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Gesichtsschmerzen aus zahnmedizinischer und schmerzpsychologischer Sicht

Gesichtsschmerz – ein Schmerz mit tausend Gesichtern?

Schmerzen im Gesichtsbereich können durch Störungen ausgehend vom Kausystem, von Hals, Nase, Ohr und Auge, von Schleimhaut, Haut und Knochen wie auch vom Nervensystem verursacht werden. Die vielfältigen Beschwerdebilder, Komorbiditäten sowie deren Ausstrahlungen und Wechselwirkungen können diagnostische Herausforderungen bergen. Bei anhaltenden oder unklaren Schmerzen, atypischem Schmerzverlauf, hohem Leidensdruck oder psychosozialer Belastung empfiehlt sich ein möglichst früher Einbezug anderer Fachdisziplinen.

Keypoints

  • Schmerz ist ein subjektives Sinnes- und Gefühlserlebnis und findet auf sensorischer, affektiver und kognitiver Ebene statt. Das dichotome Schmerzmodell «somatogener vs. psychogener Schmerz» ist veraltet und nicht zielführend. Schmerz kann Stressor und Vulnerabilitätsfaktor sein.

  • Gesichtsschmerzen weisen unterschiedliche Ätiopathogenesen auf, welche in der Fachkompetenz verschiedener Disziplinen liegen. Die anatomische Nähe potenziell affektierter Strukturen, Ausstrahlungen, Wechselwirkungen und Komorbiditäten erschweren gelegentlich die Diagnostik. Fachübergreifende differenzialdiagnostische Überlegungen ermöglichen eine akkurate Indikationsstellung resp. eine zielführende Intervention.

  • Bei vermeintlich «unauffälligen» Befunden, unerwartetem Schmerzverlauf oder vorbestehender Schmerzsymptomatik ist eine detaillierte Schmerzanamnese unter Einbezug möglicher biopsychosozialer Chronifizierungsfaktoren resp. eine interdisziplinäre Zusammenarbeit indiziert.

  • Bei hohem Leidensdruck, schwerer reaktiver oder antezedenter psychischer Belastung empfiehlt sich eine frühzeitige fachpsychologische Zuweisung. Im Mittelpunkt der Schmerztherapie steht neben der realistischen Zielsetzung und den Erwartungen von Patienten und Behandlern die Verbesserung der Lebensqualität.

Ein Fall aus der Praxis

Eine 38-jährige Landschaftsgärtnerin verspürt eines Morgens einen starken, stechenden Zahnschmerz im Bereich des rechten Oberkiefers, sodass sie ihr angebissenes Marmeladenbrötchen nicht fertig isst. Der Schmerz tritt im Verlauf des Tages mehrmals auf: beim Essen, beim Sprechen, aber auch in Ruhe. Eine Woche vorher litt sie an einer starken Erkältung, welche noch nicht komplett auskuriert ist. Die letzten Nächte waren geprägt von einem unruhigen Schlaf, da ihr Ehemann auf Geschäftsreise ist und eines ihrer zwei Kleinkinder erkrankt ist. Der Schmerz besteht trotz zweiwöchiger Einnahme von Schmerztabletten weiter und ausstrahlt zunehmend ins Ohr und ins Gesicht aus. Neu verspürt sie täglich Kopfschmerzen, welche sich anders als die ihr bekannten Migräneanfälle anfühlen. Die Arbeit im Freien löst den Schmerz vermehrt aus. Die Verrichtung des Haushalts fällt ihr zunehmend schwerer. Sie entscheidet sich schlussendlich, zum Arzt zu gehen. Sie nimmt das Telefon in die Hand – welchen Arzt soll sie anrufen?

