ritualen

Schon jetzt (Mai 2020) wird deutlich, dass elementare Prozesse, die Veränderungen für Menschen üblicherweise begleiten und erträglich machen, vorerst auf dramatische Weise ausgehebelt sind: unzählige Rituale, die sonst unseren Alltag begleiten. Rituale sind Handlungsabfolgen, die durch Standardisierung, Wiederholung und Berechenbarkeit gekennzeichnet sind und eine elementare sozialstrukturbildende Wirkung besitzen. Die meisten Rituale sind im Zusammenhang mit ihrer sogenannten Performativität nur in einem Gruppenkontext sinnvoll durchführbar. Auf allen Ebenen werden Rituale derzeit entweder ersatzlos gestrichen (Schulbesuch, Vereinstreffen, Sport usw.) oder durch insuffiziente Minimalversionen ersetzt (Hochzeiten, Abdankungsfeiern, Abschlüsse usw.).

Besonders für Kinder und Jugendliche geben Rituale im Alltag Halt und Orientierung. Je nach sozioökonomischem Status und psychischer Befindlichkeit der jeweiligen Familiensysteme ist es während der Corona-Krise in unterschiedlichem Masse möglich, die für Kinder und Jugendliche wichtigen, gut etablierten Rituale aufrechtzuerhalten oder sie zumindest durch andere zu ersetzen (Müller et al. 2020). Insbesondere für Kinder in strukturschwachen Familienkonstellationen, die üblicherweise essenzielle Unterstützung durch das Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem inkl. Kindesschutz erfahren, brechen derzeit professionelle Säulen für die psychische Stabilität und Entwicklung ausserhalb der Kernfamilie weg. Bei Jugendlichen betrifft dieser Verlust ganz besonders die für die Entwicklungsphase essenzielle Peergroup, die aufgrund von Versammlungsverboten zumindest im öffentlichen Raum kaum mehr physisch zugänglich ist.

Verlust und Trauer als Schlüsselmechanismen

Die Hauptfähigkeit, die in der Post-Corona-Zeit gefordert ist, wird diejenige sein, mit realen und fantasierten Verlusten und der eigenen Trauer über ebendiese umzugehen. Eine Flexibilität in den verschiedenen Coping- und Abwehrmechanismen und Verarbeitungsmechanismen wird gefordert sein. Die Verleugnung und das Ungeschehenmachen ebenso wie die traumatische Dissoziation sind nur einige Beispiele, die diese nützliche Trauerarbeit behindern oder beenden können. Die Verhaltenseigentümlichkeiten bestimmter Politiker machen dies aktuell in den Massenmedien anschaulich (Lee et al. 2018).

Die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtete «Unfähigkeit zu trauern» (Mitscherlich 1959) dürfte ebenso eine Rolle spielen wie die Umgangsweisen mit Verlust grundsätzlich. Abgesehen vom (statistisch seltenen) konkreten Verlust an Menschenleben (Tod von Angehörigen, Kollegen und Freunden) bedeutet die Corona-Krise vor allem für die Nicht-Risikogruppen Einschränkungen im Arbeits- und Berufsbereich bis hin zur Existenzbedrohung, auch im Genuss- und hedonistischen Bereich. Diese zweiten sind in einer spätmodernen, neoliberal-kapitalistisch orientierten Gesellschaft nicht zu vernachlässigen (nach dem Motto «Work hard, play hard»).

Die Neukalibrierung des Lebens in Nach-Corona-Zeiten unter ggf. ökonomisch schlechteren Bedingungen – insbesondere für vorab schon benachteiligte Schichten – ist eine der besonderen Herausforderungen für Kinder, Jugendliche und Familien, aber auch Senioren.

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch
Chefarzt KJPD Lups
Luzerner Psychiatrie
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Luzern
E-Mail: oliver.bilke@lups.ch

Literatur:

am Ende von Teil 2

zum Teil 2

Autoren:

Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, MBA LL.M.
KJPD Luzerner Psychiatrie

Prof. Dr. med. Silke Bachmann
Univ. Halle/Saale

Prof. Dr. med. Anil Batra
Psychiatr. Univ.-Klinik Tübingen

Prof. Dr. med. Andreas Conca
Psychiatr. Univ.-Klinik Bozen

Dr. med. Leonhard Funk
Modellstation SOMOSA Winterthur

Dr. phil François Gremaud
Winterthur/Zürich/Baar

Prof. Dr. med. Josef Jenewein
triaplus Zug

Susanne Hentsch, MPH
Luzern

Prof. Dr. rer. nat. Michael Klein
Kath. Hochschule NRW, Köln

Prof. Gisela Michel, PhD
Universität Luzern

Dr. rer. physiol. Kai Müller
Universitätsmedizin Mainz

Dr. med. Ulrich Müller-Knapp
KJPZ Ganterschwil

Dr. med. Valdo Pezzoli
Kantonsspital Lugano

Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Preuss
Klinikum Lippe

Dr. med. Christian Rexroth
MedBo Klinik, Regensburg

Prof. Dr. med. Kathrin Sevecke
Med. Univ. Innsbruck

Prof. Dr. med. Leonhard Thun-Hohenstein
Univ. Salzburg

Prof. Dr. med. Marc Walter
upk Basel

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Peter Weber
UKBB Basel

Dr. med. Wolfgang Wladika
Universitätsklinikum Klagenfurt

Prof. Dr. phil. Andreas Jud
Univ. Ulm/Hochschule Luzern

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