Stoffwechselmedizin findet schlussendlich im Supermarkt und zu Hause statt

In der Reihe „persönlich gefragt“ kommen Menschen zu Wort, die mit persönlichem Engagement besondere Projekte für Patienten mit Diabetes vorantreiben. Dieses Mal sprachen wir mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Thomas Stulnig – seit November 2019 neuer Abteilungsvorstand der 3. Medizinischen Abteilung an der Klinik Hietzing – über seine beruflichen Ziele und seine Sicht einer „persönlichen Stoffwechselmedizin“.

Sehr geehrter Herr Professor Stulnig, Sie haben viele Jahre als Wissenschaftler und Oberarzt an der Universitätsklinik für Innere Medizin III am Wiener AKH vor allem in den Bereichen Hypertonie und Stoffwechselerkrankungen gearbeitet. Was hat Sie bewogen, die Universitätsklinik zu verlassen und die Leitung der 3. Medizinischen Abteilung an der Klinik Hietzing zu übernehmen?

T. Stulnig: Ich bin grundsätzlich jemand, der gerne neue Herausforderungen annimmt. An der Universitätsklinik habe ich viele Jahre eine mit bis zu 12 Mitarbeitern recht große Arbeitsgruppe geleitet und über diesen Zeitraum sehr viel Freude an Führungsaufgaben entwickelt. Die Aussicht, als Abteilungsvorstand in einem renommierten Wiener Krankenhaus in einem noch größeren Rahmen tätig werden zu können, stellte für mich daher eine sehr attraktive neue Perspektive dar. Darüber hinaus ist die
3. Medizinische Abteilung mit Stoffwechselerkrankungen und Nephrologie an der Klinik Hietzing ja eine äußerst renommierte Institution und besitzt auch eine sehr gut entwickelte Forschungsinfrastruktur. Auch der entsprechende „Spirit“ für Forschungstätigkeit ist hier vorhanden. Neben der Funktion des Abteilungsvorstandes habe ich im November 2019 auch die Funktion des stellvertretenden Leiters des Karl-Landsteiner-Institutes in Hietzing übernommen. Auch wenn die Bedingungen hier andere sind als an einer Universitätsklinik, ergeben sich schon sehr tolle Möglichkeiten.

Was konkret ist das Erfüllende an einer Führungsaufgabe?

T. Stulnig: Man kann sehr viel weitergeben – nicht nur medizinisch, sondern auch an Lebenserfahrung. Es hat einen großen Einfluss, mit welchen Grundvoraussetzungen und mit welcher Haltung man an eine Arbeit herangeht. Das beeinflusst das ganze Team, das dahintersteht. Für mich sind die Etablierung und Fortführung einer Haltung wichtig, in der Engagement, Zuverlässigkeit und Loyalität zählen und jeder seinen Beitrag leistet.

In der Führung benötigt man zwar definitiv Management-Skills, es sind aber die menschlichen Werte, welche die Mitarbeiter bei Entscheidungen spüren.

Wie weit gibt es auch gestalterische Möglichkeiten in Ihrer Position?

T. Stulnig: Auch wenn man mit gewissen Vorstellungen an so eine Funktion herantritt, muss man sich bewusst sein, dass man von außen nur einen sehr eingeschränkten Blick auf die Abteilung und ihre Möglichkeiten hat. Hietzing war und ist das führende Insulinpumpenzentrum in Österreich und nimmt auch international in der Diabetologie eine anerkannte Rolle ein. Das ist natürlich eine tolle Basis, die man aber noch ausbauen kann. Ich persönlich würde gerne auch der Lipidologie einen größeren Fokus einräumen. Aber auch die Nephrologie und Intensivmedizin an der Abteilung können sich weiterentwickeln. Im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeiten ist es mein Ziel, neben der gut etablierten Auftragsforschung auch die klinisch-akademischen Forschungsaktivitäten zu erweitern. Im Endeffekt geht es vor allem darum, für die Menschen, mit denen man arbeitet, ein motivierendes Umfeld zu schaffen, in dem sie sich und ihre Fähigkeiten entwickeln können.

Wie ist es in Ihrer beruflichen Entwicklung zur Spezialisierung auf die Lipidologie und die kardiovaskuläre Prävention bei Adipositas und Diabetes mellitus gekommen? Zufall oder Grundinteresse?

T. Stulnig: Das war eigentlich eine konsequente Entwicklung. Gleich nach dem Studium ging es in meinem ersten Forschungsprojekt um die Interaktion zwischen Lipidstoffwechsel und Immunsystem. Während meiner Facharztausbildung haben zahlreiche Publikationen zu diesem Thema auch die klinische Bedeutung dieser Wechselwirkungen bei Adipositas, Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen etabliert. Durch diesen „proof of concept“ hatte ich nun die tolle Gelegenheit, mein Forschungsinteresse aus dem eher experimentellen Bereich in einen klinisch anwendbaren Kontext zu bringen. So war das bis zu einem gewissen Grad eine logische Entwicklung von der Interaktion von Lipidstoffwechsel und Immunsystem bis zu dem, was ich heute mache.

Auf der Homepage Ihrer Abteilung ist zu lesen, dass es in der Betreuung der Patientinnen und Patienten um die persönliche Hilfestellung für das Leben mit ihrer Krankheit und um die Vermittlung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen angestrebten Therapiezielen und Lebensqualität geht. Was heißt das konkret in der Praxis?