Herausforderungen im diagnostischen Prozess

Die Schilderung von Gesichtsschmerzen ist für Betroffene gelegentlich schwierig. Schmerzen können beispielsweise als drückend, stechend, pochend oder dumpf, aber auch als brennend, einschiessend oder kribbelnd beschrieben werden. Sie können ausstrahlen, wandern oder attackenartig auftreten und verschiedene Auslöse- oder Modulationsfaktoren aufweisen. Unter anderem spielt hierbei das weitreichende Versorgungsgebiet des Trigeminusnervs eine massgebende Rolle. Die anatomische Nähe von Strukturen (wie z.B. Temporalmuskel und Schädel, Oberkieferseitenzähne und Kieferhöhle, Kiefergelenk und Ohr) kann die genaue Lokalisierung der Schmerzen erschweren und deren Ursprung überlagern, insbesondere beim Vorliegen peripherer oder zentraler Sensibilisierungsmechanismen. Folgereaktionen auf das Schmerzgeschehen verursachen nicht selten zusätzliche Beschwerden. Wechselwirkungen mit bestehenden Grunderkrankungen oder subklinischen Zuständen können weitere (Schmerz-)Störungen zu Tage bringen. Das Spektrum der Beschwerdebilder ist gross; schmerzspezifisch relevante Informationen werden gelegentlich erst durch gezieltes Erfragen zugänglich. Eine differenzierte Schmerzanamnese ist demzufolge eine conditio sine qua non.

Schmerzgeplagte Personen erwarten vom aufgesuchten Behandler oftmals eine unmittelbare Schmerzlinderung und erzeugen einen entsprechenden Handlungsdruck zu Ungunsten einer reflektierten Diagnosestellung. Es resultiert die Gefahr eines therapeutischen Aktionismus mit unnötigen, schlimmstenfalls irreversiblen Behandlungen und dem Risiko einer zusätzlichen Schmerzausweitung.

Die Behandlung von Gesichtsschmerzen liegt im Zuständigkeitsbereich verschiedener Disziplinen. Diese stehen vor der Herausforderung, aus der Vielfalt möglicher Ätiopathogenesen auch fachübergreifende Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen. Eine fortlaufende Evaluation der gestellten (Verdachts-)Diagnosen zum beschriebenen Schmerzbild ist für die gewählte Behandlung und den weiteren Beschwerdeverlauf entscheidend. Bei atypischen Schmerzbeschreibungen oder unerwarteten Verläufen ist ein möglichst früher Einbezug weiterer Fachdisziplinen ratsam.

Schmerzbilder aus dem Kausystem

Zahnschmerzen, welche ihren Ursprung in klassischen Entzündungsprozessen oder anderen Defekten der Zahnhartsubstanz finden (z.B. Pulpitis aufgrund einer Karies, schmerzempfindliche Zahnhälse aufgrund einer Dentinhypersensibilität) sind insgesamt weit verbreitet und Teil der Alltagsroutine in der zahnärztlichen Praxis. Anamnese, klinische und radiologische Befunde lassen in der Regel eine wegweisende Diagnose zu. Gelegentlich kann eine Ausstrahlung in die Nachbarzähne resp. ins Umgebungsgebiet die Suche nach dem affektierten Zahn erschweren. Läsionen der Mundschleimhaut aufgrund viraler Infekte (z.B. Herpes), mechanischer Traumata (z.B. Bissverletzung, Prothesendruckstelle), autoimmuner, chronisch-entzündlicher oder maligner Prozesse (z.B. Pemphigus vulgaris, oraler Lichen planus, Plattenepithelkarzinom) können Gesichtsschmerzen verursachen, die diffus, ausstrahlend und schwer lokalisierbar sind. Abhängig von Grösse, Anzahl und Lokalisation bestehen schmerzbedingte Beeinträchtigungen hauptsächlich beim Essen, Sprechen und bei der Durchführung der Mundhygiene. Bei sorgfältiger inspektorischer Untersuchung sind diese Läsionen charakteristischerweise gut zu erkennen.

Zusätzlich zu berücksichtigen sind weitere potenziell schmerzhafte Pathologien ausgehend vom Kieferknochen resp. dem intraoralen Weichgewebe wie der Zunge, den Speicheldrüsen und den Gefässen. Nach Behandlung der Ursache resp. Abheilung (soweit möglich) ist beim Grossteil dieser Beschwerden ein deutlicher und bleibender Schmerzrückgang zu verzeichnen. Dieses Schmerzkonzept ist den meisten Menschen verständlich und vertraut.

Gesichtsschmerzen, welche aus dem Bereich der Kaumuskulatur und der Kiefergelenke stammen, treten häufiger im mittleren Lebensabschnitt auf. Prävalenzzahlen sind aufgrund der vielfältigen Symptomatik wenig aussagekräftig. Die Beschwerden werden unter dem Überbegriff der Myoarthropathie (MAP) zusammengefasst (im deutschsprachigen Raum auch als craniomandibuläre Dysfunktion, CMD, im englischsprachigen Raum als «temporomandibular disorder», TMD, bekannt). Die Myoarthropathie beinhaltet eine Vielzahl unterschiedlicher Diagnosen. Sie kann verschiedene Störungsbilder wie eine schmerzhafte Muskelverspannung, ein harmloses Gelenkknacken bis hin zu einem entzündlichen Gelenksprozess oder Gelenkluxationen umfassen. Dennoch wird der Begriff MAP häufig als Pauschaldiagnose verwendet. Die Ursachen sind überwiegend multifaktorieller Natur: Neben biologischen Faktoren spielen bei myoarthropathischen Beschwerden psychosoziale Einflüsse eine bedeutsame Rolle, da diese bei der Entstehung und Aufrechterhaltung massgebend beteiligt sein können. Stressoren, belastende Lebensumstände, gewisse Persönlichkeitsmerkmale und dysfunktionale Gewohnheiten können eine erhöhte Anspannung verursachen, die zu einer unbewussten Tonuserhöhung der Kaumuskulatur und einer verstärkten Gelenkbelastung führt: Parafunktionen beschreiben Kieferbewegungen, welche nicht den Normalfunktionen (z.B. Kauen, Sprechen, Gähnen) entsprechen, sowie künstlich aufrechterhaltene Kieferstellungen ausserhalb der physiologischen Ruhelage. Dies umfasst den Schlaf- oder Wachbruxismus (Zähneknirschen, Zähneklappern, Zähnepressen) wie auch z.B. Zungenpressen, Wangen- oder Lippenbeissen, Nägelkauen. Neurologische oder psychische Erkrankungen oder Substanzen wie gewisse Medikamente, Alkohol und Drogen können einen bedeutenden Teil dazu beitragen.

Typische Beschwerdesymptome sind neben Gesichtsschmerzen Kiefergelenkgeräusche oder eine eingeschränkte Kieferbeweglichkeit (meist ist die Mundöffnung betroffen). Die Schmerzen verstärken sich gewöhnlich beim Kauen oder bei weiter Mundöffnung und strahlen oftmals in Umgebungsstrukturen wie z.B. das Ohr, die Schläfe oder die Zähne aus. Hierbei ist eine genaue differenzialdiagnostische Abklärung zu dentogenen Schmerzen unerlässlich. Diagnosekriterien für Myoarthropathien wurden 2014 vom International Network for Orofacial pain & Related disorders Methodology (INfORM) publiziert.1

Das Ausmass der Behandlungsmassnahmen bei myoarthropathischen Beschwerdebildern ist individuell anzupassen. Ausschlaggebend sind die alltägliche Beeinträchtigung und der subjektive Leidensdruck. Grundsätzlich kann von einer guten Prognose ausgegangen werden, wenn es gelingt, die unphysiologische Belastung des Kausystems ausreichend zu regulieren. Im Mittelpunkt steht in erster Linie die Informationstherapie, deren Ziel das Verständnis der Situation und deren Zusammenhänge sowie das Aufzeigen möglicher Behandlungsoptionen ist. Dies ist häufig bereits für die Betroffenen zufriedenstellend und beseitigt beschwerdebezogene Ängste oder Katastrophisierungsgedanken. Im Falle psychosozialer Belastungen, fehlender Entspannungsfähigkeit oder dysfunktionalen Schmerzumgangs empfiehlt sich eine interdisziplinäre Behandlung.