T. Stulnig: Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Medizin, welche wir gerade im Stoffwechselbereich betreiben, schlussendlich bei den Patientinnen und Patienten zu Hause stattfindet. Daher ist es notwendig, diese zunächst einmal wirklich für die Intervention zu gewinnen. Man kann niemandem eine noch so gute Diät aufoktroyieren, wenn der/die Betroffene nicht dafür bereit ist. Unsere Interventionen müssen für die individuelle Person maßgeschneidert sein. Es geht darum, Therapieoptionen darzulegen, Überzeugungsarbeit zu leisten und dann das, was die Patientinnen und Patienten tun können und wollen oder vielleicht schon tun, zu integrieren, um gemeinsam zu einer Entscheidung zu kommen. Das bedeutet aber auch, dass man bereit sein muss, Kompromisse zu akzeptieren.

Also überzeugen statt überstülpen?

T. Stulnig: Auf alle Fälle. Kommunikation ist an unserer Abteilung ein großes Thema. Jemandem etwas überzustülpen ist nicht zielführend. Schlussendlich sind es immer die Patienten, die die getroffenen Therapieentscheidungen auch umsetzen müssen. Unser Ziel ist es, dass die Patienten das Gefühl entwickeln, dass wir wissenschaftliche Evidenz und klinische Erfahrung einbringen und gleichzeitig ihre persönlichen Advokaten sind, die sich um ihre individuelle, persönliche Situation kümmern. Ich denke, dies gelingt bei uns an der Abteilung auch im multiprofessionellen Team insgesamt sehr gut. Man sieht das an den therapeutischen Erfolgen und an den vielen Patienten, die sich gut betreut fühlen.

Apropos Kommunikation. So viel wie jetzt wurde öffentlich über gesunden Lebensstil noch nie kommuniziert – sowohl in den klassischen wie auch in den neuen Medien. Tatsächlich zeigen Studien, dass die Awareness bei den Menschen bezüglich der Bedeutung eines gesunden Lebensstils für die Gesundheit sehr hoch ist. Gleichzeitig werden die Empfehlungen aber kaum umgesetzt. Woran liegt das?

T. Stulnig:Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir von Kommunikation sprechen. Wir haben als Experten oft einen sehr fokussierten Blick auf wissenschaftliche Daten und Leitlinien. Die Informationen, die auf die Patienten einströmen, sind aber wesentlich vielschichtiger und stammen z.B. aus Anekdoten von Verwandten oder Bekannten, Facebook-Accounts oder dem Internet – Informa–tionsquellen also, die qualitativ völlig ungeordnet sind. Dies führt natürlich sehr oft zu Verunsicherung und kann unsere Überzeugungsarbeit unterminieren.

Unsere Überzeugungsarbeit kann aber nur einen Teil abdecken. Die relevanten Entscheidungen finden in konkreten Situationen statt, z.B. vor dem Supermarktregal. Ich denke, dass man hier durchaus – und Studien belegen das auch – mit finanziellen Anreizen steuern könnte.
Ein anderer Punkt – und hier ergeht ein Appell an die Journalisten – betrifft die Berichterstattung. Es gibt im Gesundheitsbereich tatsächlich sehr verantwortungslosen Journalismus. Man sollte sich bei der Berichterstattung schon sehr genau überlegen, welchen Quellen man folgt. Ein Film auf einem Sender mit großer Reichweite hat einen enormen Einfluss und kann sich wirklich kontraproduktiv auswirken – Qualität statt Quote wäre hier die Devise. Aber auch wir Experten selbst müssen darüber nachdenken, ob fachliche Diskussionen immer auch öffentlich geführt werden sollen. Eine einheitliche Kommunikation fundierter Sachverhalte wäre wesentlich. Öffentliche Fachdiskussionen hinterlassen oft mehr Fragezeichen bei den Betroffenen, als dass sie tatsächlich zu informierteren Entscheidungen beitragen.

Was wären aus Ihrer Sicht die dringlichsten Punkte, um kardiovaskuläre Prävention auf breiter Ebene vorantreiben zu können?

T. Stulnig: Es muss für die Menschen einfacher werden, sich zu orientieren. Ich bin sehr für eine klare Lebensmittelkennzeichnung. Ich halte auch fiskale Anreize – zum Beispiel bei Versicherungsprämien oder Steuern – für zielführend. Was die Gesundheitskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit betrifft, wäre es aus meiner Sicht notwendig, die wissenschaftliche Evidenz so aufzubereiten, dass sie nicht nur von Laien leicht verstanden werden kann, sondern dass die Menschen auch schnell unterscheiden können, ob es sich um seriöse, dem Stand der Wissenschaft entsprechende Informationen handelt oder um Einzelmeinungen ohne entsprechende zugrunde liegende Expertise. Schließlich bin ich auch der Überzeugung, dass wir neben Disease-Management-Programmen auch Risk-Management-Programme benötigen, um Menschen frühzeitig, also noch bevor großer Schaden eingetreten ist, adäquat betreuen zu können. Diese müssten natürlich mit entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet sein.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte
Dr. Christian Tatschl

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