Schmerzbilder aus dem Nervensystem

Komplexer ist die Situation bei Schmerzbeschwerden, die keine unmittelbar sicht-, tast- und messbaren Auffälligkeiten zeigen. Es besteht die Gefahr, dass die geäusserten Beschwerden aufgrund vermeintlich fehlender resp. blander Befunde als «nicht korrelierbar», ergo ohne valide Ursache, und vielleicht sogar als «eingebildet» oder «psychogen» etikettiert werden. Hier ist es geboten, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass das Schmerzgeschehen per Definition «ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis ist, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder als solche beschrieben wird»2 und somit nicht objektivierbar ist. Die Schmerzdiagnostik basiert weitgehend auf anamnestischen Äusserungen und wird durch die Befundung ergänzt.

Persistierende Gesichtsschmerzen mit unauffälligen oder unzureichenden Befunden deuten meist auf eine Funktionsstörung des sensorischen Nervensystems hin. Im Gesicht ist hauptsächlich der Trigeminusnerv betroffen, wobei die Schmerzen sowohl extra- als auch intraoral auftreten können. Eine Unterstützung bei der Diagnostik bietet der dritte Teil der Kopfschmerz-Klassifikation der internationalen Kopfwehgesellschaft IHS, der sich mit schmerzhaften kranialen Neuropathien und anderen Gesichts- und Kopfschmerzen befasst (ICHD-3, 2018).3

Neuropathische Gesichtsschmerzen zeigen beschwerdetypische Charakteristika wie bei neuropathischen Schmerzen anderer Körperregionen. Dazu gehören beispielsweise eine veränderte Schmerzschwelle (Hyperalgesie, Allodynie, Hypästhesie), Dysästhesien oder ein Schwellungs- oder Fremdkörpergefühl. Mehrheitlich intraoral anzutreffen sind die schmerzhaften posttraumatischen Trigeminoneuropathien (engl.: «painful post-traumatic trigeminal neuropathy», PTTN), nicht zuletzt da diese auch nach alltäglichen zahnärztlichen Eingriffen wie z.B. Wurzelbehandlungen, Extraktionen und Implantationen auftreten können. Schätzungsweise 3% aller Patienten, die invasiven Prozeduren am Trigeminusnerv unterzogen werden, entwickeln eine
PTTN.4

Umgekehrt besteht das Risiko, dass wiederholt zahnärztliche Interventionen aufgrund vermeintlicher Zahnschmerzen bei einer bestehenden PTTN durchgeführt werden. Die Schmerzausweitung und der zunehmende Leidensdruck können in einen Circulus vitiosus münden, der im ungünstigsten Fall Reihenzahnextraktionen, hohe Kosten, frustrierte Patienten und Ärzte und exazerbierende Schmerzen mit sich bringt.

Bestehen anamnestisch keine Hinweise auf eine Traumatisierung des Nervensystems, fasst man diese Schmerzen unter dem Begriff persistierender idiopathischer Gesichtsschmerz zusammen (engl. «persistant idiopathic facial pain», PIFP, auch unter dem Begriff «atypischer idiopathischer Gesichtsschmerz» bekannt).

Als Sonderform einer Neuropathie sei hier noch das primäre Mundbrennen (engl. «burning mouth syndrome») erwähnt, das sich durch einen lokalisierten, konstanten Brennschmerz hauptsächlich im Bereich der Zunge und des Gaumens äussert. Intraoral präsentiert sich eine komplett unauffällige Mundschleimhaut. Dieses Schmerzbild betrifft häufiger peri- oder postmenopausale Frauen.

Bestens bekannt im Gesichtsbereich ist die Trigeminusneuralgie: gekennzeichnet durch einseitige, elektrisierend einschiessende, intermittierende Schmerzattacken hoher Intensität und meist gut abgrenzbar im Versorgungsbereich des 2. oder 3. Astes des Trigeminus lokalisiert. Mechanische Reize wie Kauen und Zähneputzen können als Auslösefaktoren fungieren, weswegen die Schmerzgeplagten häufig als Erstes den Zahnarzt aufsuchen, in der Erwartung, mit einer Zahnbehandlung oder Extraktion den Schmerz stillen zu können.

Postherpetische Schmerzen (in der Regel Herpes zoster) können sich sowohl als Neuralgie wie auch als Neuropathie äussern. Diagnostisch ausschlaggebend ist neben der Anamnese die einseitige Schmerzlokalisation innerhalb des betroffenen Dermatoms.

Primäre Kopfschmerzerkrankungen, wie z.B. die Migräne oder die trigeminoautonomen Kopfschmerzen (TAK), können manchmal auch Gesicht und Zähne betreffen. Umgekehrt können lokale Prozesse, wie z.B. eine Zahnwurzelentzündung oder eine schmerzhaft verspannte Kaumuskulatur, zu einer Verstärkung ebendieser Leiden führen.

Nicht zuletzt können zentrale Läsionen in den entsprechenden Hirnarealen resp. Nervenaustrittsorten ebenfalls Gesichtsschmerzen provozieren (z.B. Raumforderungen, Demyelinisierungen, oder Schmerz nach Schlaganfall).

Gesichtsschmerz im biopsychosozialen Modell

Schmerz ist evolutionär betrachtet ein Warnzeichen mit der Folge einer instinktiven, reflexartigen Verhaltensanpassung. Sowohl akut auftretende als auch anhaltende Schmerzen im Kopf- und Gesichtsbereich führen zu unterschiedlich ausgeprägten Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme, in der sozialen Interaktion und der mentalen Leistungsfähigkeit.

Dass neben der sensorisch-nozizeptiven Komponente die affektiv-emotionalen und kognitiv-verhaltensbezogenen Faktoren eine ebenso grosse Rolle im Schmerzerleben spielen, wird häufig vernachlässigt. Dies kann sich sowohl im therapeutischen Kontext vonseiten des medizinischen Personals als auch im Krankheitsverständnis der Betroffenen widerspiegeln. In Abhängigkeit vom individuellen Leidensdruck und weniger von der/den zugrunde liegenden Schmerzätiologie/n ist dieser Multidimensionalität idealerweise schon bei der initialen Abklärung Rechnung zu tragen, um einer Chronifizierung bestmöglich vorzubeugen.

Psychogen oder somatogen? Die Crux

Die aktuelle International Classification of Diseases, ICD-10, unterteilt Schmerzerleben in somatische (Kapitel A–E, G–Y) und psychische Abschnitte (Kapitel F). Jedoch widerlegen psychophysiologische und neuroradiologische Erkenntnisse5 die geläufige Annahme der Existenz eines Schmerzmarkers resp. eines Schmerzzentrums.

Auf neurophysiologischer Ebene wurde beispielsweise bei Patienten mit fibromyalgischem Schmerz, deren Schmerz häufig als «psychogen» bezeichnet wird, eine verminderte Verfügbarkeit endogener Opioidrezeptoren beobachtet, welche die Wirkung der deszendierenden Schmerzhemmung reduziert.6 Die Unterscheidung zwischen «psychogenen» und «somatogenen» Vorgängen ist heute aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr haltbar und zudem wenig zielführend für therapeutische Entscheidungen. Diesem Umstand wird die kommende ICD-11 Rechnung tragen.

Schmerzpsychologische Aspekte in der somatischen Medizin

Das Schmerzerleben stellt oft per se eine erhebliche Belastung für die Betroffenen dar. Diese kann vielfach durch andere psychische und soziale Stressoren begleitet werden, welche prämorbid oder reaktiv entstanden sind: sozialer Rückzug, Gereiztheit im familiären und beruflichen Umfeld, Aufgabe von Hobbys, katastrophisierende Gedanken, depressive Verstimmung. Der Schmerz wird so zum Stressor und Vulnerabilitätsfaktor zugleich. Gelegentlich erfahren Patienten im Rahmen der somatischen Abklärung, sie hätten «nichts» oder sie bildeten sich den Schmerz nur ein. Bei Betroffenen kann dies zentrale menschliche Bedürfnisse wie Kontrolle, Vorhersagbarkeit, Verständnis und Empathie empfindlich frustrieren, denn für sie ist die Wahrnehmung sehr real und bedrohlich.So ist nachvollziehbar, dass manche in ihrer Verzweiflung zu sogenannten «Doktorshoppern» werden, um diesem «Nichts» zu entfliehen. Immer wieder werden Schmerzpatienten erst bei frustranen Verläufen oder nach Jahren erfolgloser pharmakologischer und invasiver Verfahren mit «psychogenen» oder «somatoformen» Beschwerden in der psychologischen Sprechstunde vorgestellt – nach einer Odyssee auf somatischem Terrain und mit dem Label «austherapiert». Bis zu diesem Zeitpunkt werden psychische, soziale und verhaltensbezogene Komponente leider häufig nicht oder ungenügend in Anamnese und Therapie einbezogen. Bei Patienten mit chronifizierenden Schmerzen sind von medizinischer Seite folgende Aspekte in Erwägung zu ziehen:

  1. Suffizientes Zeitbudget für Anamnese und Aufklärung

  2. Frühe Berücksichtigung schmerzpsychologischer Chronifizierungsfaktoren in der Anamnese oder mittels Schmerzzeichnung und Screening-Fragebogen (z.B. «Patient Health Questionnaires», PHQ, via kostenlosen Download erhältlich7)

  3. Evaluation des subjektiven Schmerzmodells sowie Klärung der Erwartungen an die Behandlung und damit Ermöglichung einer realistischen therapeutischen Zielsetzung

  4. Aktiver Einbezug des Patienten (Förderung der Selbstwirksamkeit) und engmaschiges Monitorisieren der Adhärenz (Verhaltensmassnahmen, Medikamenteneinnahme und deren Wirkung)

Die Indikation für eine fachpsychologische resp. fachpsychiatrische Intervention ist gegeben, wenn Patienten über das Schmerzgeschehen hinaus ausgeprägte Beschwerden in diversen Lebensbereichen berichten oder diese in Screeninginstrumenten angeben. Psychosoziale Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung sind im sogenannten Flaggenmodell zusammengefasst (Tab. 1).

Essenziell bleibt nach einer Zuweisung zur Fachpsychologie/-psychiatrie die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Damit wird der Eindruck des «Abschiebens auf die Psychoschiene» verhindert und die biopsychosoziale Herangehensweise auch im therapeutischen Kontext zweckmässig umgesetzt.

Tab. 1: Dieser Auszug des Flaggenmodells (nach Turner und Dworkin) stellt sowohl Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung als auch gleichzeitig Ansatzpunkte der Schmerzpsychologie dar

Fachpsychologische Schmerztherapie

Eine zentrale Aufgabe der Schmerzpsychotherapie ist u.a. die Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität, da bei chronischen Schmerzen nicht selten der gesamte Lebensinhalt drastisch auf die Vermeidung von Schmerz reduziert wird und positive Bereiche nachhaltig verschwinden. Der Aufbau einer vertrauensvollen Patienten-Behandler-Beziehung steht im Vordergrund, insbesondere wenn diese im Rahmen der Vorgeschichte gelitten hat. Fachpsychologen erfassen in einem ersten Schritt die Belastungsbereiche und Ressourcen (mit und ohne Schmerzbezug), Erwartungen und bisherige Bewältigungsversuche. Dies ist Voraussetzung für die Entwicklung eines zielorientierten Therapieauftrags und einer erfolgreichen Intervention.

Behandlungsschwerpunkte der fachpsychologischen und fachpsychiatrischen Schmerztherapie im biopsychosozialen Verständnis umfassen:8

  1. Schmerzedukation unter Berücksichtigung des subjektiven Schmerzmodells der Betroffenen

  2. Erfassung und Umstrukturierung angstbesetzter Kognitionen, Stressbewältigung, Acceptance und Commitment-Therapie

  3. Differenzialdiagnostische Abklärung resp. Behandlung von psychischen Komorbiditäten (Tab. 1)

  4. Selbstbeobachtung und -regulation, Aufmerksamkeitslenkung, Genusstraining, Bestärkung schmerzferner Erfahrungen: Die Propriozeption ist bei lang anhaltenden Schmerzen oft verändert. Angenehme Reize werden im Körper oft nicht mehr wahrgenommen.

  5. Entspannungstherapie: z. B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, Imagination, Atemübungen

  6. Bei Kieferverspannungen: Erlernen der physiologischen Ruhelage des Unterkiefers mittels peripheren Biofeedbacks (Oberflächenelektromyografie der Mm. masseteri), «cued relaxation» des Kauapparates (z.B. mittels optischer Hinweise an Alltagsgegenständen der Patienten), Instruktion spezifischer Übungen zur Lockerung der Kaumuskulatur

  7. Systemische Gespräche mit Angehörigen zur Begleitung bei schwierigen familiären Situationen oder Arbeitsplatzproblemen

In der Schweiz setzt sich die Special Interest Group (SIG) Schmerzpsychologie der Schweizerischen Schmerzgesellschaft (SPS9) aus Psychologen und Medizinern zusammen, die im interdisziplinären Setting arbeiten. Sie gilt als nationale Anlaufstelle für Fragen zum Thema Schmerzpsychologie und setzt sich für schmerzpsychologische Inhalte in den interdisziplinären Behandlungsalgorithmen ein.

Autoren:
Dr. med. dent. Mei-Yin Hou
SPS Schmerzspezialistin®
Oberärztin
Orofaziale Schmerzsprechstunde
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Gerodontologie
Zahnmedizinische KlinikenUniversität Bern
E-Mail: mei-yin.hou@zmk.unibe.ch
Dr. phil. Ben Brönnimann
Oberpsychologe
Leiter Spezialsprechstunde chronische Schmerzen
Psychiatrische Dienste Aargau
Psychologe FSP
Eidg. anerkannter Psychotherapeut, MAS Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin UZH
Co-Leiter Special Interest Group Schmerzpsychologie der SPS
www.swisspainsociety.ch
E-Mail: ambulatorium.aarau@pdag.ch

1 https://ubwp.buffalo.edu/rdc-tmdinternational/ 2 https://www.iasp-pain.org/terminology?navItemNumber=576#Pain 3 Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 2018; 38(1): 1-211 4 Baad-Hansen L, Benoliel R.: Neuropathic orofacial pain: Facts and fiction. Cephalalgia 2017; 37(7): 670-9 5 Mouraux et al.: A multisensory investigation of the functional significance of the «pain matrix». Neuroimage 2011; 54(3): 2237-49 6 Schweinhardt P et al.: Fibromyalgia: A disorder of the brain? Neuroscientist 2008; 14: 415; originally published online Feb 12, 2008 7 Fragebogen auf Deutsch: https://www.kvberlin.de/20praxis/60vertrag/10vertraege/strukturv_fruehbehandlung/depression_phq9_fragebogen.pdf; englisch: https://ubwp.buffalo.edu/ rdc-tmdinternational/tmd-assessmentdiagnosis/dc-tmd/
8 Grolimund et al.: Wegleitung zur Planung einer personalisierten, interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie. Schmerz 2019; 33: 514-22 9 www.swisspainsociety.ch 10 Turner JA,Dworkin SF: Screening for psychosocial risk factors in patients with chronic orofacial pain: Recent advances. J Am Dent Assoc 2004; 135(8): 1119-25

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